Rohlfes, Joachim (2004): Historischer und politischer Unterricht – ein pragmatischer Blick

In der Diskussion um das Verhältnis von politischer und historischer Bildung liegen, so scheint es, alle Aspekte und Argumente auf dem Tisch. Man hat den Eindruck eines weitgehenden Konsenses, und es sind allenfalls Nuancen, in denen sich die Protagonisten unterscheiden. Historischer und politischer Unterricht, so kann man resümieren, stimmen in ihren Anliegen weithin überein: Sie verfolgen gleiche oder außerordentlich ähnliche Lernziele, beziehen sich auf überwiegend identische Leitkategorien und Schlüsselqualifikationen, bearbeiten vielfach dieselben Gegenstandsfelder und bedienen sich großenteils übereinstimmender Lehr- und Lernverfahren.

Auch ihre Bezugswissenschaften stehen einander sehr nahe und überlappen sich mannigfach. Die Geschichtswissenschaften haben es stets und heute mehr denn je auch mit politologischen, soziologischen, ökonomischen, geografischen und juristischen Fragestellungen und Konzeptionalisierungen zu tun. Historiker müssen sich einigermaßen in diesen Nachbardisziplinen auskennen, wenn sie sich etwa mit der Parteiengeschichte des 19. Jahrhunderts, der Rolle der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung, der Weltwirtschaftskrise seit 1929, der Urbanisierung in den letzten zwei Jahrhunderten oder der Verfassung des Deutschen Bundes von 1815 beschäftigen. Umgekehrt können die "systematischen" Sozialwissenschaften die historische Dimension nicht ausklammern, wenn sie ihren Gegenständen gerecht werden wollen: Der Politologe muss einiges von der russischen Agrargesellschaft des 19. Jahrhunderts kennen, wenn er Lenins revolutionäre Strategie von 1917 richtig interpretieren will; der Soziologe braucht konkrete Vorstellungen von der vormodernen Ständegesellschaft, um die Struktur der Klassengesellschaft zu durchschauen; der Ökonom hängt mit seiner Kapitalismustheorie in der Luft, wenn er sie nicht auf die Realitäten der Industrialisierung beziehen kann; zur Landeskunde des Geografen gehört unabdingbar die Landesgeschichte; der Verfassungsrechtler bedarf der Folie der Weimarer Republik, sofern er dem Grundgesetz von 1949 gerecht werden will.

Die früher oft vorgenommene Unterscheidung zwischen der Historie, die es mit der Vergangenheit zu tun hat, und der Sozialwissenschaft, die sich an der Gegenwart orientiert, ist zwar nicht völlig obsolet geworden, muss aber erheblich eingeschränkt und relativiert werden. Das Fach Geschichte bezieht seine Fragen an die Vergangenheit in entscheidendem Maße aus den Problemen und Erfahrungen jeweiliger Gegenwarten; die sozialwissenschaftlichen Disziplinen müssen in der Lage sein, heutige Zustände und Aufgaben auch in ihrem Gewordensein, in ihrer Herkunft aus weiter zurückliegenden Entwicklungen zu betrachten.

Viele heutige Forschungs- und Erklärungsparadigmen sind überhaupt nicht mehr oder nur sehr begrenzt einzelnen Fachwissenschaften zuzuordnen. Die Hermeneutik ist keine Domäne allein der Geschichtswissenschaft, auch die Politologen, Soziologen und nicht zuletzt die Juristen bedienen sich ihrer. Die kritisch-dialektische Herangehensweise ist mehr oder minder allen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften gemeinsam. Das analytische Verfahren finden wir in ungefähr gleicher Form bei Soziologen, Ökonomen, Politologen und Historikern. Quantitativ-statistischen Methoden begegnet man nicht nur bei Wirtschaftswissenschaftlern und Geografen, sondern auch bei Historikern, Politologen, Soziologen und mitunter auch in der Jurisprudenz. Ohne eine typologisierende und generalisierende Begriffsbildung kommt ebenfalls keine der genannten Disziplinen zurecht. Die Fächergrenzen sind, wie Reinhold Hedtke überzeugend herausgearbeitet hat, außerordentlich durchlässig geworden, und die Zahl der Subdisziplinen ist so angewachsen, dass die Fächerprofile insgesamt ihre klaren Konturen verlieren (1).

