Für die sozialwissenschaftliche Lehramtsausbildung ist typisch, daß sie in fachübergreifenden Studiengängen stattfindet. Die Art und Zahl der beteiligten Fächer, ihre zeitlichen und inhaltlichen Anteile variieren jedoch je nach Studiengang und Studienort ganz erheblich [...]. Das ist nicht nur auf eine teilweise sachfremde Konkurrenz der Fächer, sondern auch auf Unsicherheit in der Frage zurückzuführen, welche Bedeutung den einzelnen Disziplinen in den jeweiligen Fächerkombinationen zukommt. So ist schon die auf den ersten Blick durchaus plausible Vorstellung, daß "der Kern" der politischen Bildung "das Politische" und folglich Politikwissenschaft die zentrale Bezugswissenschaft sei (vgl. Sander 1997, S. 17, 21, 32 ff.; Massing 1996, S. 124; Bundeszentrale 1994, S. 13 und "Darmstädter Appell" 1996), in kritischer Sicht durchaus zweifelhaft, weil das "Politische" selbst strittig ist und zudem erst im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verständlich wird (so in der Auseinandersetzung mit dem "Darmstädter Appell"; vgl. Kahsnitz 1996 und Henkenborg 1996, S. 165; Henkenborg schreibt zur Auseinandersetzung um den Politikbegriff: "Sicher hat ein weiter (soziologischer) Politikbegriff Risiken (Überforderung, Allzuständigkeit. Ressourcenknappheit), und unbestritten bietet ein enger (politologischer) Politikbegriff Vorteile (Begrenzung der knappen Fachressourcen auf ein Proprium). Politische Bildung läßt sich - heute weniger denn je - trotzdem nicht auf einen engen Politikbegriff begrenzen, denn: politikwissenschaftliche Analysen der 'politischen Gesellschaft' (Greven), der 'Entgrenzung der Politik' (Beck) oder der 'life-politics' sehen das Neue in der Politik ja gerade darin, daß in der modernen Gesellschaft 'virtuell alles politisch geworden' (Greven) ist" (S. 165)). Versuche, in dieser Frage mehr Klarheit durch Rekurs auf die Systematik etwa von Soziologie, Politikwissenschaften etc. zu gewinnen, sind m. E. schon deshalb aussichtslos, weil die Kombination von Fächern und die Integration von Fachanteilen nur im Hinblick auf einen außerhalb der Fächer liegenden Zweck Sinn macht. Was der "angemessene" Beitrag eines Faches im Rahmen eines interdisziplinären Studiums ist oder sein könnte, kann deshalb nur im Hinblick auf Funktionen bestimmt werden, die ein Studiengang nach Maßgabe jeweiliger Studienordnungen hat oder haben sollte. Diese "Maßgabe" ist in jedem Fall didaktisch begründet und daraus [/S. 300:] folgt zunächst, daß der inhaltliche Beitrag der Soziologie oder anderer Disziplinen zur sozialwissenschaftlichen Lehramtsausbildung nicht nach Erfordernissen der Systematik des Faches, sondern nach den Zielen und Aufgaben der fachübergreifenden Studiengänge zu bemessen ist.
Wenn wir als Beispiel Nordrhein-Westfalen nehmen, und hier die Universität Bielefeld, so ist die Soziologie an folgenden interdisziplinären Lehramtsstudiengängen beteiligt:
- "Sachunterricht/Gesellschaftslehre" (SU/GL) der Primarstufe (Klasse l - 4);
- "Sozialwissenschaften" (Sowi) der Sekundarstufen I und II (Klasse 5-10 und 11 - 13);
- "Erziehungswissenschaftliches Studium für das Lehramt" (ESL).
[...] Anders als das ESL-Studium sind die Studiengänge "Sozialwissenschaften" und "Sachunterricht/Gesellschaftslehre" auf entsprechende Schulfächer bezogen. Eine Eigenart dieser Unterrichtsfächer ist, daß es sich um "Lernbereiche" handelt (in der Primarstufe ist politische Bildung Bestandteil des Lernbereichs "Sachunterricht", in [/S. 301:] der Sekundarstufe I heißt der Lernbereich "Gesellschaftslehre" (Geschichte/Politik) und in der Sekundarstufe II "Sozialwissenschaften"), die jeweils mehrere Bezugswissenschaften haben, die in einem didaktisch begründeten Zusammenhang stehen. Diese Bezugswissenschaften sind auch an den entsprechenden Studiengängen beteiligt. Für den Lernbereich "Sachunterricht" sind das im Studiengang SU/GL: Geographie, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft. Für den Lernbereich "Sozialwissenschaften/Politik" sind das im Sowi-Studiengang Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und in Bielefeld zudem - als Ausnahme in NRW - Geschichte im Verständnis einer historischen Sozialwissenschaft.
