Didaktischer Fixpunkt der interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Studiengangselemente ist die oben dargelegte didaktische Doppelfunktion der Schulfächer und daraus folgend die Problemorientierung des Studiums. Konzeptionell und in der Studienpraxis wird mit der problembezogenen Fächerintegration noch experimentiert. Es kristallisiert sich aber eine curriculare Grundstruktur heraus, die den Integrationsanspruch offenbar einlösen kann und an der sich auch inhaltlich nachweisen läßt, inwiefern Soziologie für ein fachübergreifendes, problemorientiertes Studium unverzichtbar ist. Zu diesem Nachweis führen folgende Überlegungen:
l. Das Ziel politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit schließt immer die Befähigung ein, sich in politisch-gesellschaftlichen Problemfeldern sachkundig machen, Probleme beschreiben und analysieren zu können. Gesellschaftliche Probleme können aber - wie auch dem Schaubild zu entnehmen ist - nicht zureichend beschrieben, analysiert, beurteilt und gelöst werden, wenn der Zugang zum Problem nur aus der Perspektive einer Wissenschaftsdisziplin gesucht wird. Denn praktische Probleme sind - im Unterschied zu theoretischen Problemen - ungefächert (vgl. Pandel 1978, S. 368).
Das läßt sich an jedem problemhaltigen Beispiel nachweisen: Sei es die Umweltproblematik, Arbeitslosigkeit, Armut, Fremdenhaß, Migration oder der Golfkrieg - immer handelt es sich um vieldimensionale Sachverhalte und Ereigniszusammenhänge, die zahlreiche Gründe/Ursachen und Folgewirkungen haben und unter ganz verschiedenen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen "Thema" sein können. [...] [/S. 307:] Psychologie und Sozialpsychologie könnten in diesem Beispiel [Golfkrieg; d. Red.] Verhaltensweisen und Verhaltensmuster der maßgeblichen Akteure erklären, Politikwissenschaft könnte Aufschluß geben über Machtphänomene, Mechanismen der politischen Willensbildung, des inter- und supranationalen Krisenmanagements usw., und Soziologie könnte Beiträge leisten zur Aufklärung der Systemzwänge und gesellschaftlichen Strukturen, die den Handlungsrahmen für die Aktivitäten der individuellen und kollektiven Akteure in dieser Krisensituation bildeten. Ein multiperspektivischer, fächerübergreifender Zugang ist also unverzichtbar.
2. Welche Wissenschaftsdisziplinen für die politische Urteils- und Handlungskompetenz relevant sind, inwieweit also die verschiedenen Fächer an der politischen Bildung und darauf bezogenen Studiengängen zu beteiligen sind, läßt sich ebenfalls nicht aus der Sicht einer Einzelwissenschaft klären, sondern nur im Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Probleme oder Problemtypen (z. B. sogenannten "Schlüsselproblemen" wie Krieg, Armut/Hunger, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und Massenmigration). Ausgangspunkt fächerübergreifender Studien sind deshalb nicht Übersichten über Theoriebestände und Methodenrepertoires von Politikwissenschaft, Soziologie usw. als einer Art "Vorratswissen" für die Befassung mit Problemen, sondern die Probleme selbst. Erst nach der Definition einer Situation, eines Ereigniszusammenhangs etc. als Problem, erst nach dessen Dimensionierung als politisches, ökonomisches, soziales oder rechtliches Problem, und erst wenn vom Problem her Fragen an die Bezugsdisziplinen gerichtet werden, haben Multidisziplinarität und Multiperspektivität ihre methodische Berechtigung (vgl. Pandel 1978, S. 368); erst danach wird auch der für die Problembearbeitung erforderliche Fächeranteil absehbar.
3. Eine nur additive Zusammenfügung von fachspezifischen Fragestellungen, Methoden, Begriffen, Theorien innerhalb eines Problemhorizonts reicht aber nicht aus. Wir wissen dann noch nicht, welche Bedeutung bestimmte Ursachen in einem Wirkungszusammenhang haben; welche Ursachen/Gründe in der Ursachenhierarchie dominant sind; was zufällig und was wesentlich ist. Ohne die Möglichkeit zur Gewichtung und Bewertung von Bedingungsfaktoren gesellschaftlicher Probleme kann die Folge bloßer Multiperspektivität auch Orientierungslosigkeit und politische Handlungsunfähigkeit sein. Daraus ergibt sich als Konsequenz: Die fächerübergreifende Problemanalyse muß so organisiert sein, daß sie eine begrifflich geordnete Zusammenhangsvorstellung ermöglicht. Das wiederum gelingt nur, wenn die problemrelevanten Elemente und Teilinhalte verschiedener Fächer unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefaßt und integriert werden. Durch eine solche Zuordnung bekommen die fachspezifischen Erkenntnisbeiträge eine Struktur - sie bilden einen Erklärungs- und Bedeutungszusammenhang. [/S. 308:]
4. Die integrierenden übergeordneten Gesichtspunkte werden aus theoretischen Konstrukten gewonnen, die der Definition und Analyse von Problemen sowohl vorgängig als auch nachträglich als Interpretationsrahmen dienen.