Dennoch dürfte es weiter Sinn machen, auf gewissen unverwechselbaren Wesensmerkmalen der "Großfächer" zu beharren und sie als fundamentale Erklärungskonzepte zu verstehen, die nicht wechselseitig austauschbar sind und darum in ihrer Eigenständigkeit nicht preisgegeben werden dürfen. Das setzt, auf der Ebene der Forschung wie des Unterrichts, der Fächerintegration feste Grenzen. Man pflegt diese nicht mehr hintergehbaren Verschiedenheiten an bekannten Begriffspaaren festzumachen.

Die Neukantianer Windelband und Rickert unterschieden nomothetische und idiografische Disziplinen: dort die nach Regelhaftigkeit und Gesetzen suchenden, normbildenden Fächer; hier die Tatsachen sammelnden, berichtenden, ordnenden, deutenden. Die Neukantianer hatten dabei die Natur- und Geisteswissenschaften im Blick, wir können dies auf die sozialwissenschaftlichen und die historischen Disziplinen übertragen.

Eine andere Gegenüberstellung bezieht sich auf die jeweiligen Perspektiven und Erkenntnisinteressen: Historiker erkunden die res gestae, das tatsächlich Geschehene; Sozialwissenschaftler die res gerendae, die gegenwärtig und zukünftig anstehenden Aufgaben. Die ersteren begnügen sich damit, eine gewesene, aber noch in die Gegenwart hineinwirkende Realität (genauer: das davon rekonstruierte Bild) zu erschließen; die letzteren wollen zwar auch gegenwärtige Realitäten ergründen, dabei aber nicht stehen bleiben, sondern sie beeinflussen, mitgestalten, verändern.

Ein drittes Begriffspaar lautet: narrativ-individualisierend versus systematisch-generalisierend. Der Historiker gibt den Bezug auf das Konkret-Einmalige nie auf, nimmt die Vielfalt der historisch vorfindbaren Sachverhalte wichtig, will sie zwar in ihren allgemeinen strukturellen und prozessualen Zusammenhängen erhellen und deuten, hält sich aber mit definitiven, alle Besonderheiten einschließenden Generalerklärungen zurück und nimmt nicht in Anspruch, die Dinge auf den "einen", alle anderen Deutungen ausschließenden "Punkt" bringen zu können. Der Sozialwissenschaftler dagegen möchte die Mannigfaltigkeit des Faktischen transzendieren, es auf Befunde verdichten, die die zeit- und raumspezifischen Zufälligkeiten und Besonderheiten hinter sich lassen und damit den "Transfer" auf andere Konstellationen ermöglichen, also Entscheidungs- und Handlungskompetenz vermitteln. Um ein Burckhardt-Wort weiterzuspinnen: Historisches Wissen macht "weise für immer", sozialwissenschaftliches "klug für ein andermal".

Ein letztes Begriffspaar stammt von Hans-Jürgen Pandel, der dabei vornehmlich die didaktische Funktion der Fächer im Blick hat. Danach kommt der politischen Bildung dis "Orientierung in der Gegenwart", "für die absehbare Zukunft" und für "politisches Handeln" zu, der Geschichte die "(Handlungs-)Orientierung in der Zeit"; der Politikunterricht habe es mit der "Dimension von Macht und Herrschaft" zu tun, der Geschichtsunterricht mit den "Kontingenzerfahrungen der Lebenspraxis" (2). Abgesehen davon, dass die hier verwendeten Begriffe auf unterschiedlichen Ebenen liegen und dadurch schiefe Kontrastierungen entstehen: Nicht nur der politische, auch und gerade der historische Unterricht hat es mit Macht und Herrschaft zu tun und eine Divergenz lässt sich hier beim besten Willen nicht erkennen - genauso wenig wie hinsichtlich der Zeitdimension, die für beide Fächer konstitutiv ist. Insofern dürfte allenfalls der Stellenwert der Kontingenz als Unterscheidungsmerkmal taugen.

