Wenn davon gesprochen wird, wie Standards erworben werden, wenn man also Konzepte und Pläne für ihre Aneignung hat, muss auf einen Aspekt hingewiesen werden, der stets vernachlässigt wird, nämlich der Umgang mit Unsicherheit. Wir wissen oft nicht unmittelbar, welche Handlungsweise die adäquateste ist und müssen Hypothesen darüber bilden und testen. Dieser Unsicherheitsfaktor ist ein Teil der Standardisierung der Lehrerkompetenzen selbst. Es gibt mindestens vier Formen der Unsicherheitsbewältigung.
Die erste hat zu tun mit der Einschätzung der Situation, verbunden mit der Frage, ob Prototypen vorliegen, die auf ein bestimmtes Handlungsprofil passen. Ausbildung in Bezug auf Standards bezieht sich stets auf solche [/S. 77:] prototypische Situationen, die exemplarisch sind und generalisiert werden können. Solche prototypische Situationen vermögen aber nicht alles, was im Unterricht geschieht, abdecken. Es gibt Situationen, die zwei, oft gegensätzliche, Handlungsweisen zugleich erfordern. Und es gibt Situationen, die eine derartig neue Konstellation darstellen, dass der Unterrichtende kein Handlungsmodell in seinem Repertoire zur Verfügung hat. Hier ist die Leidenschaft am Hypothetisieren, Herausfinden, selber begründen unmittelbar gefordert. Die Freude an dieser Art von Unsicherheit muss erst gelernt werden.
Eine zweite Form von Unsicherheit bezieht sich auf das Interventions-Wirkungsverhältnis. Alle Handlungseinflüsse in konkreten Situationen unterliegen Wahrscheinlichkeitsannahmen. Es gehört zur Professionalität des Lehrerseins, dass dieser Aspekt der möglichen Nichtwirkung berücksichtigt wird und alle Gesetzmäßigkeiten des sozialen Einflusses auch gegenteilige Effekte haben können. Lehrpersonen, die mit Absolutheit an eine Handlungswirkung glauben, können bei Nichteintreten des erwarteten unmittelbaren Effektes enttäuscht sein. Wenn sie aber zum Vornherein von der Zerbrechlichkeit solcher Zusammenhänge Bescheid wissen, sind sie mindestens gegen Enttäuschungen gefeit.
Eine dritte Form von Unsicherheit besteht darin, dass man für eine Situation gar keinen Standard zur Verfügung hat. In diesem Falle muss eine neue Handlungsart erst entdeckt oder geschaffen werden; diese kann meistens nur über Fehleinschätzungen oder Fehlleistungen zu einem Standard werden. Dieser ganze Prozess ist äußerst schmerzhaft und belastend. Man weiß nicht, welches nachhaltig positive Handlungsweisen sind und man argumentiert so, dass dieser Beruf eben viel Ungemach und viel Schwierigkeiten mit sich bringe; die Chance aber des Neuen und Vorwärtsbringenden wird verpasst, die Bereitschaft, eine wirklich neue Handlungsform zu generieren, verspielt. Man weiß gar nicht, wie das zu geschehen hätte, probiert irgendetwas aus und findet keinen Halt in einer natürlich erst noch zu schaffenden Systematik.
Die letzte Form der Unsicherheit ist gegeben, wenn die Realisierung einer Handlungskompetenz zu einem "falschen" Ergebnis führt. Man wendet eine falsche Strategie an, und die Resultate sind dann auch katastrophal, oder noch schlimmer, sie verstärken die Problemsituation. In diesem Falle gibt es keine professionelle Kontrolle, die Sicherheit über Fähigkeiten entgleitet uns. Menschen sind hier weniger fähig, einen Standard aufzubauen, als dies bei der oben dargestellten dritten Form von Unsicherheit stattfindet. Hier fühlt man sich in seiner Unfähigkeit ertappt.
Dies alles zeigt, dass die Ausbildung nicht nur nicht klar ist in den Köpfen derer, die ausbilden, sondern auch derer, die eine Kontrolle über ihre Weiterbildung haben müssten. Sie müssten wissen, wo sie in ihrer Ausbildung stehen, welches die noch nicht erfüllten Teile darstellen, wie man eigene Weiterbildung plant und wie man im Falle dieser Unsicherheiten [/S. 78:] Standards aufbaut. Abb.1 zeigt, dass sie kaum gelernt haben, ein neues Problem professionell anzugehen, aber auch nicht Kompetenzverteilungen vorzunehmen (Abb. 2), und in Abb. 3 auch nicht sich mit anderen auf neue notwendige Standards zu einigen. Schließlich zeigt Abb. 4, dass sie nie oder kaum gelernt haben, ihre eigene Weiterbildung zu planen (vgl. auch Oser 2001, S. 289). In all diesen Abbildungen bedeutet "nichts gehört", dass sie subjektiv das Gefühl haben, sie hätten in der Ausbildung diesen Aspekt nie und in keiner Weise gelernt. "Nur Theorie" bedeutet, es sei da mal etwas in einer Vorlesung oder anderswie in abstracto vorgekommen. "Nur Übung oder nur Praxis" meint, dass hier in Praktika im Feld oder bei Übungslektionen das Thema zur Sprache gekommen sei. "Theorie und Übung" oder "Theorie und Übung und Praxis" sind intensivere, Portfolio orientierte Formen des Umgangs. Nur diese letzteren deuten darauf hin, dass in diesem Feld ein Standard entwickelt worden ist.
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Die Befunde sind auch hier schockierend. Nicht einmal der Umgang mit dem eigenen Beruf und dem, was er erfordert, wird in unseren Ausbildungsstätten gelernt.