Aus der Lernbereichskonstruktion ergibt sich eine weitreichende didaktische Konsequenz, die auch für die sozialwissenschaftliche Studiengangskonzeption eingefordert werden muß: die systematische Zusammenfügung der an den Lernbereichen beteiligten Fachgebiete. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand - und mehr noch in der Praxis - handelt es sich noch weitgehend um ein Desiderat und insofern um eine innovative Aufgabe. Diese Aufgabe wirft Fragen auf, die theoretisch und praktisch noch ohne zureichende Antwort sind:
- Ist das sachliche und methodische Wissen der beteiligten Fächer im Unterricht am zweckmäßigsten additiv, integrativ oder kooperativ zusammenzufügen?
- In welchem Verständnis ist Integration überhaupt möglich im Hinblick auf die für die Einzelwissenschaften konstitutiven Unterschiede der Fragestellungen, Gegenstände und Methoden und der dadurch bestimmten curricularen Prämissen der Fächer?
- Läßt sich der integrative Ansprach unterrichtspraktisch überhaupt einlösen bzw. in welcher Form?
Diese Fragen haben auch für die sozialwissenschaftlichen Studiengänge und die Studienorganisation grundlegende Bedeutung, da für die Integrationsveranstaltungen im Studium vergleichbare Probleme zu lösen sind. Zum konzeptionellen Vorverständnis gehören dabei folgende Überlegungen:
Die Schulfächer mit politischen Bildungsaufgaben intendieren einerseits die Förderung politisch-sozialer Urteils- und Handlungskompetenz der Schüler/innen, andererseits Vorbereitung auf den Fachunterricht der nachfolgenden Schultypen bzw. auf das Hochschulstudium. Diese Schulfächer sind also der didaktischen Grundfunktion nach zweierlei: politisch-soziale Bildung und Fach- bzw. Wissenschaftspropädeutik. Dementsprechend erfordert auch die Ausrichtung der schulfach- bezogenen Studiengänge auf diese Doppelfunktion eine Studienorganisation, bei der sowohl in die grundlegenden Inhalte, Erkenntnisweisen und Fragestellungen sozial- wissenschaftlicher Disziplinen eingeführt wird, als auch fächerübergreifende Studien zu komplexen gesellschaftlichen Themen unter didaktischen - vorwiegend problem- und handlungsorientierten - Fragestellungen ermöglicht werden. Diese Zusammenfügung, die in einer rein fachwissenschaftlichen Konstruktion des [/S. 302:] Studiengangs kaum Bestand haben könnte, findet Rückhalt vor allem in der - wiederum didaktisch relevanten - Einsicht, daß es angesichts zunehmender Vernetzung sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Prozesse, Systeme und Problemlagen für politisches Urteilen und Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen unabdingbar geworden ist, das in je spezifischer Weise erschlossene und systematisierte Wissen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen bei der Analyse und Lösung gesellschaftlicher Probleme jeweils aufeinander bezogen zu verarbeiten. So würde es z. B. nicht ausreichen, politisch auf das Phänomen zunehmender Gewaltbereitschaft etwa nur mit dem Wissen zu reagieren, das Individual- und Sozialpsychologie oder Soziologie oder Politikwissenschaft usw. dazu erarbeitet haben.
Damit kommen wir auf die Frage zurück, auf welche Weise der wechselseitige Bezug hergestellt, die jeweiligen Fachanteile des sozialwissenschaftlichen Studiengangs begründet ausgewählt und integriert werden können, und somit auch, welche Bedeutung die Soziologie in diesem Zusammenhang haben kann.
Versuche, die Integrationsaufgabe zu lösen, lassen sich nach dem bisherigen Stand der fachdidaktischen Diskussion am ehesten über den Bezug der Fächer auf gesellschaftliche Probleme realisieren (grundlegend hierzu: Pandel 1978). Denn wie weit wir das Netz sozialwissenschaftlicher Studien spannen müssen und wie dabei die Fächer miteinander verknüpft werden, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Problems ab, das untersucht wird, und davon, wie es definiert und dimensioniert wird (ausführlich bei Kapp 1983, S. 208-214). [...] Welche der [..] Problemdimensionen zum Gegenstand von Unterricht und Studium gemacht werden, und welche Fächer folglich unterrichts- bzw. studienrelevant sind, ist letztlich nur vom jeweiligen - mit der Problemdefinition verbundenen - Erkenntnisinteresse und den sich daraus ergebenden Fragestellungen her zu entscheiden. Dieser problemorientierte Integrationsansatz deckt sich auch mit einem Politikbegriff, der politisches Handeln als eine prinzipiell "endlose Kette von Versuchen zur Bewältigung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben" (vgl. Massing/Skuhr 1993, S. 247) beschreibt. Ein vorweg bestimmter Dominanzanspruch eines Faches erscheint in dieser Sicht jedenfalls als unbegründet und sogar kontraproduktiv.
[/S. 304:]