Über die inhaltlich-thematischen Gemeinsamkeiten der beiden Fächergruppen braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Sie liegen in erster Linie im Bereich der Zeit- und Gegenwartsgeschichte. Man sieht es den Standardwerken etwa zum Nationalsozialismus weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick an, ob sie von Politik- oder Geschichtswissenschaftlern stammen. Karl Dietrich Brachers große Studie "Die deutsche Diktatur" von 1969 unterscheidet sich von Hans-Ulrich Wehlers Monumentalwerk "Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914 - 1949" aus dem Jahre 2003, von der unterschiedlichen Literaturbasis und Detailauswahl einmal abgesehen, in ihren Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Kategorien nur in individuellen Nuancen, nicht generell - was unterschiedliche Schwerpunktbildungen, Thesen und Resultate nicht ausschließt. Wie jede Bibliografie ausweist, haben Politologen und Historiker mit fast gleichen Anteilen zur Erforschung des 20. Jahrhunderts beigetragen, sei es zur Weimarer Republik, zum "Dritten Reich", zur Bundesrepublik und DDR, zur europäischen Integration. Gleichwohl haben sie dabei zumeist unterschiedliche Akzente gesetzt - gemäss den oben beschriebenen wissenschaftstheoretischen Prämissen.

Man kann noch viele andere gemeinsame Themenfelder benennen, in denen es absolut keine Fächermonopole gibt: politische Philosophie und Staatslehre; Verfassungsgeschichte; Menschenrechte; politische Kulturen; Parteien und Verbände; Gesellschaftsordnungen; Generationen und Altersstufen; Traditionen; Wirtschaftssysteme; Konjunkturen und Krisen; Industrialisierung; Nationalismus; Imperialismus und Kolonialismus; Erste und Dritte Welt; Europäisierung; Ost-West- und Nord-Süd-Konflikt; Krieg und Frieden; Rechtsordnungen; Staaten und Völker; Länder und Regionen; Urbanisierung; Schichten und Klassen; Ernährung und Gesundheit; Umwelt; Wissenschaft und Forschung; Erziehung und Bildung; Verkehr und Kommunikation; Technik und Arbeitswelt.

Diese und andere Forschungs- und Unterrichtsgegenstände nötigen die beteiligten Fächer auf einander zuzugehen. Das kann in drei Beziehungsstufen geschehen: Die Fächer versorgen sich wechselseitig mit Kenntnissen, die sie mit den eigenen professionellen Kräften nicht zu produzieren vermögen (Kompensation). Sie vereinbaren arbeitsteilige, aber getrennte Bearbeitungen komplexer Themenfelder (Koordination). Sie nehmen disziplinär eigenständig, aber aufeinander abgestimmt Forschungs- oder Vermittlungsaufgaben mit dem Ziel in Angriff, gemeinsame Ergebnisse vorzu1egen (Kooperation). Die theoretisch mitunter postulierte Verschmelzung (Integration) der Fächer dürfte ein Irrweg sein. Sie ist bislang nicht nur in der Praxis gescheitert, sondern entbehrt auch jeder wissenschaftshistorischen und theoretischen Plausibilität. Unser Wissenschaftsbetrieb hat sich ständig weiter differenziert und spezialisiert und verdankt vor allem dieser Entwicklung seine Erfolge. Jede Entdifferenzierung wäre ein Rückschritt, auch im Bereich der Schule. Das schließt Bemühungen, den Kosmos der Fächer in seinem Zusammenhang zu betrachten, keineswegs aus. Aber eine solche Zusammenschau geschieht auf einer anderen Ebene und darf nicht mit einer innerfachlichen Integration verwechselt werden.

Alle bisher vorgetragenen Überlegungen bewegen sich auf Stufen hoher Allgemeinheit und Abstraktion. Deren Relevanz für den täglichen Schulbetrieb dürfte aber eher gering sein. Hier stehen andere Faktoren im Vordergrund: das Können und die persönliche Ausstrahlung der Lehrenden; das soziale und geistig-kulturelle Klima in den Lerngruppen; die motivierende Kraft der Unterrichtsgegenstände; die Bedeutung eines Faches für die je persönliche Schul- und vielleicht auch die spätere Berufskarriere; die Qualität der Unterrichtsmedien.

Auf diese letzteren soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt werden, und zwar nicht auf die schon häufiger untersuchten Lehrbücher und sonstigen Unterrichtsmaterialien, sondern auf ein recht peripheres Hilfsmittel: die Lexika und Nachschlagewerke für die Fächer Geschichte und Politik. Die leitende Frage dabei ist, ob sich die oben beschriebenen theoretischen Positionen in diesem Schrifttum widerspiegeln oder ob das Eine mit dem Anderen nur wenig zu tun hat.

