Der Integrationscharakter des Faches

[S. 12:] "Da das Fach Sozialwissenschaften als Integrationsfach konstruiert ist, können die in diesem Fach bewährten Formen der Integration auch Anregungen für einen fachübergreifenden und fächerverbindenden Unterricht enthalten. Deshalb werden an dieser Stelle die Integrationsformen dargestellt. Konstitutives Prinzip des Unterrichtsfaches Sozialwissenschaften ist die Integration der drei Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften ist als Integrationsfach konstruiert, um gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu erfassen sowie verantwortliche Urteils- und Handlungskompetenz (soziale, politische, wirtschaftliche) zu ermöglichen.

Fachdidaktische und fachwissenschaftliche Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass sich die drei Bezugsdisziplinen an den Hochschulen weitgehend getrennt entwickelt haben mit je spezifischen Erkenntnisobjekten, Inhalten und Methoden. Zwar hat es verschiedene Ansätze zu einer Synthese der Bezugsdisziplinen gegeben, sie sind jedoch nicht prägend geworden. In der universitären Lehrerausbildung für das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften werden die Bezugsdisziplinen noch häufig getrennt vermittelt und erst in den fachdidaktischen Seminaren zusammengeführt. Deshalb ist es notwendig, das Prinzip der Integration im Verständnis des Lehrplans näher zu bestimmen.

Die Komplexität gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Systeme lässt sich analytisch in eine soziale, wirtschaftliche und politische Dimension gliedern. Diese Dimensionen spiegeln sich didaktisch reflektiert in den sozialwissenschaftlichen Denkweisen (siehe unten) sowie in den Inhalts- und Methodenfeldern des Faches Sozialwissenschaften. Das Integrationsprinzip besteht darin, die Dimensionen des sozialwissenschaftlichen Denkens, die Inhalts- und Methodenfelder aufeinander zu beziehen und so weit wie möglich miteinander zu verknüpfen. Das Integrationsprinzip hat jedoch dort seine Grenzen, wo sich Inhalte und Methoden der einzelnen Teildisziplinen deutlich unterscheiden und eine Integration zu einer zu hohen Komplexität der Bearbeitung und der damit verbundenen Gefahr der Unübersichtlichkeit führen würde.

[S. 13:] Wie andere Unterrichtsfächer auch nimmt das Fach Sozialwissenschaften zur Abgrenzung und Ergänzung auf Inhalte anderer Disziplinen (z. B. Recht, Mathematik) Bezug und greift auf deren Methoden im Sinne von 'Hilfswissenschaften' zurück. Dadurch wird jedoch nicht der spezielle Charakter des Faches Sozialwissenschaften als Integrationsfach berührt. Inhaltlich ist die Integration durch die obligatorische Berücksichtigung aller Inhaltsfelder mit ihrer je unterscheidbaren Nähe zu den drei Teildisziplinen [...] zu gewährleisten.

Die Teildisziplinen unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch zum Teil in ihren Methoden der Erkenntnisgewinnung. Integration bedeutet nicht, dass im Unterrichtsfach Sozialwissenschaften diese Unterschiede eliminiert werden, sondern dass entsprechend der wissenschaftspropädeutischen Zielsetzung der gymnasialen Oberstufe neben den gemeinsamen auch die spezifischen Methoden der Teildisziplinen bei der Analyse gesellschaftlicher Tatbestände und Probleme exemplarisch anzuwenden und in Bezug auf ihren Gültigkeitsanspruch sowie ihre Leistungsfähigkeit einzuschätzen sind. Wie die Inhaltsfelder gehören auch die Methoden als gesondert ausgewiesener Bereich des Faches Sozialwissenschaften zum obligatorischen Bestandteil der Richtlinien.

Integration auf der Methodenebene ist durch die obligatorische Berücksichtigung der angeführten Methoden mit ihrer je unterscheidbaren Nähe zu den drei Teildisziplinen aber auch im Verhältnis ihrer gegenseitigen Ergänzung bei der Analyse gesellschaftlicher Probleme zu gewährleisten.