Probleme sind mit bestimmten Ereignissen nicht einfach vorhanden, sondern Ereignisse werden als Problem oder problematisch gedeutet. Z. B. wird Lohnkürzung im Krankheitsfall von Arbeitnehmern in vielerlei Hinsicht als Problem, von Unternehmen als Lösung von Problemen interpretiert. Ein Ereignis oder Verhalten wird - wie Fandet überzeugend dargelegt hat - erst dann als problematisch definiert, wenn es "einer sozialen Norm widerspricht, eine Erwartung enttäuscht oder eine erwartete Regelmäßigkeit durchbricht ... Die Existenz eines Systems von normativen Erwartungen gibt den Hintergrund ab, auf dem ein Ereignis zu einem Problem werden kann - vor dem ein Ereignis fragwürdig wird" (Pandel 1978, S. 366). Daraus folgt: Jede Problemdefinition setzt bereits ein vorgängiges Verständnis voraus, eine Zusammenhangsvorstellung von Bedingungsfaktoren, Problemursachen, Akteursmotiven usw. sowie eine Deutung der vermuteten Ursachen, Bedingungsfaktoren usw.
Dieses vorgängige Verständnis kann im Alltagsdiskurs aus Deutungsangeboten der Massenmedien stammen, die von den "Problemverursachern" meist gleich mit- geliefert werden, oder aus Vorurteilen und Vorkenntnissen, aus Verallgemeinerung von Lebenserfahrungen. Wissenschaftlich fundiert wird die Problemanalyse allerdings erst durch Rückfragen an die Bezugswissenschaften, durch Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Theorien - und an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Soziologie für die sozialwissenschaftliche Lehramtsausbildung vollends deutlich: ohne Wissen über soziale Systeme und ihre Funktionen, über soziale Strukturen, soziale Ungleichheit, System- und Sozialintegration, ohne theoretische Vorstellung von der Gesellschaft (etwa als "Risikogesellschaft") und ihrem strukturellen Wandel, ohne Theorie über die Interdependenzgeflechte von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bliebe schon konzeptionell der Zugang zu dem Wissen darüber verbaut, "wie die alles umfassende soziale Organisation das Verhalten ihrer Teile formt und lenkt", welche funktionalen Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen bestehen. An dieser Feststellung kommen wir nicht vorbei: "Wirtschaftliche oder politische Fragen können solange nicht angemessen behandelt werden, als sie ausschließlich als wirtschaftliche oder politische gesehen werden" (Kapp 1983, S. 189, 208).
Zusammenfassend ergibt sich daraus für die Integrationsveranstaltungen der sozialwissenschaftlichen Studiengänge folgende didaktische Struktur:
Erster Schritt: Problembeschreibung und Problemdefinition. Dabei ist zu klären, inwiefern ein Sachverhalt, Ereignis etc. ein Problem ist und um welche Art von Problem (politisches, ökonomisches, rechtliches usw.) es sich handelt. Dazu sollte [/S. 309:] auch die Benennung des normativen Hintergrunds der Problemwahrnehmung und Darlegung des Erkenntnisinteresses gehören.
Zweiter Schritt: Analyse und Dimensionierung des Problems nach dem Muster des Schaubilds. Sie soll alle Faktoren erfassen, die im problematischen Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang eine Wirkung/Bedeutung haben. Die dadurch bewirkte Sinnfälligkeit der Komplexität realer gesellschaftlicher Probleme soll bei den Studienanfänger/innen Verständnis für den Zusammenhang der sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen wecken und zugleich die Einsicht vermitteln, daß das Ziel politischer Bildung (einen Beitrag zur Entwicklung politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit zu leisten) ein interdisziplinäres wissenschaftliches Vorgehen bedingt.
Dritter Schritt: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands je nach Erkenntnisinteresse unter didaktischen Relevanzaspekten. Es muß entschieden werden, welche Problemdimensionen berücksichtigt und eingehender untersucht werden sollen und auf welche Fragen die Untersuchung eine Antwort geben soll. Formulierung von Annahmen zu den Untersuchungsfragen.
Vierter Schritt: Aufarbeitung von Forschungs- und Erkenntnisbeiträgen der einzelnen Bezugswissenschaften. Mit welchen Anteilen diese einbezogen werden, hängt von den Fragen ab, die vom Problem her an die Soziologie, Politikwissenschaft etc. gerichtet werden. [...]
Anders als die Integrationsveranstaltungen dient der "Grundkurs" in erster Linie nicht der Aufarbeitung des Problems, sondern der Einführung in die Denkweisen der Disziplinen anhand eines Problems. Die Studierenden sollen dabei
(1) erkennen, daß der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß arbeitsteilig organisiert und dadurch in jeweils spezifischer Weise begrenzt ist;
(2) die Fähigkeit erwerben, in den drei nomothetischen Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft) denken zu lernen (wozu insbesondere auch Einübung in die Besonderheit der soziologischen Denkweise gehört);
(3) lernen, worin sich die Fächer hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche, Fragestellungen, Methoden, Schlüsselbegriffe und Theorieansätze unterscheiden, und wie sie sich im Hinblick auf die Problemanalyse systematisch aufeinander beziehen lassen. [/S. 310:]