Nachschlagewerke wenden sich an unterschiedliche Adressaten. Für unsere Untersuchung kommen natürlich keine Bücher für den wissenschaftlichen Gebrauch und auch keine Spezialwörterbücher (etwa für die christliche Antike oder die Politische Psychologie) in Frage. Einschlägig sind für unsere Zwecke nur die allgemeinen, mit vergleichsweise kurzen Artikeln aufwartenden Fachlexika, die für ein interessiertes Laienpublikum, mithin auch für Gymnasiasten der Oberstufe geschrieben wurden.

Die nachfolgend erörterten Befunde basieren auf einer eher grobmaschigen Durchsicht von je drei Werken zur Geschichte und zur Politik (3) sowie einer detaillierteren Erhebung in Form von Stichproben, die unter den willkürlich ausgewählten Buchstaben A, L und T vorgenommen wurden.

In den untersuchten Lexika findet man hauptsächlich Begriffe, Fachausdrücke, Fakten, Namen. Sie werden in der Regel knapp erläutert; tiefergehende Erörterungen fehlen nicht ganz, sind aber eher die Ausnahme. Auch die Theorieebene der facheigenen Konzepte, Paradigmen, Kategorien, Methoden wird nur selten einbezogen. Der Schwerpunkt der Bücher liegt eindeutig bei den Kurzdefinitionen und Sachinformationen. Diese können durchaus anspruchsvoll ausfallen, bleiben aber in der Regel eine gründ1iche Vertiefung schuldig. Das schränkt natürlich den Aussagewert unserer Befunde ein.

Versucht man sich zunächst einmal an einer pauschalen Klassifizierung der in den beiden Lexikongruppen begegnenden Stichwörter, so halten sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungefähr die Waage. In den historischen Werken findet man vergleichsweise viele Personen- (einschließlich der Dynastie-)Namen; trotz des Vordringens der Strukturgeschichte in der Geschichtswissenschaft scheint also die biografisch-personengeschichtliche Sichtweise nach wie vor ein erhebliches Gewicht zu haben. Gleichermaßen viel Raum nehmen die Einträge zu Orten, Ereignissen und längerfristigen Entwicklungen ein: Verträge, Aufstände, Schlachten, Kriege, Epochen. Dergleichen Artikel sind in den Politiklexika eher selten. Stattdessen begegnen hier viele termini technici (Änderungsantrag, Listenwahl), dazu auffallend viel Allgemeinbegriffe der heutigen Kultur- und Wissenschaftssprache (Ambivalenz, Loyalität). Das deckt sich mit der gängigen Gegenüberstellung: Faktenorientierung der Historiker, Systembezug der Politologen.

Wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, richten sich die Beiträge der Geschichtswörterbücher fast ausschließlich auf die Vergangenheit, die des Nachbarfaches vornehmlich auf die Gegenwart. Allerdings gehen die Politikbücher bei weitem häufiger auf zurückliegende Zeiten ein als die Geschichtsbücher auf die Gegenwart. Hier scheint sich eine Diskrepanz zu sonstigen Unterrichtsmaterialien und insbesondere wohl zur Unterrichtspraxis im Fach Geschichte aufzutun, in denen Gegenwartsbezug und Aktualisierung zu den didaktischen Selbstverständlichkeiten gehören (auch wenn Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen mögen und die Defizite in der Umsetzung nicht zu unterschätzen sind).

Schaut man auf die Sachaspekte, gibt es deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Beide Lexikontypen weisen ein ähnlich breites Angebot bei den Verfassungsordnungen und Regierungssystemen, den Ämtern und Institutionen, dem Rechtswesen und den Rechtskulturen, den Parteien und Verbänden, den Politikbereichen (von der Agrar- bis zur Tarifpolitik), den politisch-gesellschaftlichen Ideen und Bewegungen, dem Militär- und Kriegswesen, der internationalen Politik, den sozialen Gruppen und Schichten, den gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozessen und selbst bei den großen historischen Epochen auf. Sogar die Lücken sind gemeinsam: vor allem in der Umweltthematik und im Wissenschafts- und Bildungsbereich. Die Unterschiede sind dagegen ziemlich marginal: In den Politikbüchern ist häufiger von wirtschaftlichen und fiskalischen Zusammenhängen die Rede, in den Geschichtsbüchern von kirchlich-religiösen. Hier tauchen auch öfter Hinweise zu den Quellen auf, denen auf politologischer Seite kein Pendant gegenüber steht.