Das für das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften konstitutive Prinzip der Integration ist im Unterricht auf drei Weisen möglich; über additive Verknüpfung, Integration über die Leitwissenschaften und interdisziplinäre Integration:

  • Integration erfolgt durch die Addition der drei Teildisziplinen: Die unterschiedlichen Zugriffsweisen der soziologischen, der ökonomischen und der politikwissenschaftlichen Disziplin werden neben- bzw. nacheinander bei der Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems verdeutlicht.
  • Integration über Leitwissenschaften soll bedeuten, dass die inhaltliche Füllung der Inhaltsfelder von jeweils einer Teildisziplin bestimmt wird, die jedoch über Dimensionen und Aspekte mit einer anderen Teildisziplin oder beiden anderen Teildisziplinen verknüpft wird.
  • Interdisziplinäre Integration ist die anspruchsvollste Form der Integration, die der Komplexität der gesellschaftlichen Realität am angemessensten ist. Die erarbeiteten Zugriffsweisen der einzelnen Teildisziplinen werden zusammengeführt, um ein komplexes Thema, welches das Zusammenwirken der Teildisziplinen erfordert, zu bearbeiten. Im Gegensatz zur additiven Verknüpfung der Teildisziplinen wird hier ein bewusstes, kontrolliertes Miteinander der Teildisziplinen notwendig, bei dem die Lernenden die sozialwissenschaftlichen Denkweisen unterscheiden und anwenden sollen. Interdisziplinarität auf einem angemessenen wissenschaftspropädeutischen Niveau setzt also das Bewusstsein von Disziplinarität voraus.

[S. 14:] Sozialwissenschaftliches Denken: Integrations- und Kooperationschancen

Wenn im Folgenden die Dimensionen sozialwissenschaftlichen Denkens entfaltet werden, geschieht dies unbeschadet möglicher Anklänge an fachwissenschaftliche Schulen und Paradigmen in didaktischer Absicht. Es ist hier also nicht beabsichtigt, verschiedene sozialwissenschaftliche Theorieansätze darzustellen und zu würdigen. Vielmehr wird auf Aspekte sozialwissenschaftlichen Denkens verwiesen, die sich sowohl unter fachlichen Aspekten als auch im Hinblick auf die allgemeinen Lernziele der gymnasialen Oberstufe als didaktisch fruchtbar erwiesen haben und Kooperationschancen mit anderen Fächern bieten.

Sozialwissenschaftliches Denken in seiner soziologischen Dimension ist u. a. dadurch charakterisiert, dass Gesellschaft in allen Teilbereichen als menschliches Produkt aufgefasst wird, d. h. der Mensch ist der Hervorbringer der Gesellschaft.

Gesellschaft in allen ihren Teilbereichen ist historisch gewachsen und veränderbar. Gleichzeitig tritt Gesellschaft dem Menschen so wie die Natur als objektive Wirklichkeit entgegen, weil er in eine bestimmte Gesellschaft hineingeboren und durch sie gewissermaßen zum gesellschaftlichen 'Produkt' wird. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Urheberschaft für Gesellschaft im Alltagsdenken der Menschen verloren geht. Die Folge ist eine Verdinglichung des Denkens. Verdinglichung bedeutet menschliche Phänomene (Werte, Normen, Rollen, Institutionen, Herrschaft, Theorien etc.) so aufzufassen, als ob sie außer- oder übermenschliche Dinge wären, quasi Naturgegebenheiten, die nicht veränderbar sind. Verdinglichung ist ein Phänomen, dass uns auf allen gesellschaftlichen Ebenen entgegentritt, häufig unter Berufung auf angebliche Sachzwänge, unveränderliche Gesetzmäßigkeiten. Wissenschaftliche Theorien werden nicht selten dazu benutzt, solche Verdinglichungen zu legitimieren und sie auf diese Weise der Kritik zu entziehen, um gegebene gesellschaftliche Strukturen unangreifbar zu machen. Auf diese Weise begeben sich Menschen in eine ungewollte oder nicht notwendige Unmündigkeit. Eine aufklärerische Funktion sozialwissenschaftlichen Denkens besteht also darin, solchen Tendenzen im Denken und Handeln entgegenzuwirken. Eindimensionales Denken, ein Denken ohne Alternativen, widerspricht dieser Sichtweise genauso wie die Annahme der Unveränderbarkeit der Gesellschaft und ihrer Ordnungssysteme. Die Analyse solcher Verdinglichungstendenzen jenseits eines naiven Aufklärungsoptimismus mit Hilfe soziologischer Verfahren ist eine Form der Ideologiekritik mit wissenschaftspropädeutischem Anspruch. Dies ist ein ergiebiger Ansatz für die Zusammenarbeit des Faches Sozialwissenschaften mit anderen Fächern.

