Zweitens: Es würde ein formationstheoretisch fundiertes und spiralförmig didaktisiertes Geschichtscurriculum erstellt. [...] Formationstheoretisch fundiertes Curriculum heißt: Das Curriculum basiert auf dem Wesen, der Charakteristik, der Typik der sozialökonomischen Gesellschaftsformationen. Diese bildeten die Unterrichtseinheiten. Dadurch würde die Unterrichtsarbeit stärker auf die sozialökonomischen Lebensverhältnisse orientiert. Die politische Geschichte würde relativiert. Die sachlogische Zentralkategorie der historischen Bildung ist nämlich die der Gesellschaftsformation; während die sachlogische Zentralkategorie der politischen Bildung die des Klassenkampfs ist -, oder, [/S. 27:] mehrheitsfähiger formuliert, die der antagonistischen Interessenauseinandersetzung. Dabei ist die politische Bildung der historischen untergeordnet; einerseits, indem der Gesamtprozeß auf einen Teilprozeß, den politischen reduziert wird; andererseits, indem die Entwicklung auf ihr jeweiliges Resultat, die Gegenwart, reduziert wird. Beim formationstheoretisch fundierten Curriculum würden also Gesetzmäßigkeiten gelernt, nicht Oberflächenerscheinungen. [...] Sobald dies geschehen ist, bedarf es nicht mehr der Speicherung unendlicher Mengen von Fakten, sondern weniger Theoreme und Theorien, die bei Bedarf eine Reaktion auf ein beliebiges Faktum ihres Bereichs erlauben. [...]
Die tendenzielle Selbstverhinderung des Geschichtsunterrichts als Lernprozeß beruht auf seiner immer unbewältigten Faktenfülle, den daraus entstehenden "Auswahlproblemen", der damit einhergehenden Beliebigkeit, dem Sammelsurium der Themen: Wo schließlich alles jederzeit zum Lerngegenstand werden kann, wird nichts gelernt.
(Die Schüler wissen, warum sie den Geschichtsunterricht ablehnen.) Das genannte Problem des Geschichtsunterrichts, die unendliche Deskription, indiziert seinen wissenschaftsgeschichtlich niedrigen Stand, und den seiner Fachwissenschaft, der Geschichte. Der Geschichtsunterricht muß auf Gesetzeserkenntnis ausgerichtet werden, weg von der Erscheinungslehre, hin zur Wesensanalyse. (Das historische Wesen erscheint freilich nur im konkreten Prozeß - als "Bild" -; die Mißachtung der Erscheinung würde den Geschichtsunterricht ebenfalls zerstören.)
Spiralförmig didaktisiertes Curriculum heißt: Die Gesellschaftsformationen werden aus lernpsychologischen, persönlichkeitstheoretischen und entwicklungspsychologischen Gründen nicht chronologisch und beziehungslos hintereinander abgehandelt, sondern sie werden alle - mit zunehmender Komplexität und zunehmendem Schwierigkeitsgrad - in jedem Schuljahr aufs neue in bezug auf eine spezielle Frage, einen speziellen Erkenntnisprozeß, eine spezielle Erscheinung analysiert.
Drei Beispiele: Familie/Kindheit/Alltagsleben/Zusammenleben von der Urgesellschaft bis zur entstehenden sozialistischen Gesellschaft etwa im 5. Schuljahr. - Naturstoffaneignung/Arbeit/Produktion von der Urgesellschaft ... -, etwa im 9. Schuljahr. Eine solche Form des Geschichtsunterrichts integrierte in der Tat in weit höherem Maß als der bisherige Geschichtsunterricht - und auch das Integrierte Gesellschaftslehrecurriculum - die verschiedenen speziellen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisprozesse und Fähigkeitsentwicklungen.
Allerdings liegt auf der Hand, daß auch ein solcher "integrationistischer" Geschichtsunterricht das Konzept des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts zerstören würde, denn die "anderen Fächer" gingen nicht restlos in ihm auf; ihre "Reste" müßten nach wie vor in den nun allerdings omnipotenten Geschichtsunterricht eingebaut, bzw. ihm angehängt werden -, alles wie gehabt.
Ein formationstheoretisch fundierter und spiralförmig organisierter Geschichtsunterricht wäre zwar das bisher integrierteste gesellschaftswissenschaftliche Fach -, aber nicht die Integrierte Gesellschaftslehre.
Weil nun, wie dargelegt, der Geschichtsunterricht das zentrale Element eines Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts bilden muß, und weder seine Form als linearer Lehrgang, noch seine Omnipotenz (formationelles, spirales Curriculum) das Konzept dieses Unterrichts rettet, sondern es zerstört, kann es beim heutigen Stand der Gesellschaftswissenschaften einschließlich der Pädagogik kein Integriertes Gesellschaftslehrecurriculum geben.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Die gegenseitige Blockierung von integriertem Gesellschaftslehreunterricht und Geschichtsunterricht ist kein Zufall, denn Integration ist Bemühung um Totalität, und Totalität des menschlichen Werdens ist Thema der Geschichte, nicht der Geografie oder der anderen Sozialwissenschaften. [...]
Ich spreche mich also gegen das Konzept des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts aus. [...]
Es ist m. E. heute sinnvoll, unter dem Namen "Gesellschaftslehre" und der Beibehaltung der Stundenzahl und des Unterrichts durch einen Lehrer (dessen "Fremdfach"-Probleme mich wenig interessieren) innerhalb des Gesellschaftslehreunterrichts die einzelnen Fächer epochal zu unterrichten.