Die interessantesten Befunde ergeben sich beim Einzelvergleich: Wie gehen die beiden Fächergruppen mit ausgewählten identischen Begriffen um? Um den Gesamteindruck vorwegzunehmen: Die Geschichtslexika halten sich mehr an die konkreten, faktografisch festzumachenden Sachverhalte; die Politikwerke versuchen sich gern an Bestimmungen dessen, was man Wesensmerkmale nennen mag. Das ist alles andere als überraschend, sondern bestätigt die gängigen Topoi. Dabei darf man freilich den gegenläufigen Trend nicht übersehen: Den politologischen Darstellungen mangelt es keineswegs an Verweisen auf konkretes Historisch-Faktisches, den historischen nicht an Verallgemeinerungen und auf das Prinzipielle zielenden Definitionen.

Charakteristische Beispiele: Die Politiklexika handeln relativ ausgiebig von der "Toleranz" "als solcher", die historischen davon jedoch nur kurz und im Übrigen von der "Toleranzakte", dem "Toleranzedikt", dem "Toleranzgeld" und dem "Toleranzpatent", thematisieren also quasi die tatsächlichen Auswirkungen der Toleranzidee. "Adel" ist für die Historiker ein ausgesprochen ergiebiges Stichwort, bei dem sich gelebtes Leben eröffnet; die Politologen verlagern es auf "Aristokratie" und behandeln es unter der Rubrik "Herrschaftsformen". Bei dem Kennwort "Außenpolitik" bleiben die historischen Bücher stumm, während die Politikbücher hier aus dem Vollen schöpfen und sich ausführ1ich in Theorie- und Systematisierungsfragen ergehen. Mit aller Vorsicht mag man diese Beobachtungen verallgemeinern: Die viel berufene theoretische Wende der Geschichtswissenschaft in den Siebzigerjahren hat nicht zu einem Gleichziehen mit den Sozialwissenschaften geführt. Deren theoretisch-systematische, "nomothetische" Dimension ist ungleich stärker entwickelt und dichter besetzt, und die Historiker können (und wollen) damit nicht konkurrieren.

Das wiederholt sich auch auf dem Feld der Didaktik. Der Politikunterricht bietet vielfach übersichtliche Schemata und einprägsame Modelle an, an denen sich Denken, Lernen und Behalten gut orientieren können. Er bezahlt diese begriffliche Klarheit tendenziell mit einem gewissen Mangel an Lebensnähe, Anschaulichkeit, Vorstellbarkeit. Dem bunten Vielerlei, das der Geschichtsunterricht offeriert, fehlt es oft an Übersichtlichkeit und Einprägsamkeit, und die Lernenden tun sich mit der gedanklichen Durchdringung und Ordnung seiner Gegenstände schwerer. Dafür gewinnen sie die Vorzüge der Handgreiflichkeit und größeren inneren Nähe. Dem Erleben und damit auch den Emotionen und Identifikationsbedürfnissen wird mehr Raum gegeben.

Es entspricht den Erwartungen, dass die politischen Nachschlagewerke den aktuellen Entwicklungen näher stehen als die historischen. Das Altern der Gesellschaft oder ökologische Probleme werden dort stärker aufgegriffen als hier. Man kann den Unterschied gut am Stichwort "Technokratie" überprüfen. Die Historiker-Beiträge fallen ausgesprochen knapp aus, konzentrieren sich auf eine allgemeine Definition und lassen eine solide historische Füllung vermissen. Im vorteilhaften Gegensatz dazu bieten die Sozialwissenschaftler ausführliche Erörterungen des Für und Wider und sparen nicht mit kritischen Beurteilungen.

Mit dem Komplex "Tradition" wiederum vermögen die Historiker mehr anzufangen. Das leisten sie zum einen, indem sie Wesensmerkmale beschreiben, indem sie den historischen Diskurs zu diesem Thema nachzeichnen und wichtige Autoren vorstellen. Die Politologen belassen es bei ziemlich abstrakten Definitionen (wenn sie nicht das Stichwort ganz aussparen) und stellen einen Zusammenhang zum Konservatismus her. Eher in statistisch-analytischen Untersuchungsverfahren bewandert, werden sie bei diesem Thema nicht recht fündig, wohingegen die hermeneutischen Methoden der Historiker hier wesentlich besser greifen.