Sozialwissenschaftliches Denken in seiner ökonomischen Dimension ist u. a. durch das Rationalitäts- und das Knappheitsprinzip charakterisiert.

Ökonomisches Denken und Handeln orientieren sich im Rahmen von Institutionen und Organisationen an diesen Prinzipien. Dabei kann es zu einer Diskrepanz zwischen individueller und gesellschaftlicher Rationalität kommen. Was individuell rational ist und zur Nutzen- oder Gewinnmaximierung führt, kann gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich höchst dysfunktional sein, weil zum Beispiel negative externe Effekte auftreten, die in Form von Kosten und Risiken der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Die Aufdeckung solcher Diskrepanzen in wirtschaftlichen, [S. 15:] sozialen und technisch-naturwissenschaftlichen Bezügen mit Hilfe ökonomischer Methoden und Theorieansätze kann zu einer vertieften Ursachenanalyse und damit einer Perspektivenerweiterung sowie einer fundierteren Problemlösungskompetenz in anderen Unterrichtsfächern führen, vor allem bei solchen komplexen gesellschaftlichen Problemen, die auch die Notwendigkeit der Veränderung einzelner Ordnungselemente und Institutionen deutlich werden lassen, um individuell rationales Handeln auch gesamtgesellschaftlich verträglich zu machen.

Sozialwissenschaftliches Denken in seiner politikwissenschaftlichen Dimension basiert auf den Prinzipien des demokratisch verfassten Rechts- und Sozialstaats.

Wesentliches Element der politikwissenschaftlichen Dimension sozialwissenschaftlichen Denkens ist die Reflexion des Spannungsverhältnisses zwischen verfassungsgemäßem Wertesystem und den Bedingungen und Durchsetzungsmöglichkeiten partikularer Interessen, also die Frage nach Legitimität und Legalität von Macht und Herrschaft. Durch die Frage nach der Berücksichtigung von Grund- und Menschenrechten und von partikularen und universellen Normen und Werten können politische Implikationen eines Problems aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang steht die Frage nach Gewaltenteilung und Kontrolle von Macht, aber auch die Problematisierung des zunehmenden Entzugs von Einflussmöglichkeiten sowohl der Bürger wie auch der nationalen politischen Institutionen aufgrund von Globalisierungstendenzen. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf die Partizipationsmöglichkeiten des Bürgers und das Spannungsverhältnis zwischen dem menschlichen Bedarf an sozialer Sicherung und wirtschaftlichen Restriktionen sind wesentliche Elementen der politikwissenschaftlichen Dimension des sozialwissenschaftlichen Denkens.

Vor diesem Hintergrund können für gesellschaftliche Probleme angebotene Problemlösungen ideologiekritisch analysiert und eigenständige phantasievolle Lösungen unter Beachtung plausibler Formulierungen von Ziel-Mittel-Relationen entwickelt und unter Bezugnahme auf verallgemeinerungsfähige Maßstäbe bewertet, auf Chancen der Realisierbarkeit geprüft und Strategien zur Durchsetzung abgeklärt werden.

Die drei Dimensionen der sozialwissenschaftlichen Denkweise bieten in ihrer umfassenden Zugriffsweise also zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Kooperation mit anderen Fächern und können dadurch auch zu einer vertieften politischen Bildung führen.

Da die Perspektive des Faches Sozialwissenschaften die Gesellschaft in ihren sozialen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Dimensionen ist, ergeben sich solche Anknüpfungspunkte sowohl inhaltlicher als auch methodischer Art nicht nur für die Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes, sondern auch für die beiden anderen Aufgabenfelder. Die Kooperationschancen mit dem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen und dem sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeld scheinen aus inhaltlicher, methodischer und auch aus didaktischer Perspektive besonders interessant und viel versprechend zu sein (Erfassung und Analyse komplexer Wirkungszusammenhänge und gesellschaftlicher Problemfelder)." [S. 12-15]