Ähnliche Eindrücke ergeben sich beim Stichwort "Aufklärung", das sowohl ein Epochenbegriff als auch eine zeitunabhängige Bezeichnung für einen intellektuellen Habitus ist. Beide Disziplinen entfalten den Begriff - von (sehr unterschiedlich ausfallenden) Allgemeindefinitionen ausgehend ("Freiheit von aller dogmatischen Vormundschaft", "geistige Bewegung des Bürgertums") - vornehmlich an den bekanntesten Autoren von Descartes bis Rousseau und den markantesten Vorgängen der politischen Geschichte zwischen 1688 und 1789. Den Politologen liegt dabei, mehr als den Historikern, die kritische Auseinandersetzung mit den Defiziten der Aufklärung am Herzen (festgemacht an Horkheimers/Adornos Kategorie der bloß "instrumentellen" Vernunft). Die Historiker belassen es lieber beim Selbstverständnis der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts. Dieser Unterschied ist nicht untypisch. Die Sozialwissenschaftler sind durchweg urteils- und wertungsfreudiger, während bei den Historikern offenbar immer noch das Verstehensparadigma dominiert.

Vielleicht etwas überraschender Weise findet sich beim Artikel "Absolutismus" vieles Gemeinsame. Historiker wie Politologen rekonstruieren mit weitgehend übereinstimmenden Schwerpunkten die wesentlichen Merkmale dieser Staatsform in ihren verschiedenen Politikbereichen. Differenzen lassen sich allenfalls insoweit erkennen, als die Historiker stärker auf jeweilige zeitliche und räumliche Ausprägungen abstellen (Früh-, Hoch- und Spätabsolutismus; Frankreich, Preußen, Österreich oder Russland) und die Sozialwissenschaftler gern eine Bilanzierung der Stärken und Schwächen des Systems vornehmen.

Dass der "Terrorismus" bei den Politikwissenschaftlern weit mehr Platz einnimmt als in der historischen Zunft, hängt natürlich damit zusammen, dass er ein eher junges Phänomen (mit dramatischer Steigerung in der Gegenwart) ist, so dass die Historie mit ihren Rückblenden in die Vergangenheit schnell zu Ende kommt. Interessanter Weise beziehen beide Disziplinen auch den "Staatsterrorismus" ein, die Sozialwissenschaftler stärker als die Historiker - vielleicht, weil ihr kritisch-emanzipatorisches Potenzial hier ein willkommenes Objekt findet. Die Historiker begnügen sich im Großen und Ganzen mit der mehr oder minder ausführlichen Erwähnung von Terrororganisationen (von den Jakobinern bis zur RAF), während die Sozialwissenschaftler bemüht sind, nicht nur die verschiedenen Erscheinungsformen des Terrorismus begrifflich sauber zu klassifizieren, sondern auch auf dessen gesellschaftliche Wurzeln und politischen Motive einzugehen. Insoweit könnte man von einem größeren analytischen Ehrgeiz sprechen - auch das eine Beobachtung, die eine behutsame Generalisierung verträgt.

Bei dem Großthema "Liberalismus" verschwimmt die Fachspezifik noch mehr. Das mag damit zu erklären sein, dass der Komplex tief in die Vergangenheit zurückreicht und voll in die Gegenwart hineinragt (wobei Übereinstimmung darin besteht, dass der Liberalismus an sein Ende gekommen sei). In beiden Lexikongruppen begegnet man einer Dreiteilung: Hauptanliegen - Ideengeschichte - Parteiengeschichte. Die bekannten unterschiedlichen Nuancen fehlen natürlich nicht: hier der Hang zum Konkreten, dort die Vorliebe für eine eher abstrakte Systematik.

Das Fazit wurde schon mehrmals präludiert, es kann kurz ausfallen: Die Gemeinsamkeiten zwischen den Disziplinen sind entschieden größer als die Differenzen. Diese treten mehr in leichten Abstufungen als in massiven Gegensätzen zutage. Die historischen Lexika halten sich stärker an das Konkret-Vorstellbare, das Individuelle, das Faktografische, das Kontingente, die Dimension der Vergangenheit, die hermeneutische Herangehensweise. Die politologischen Werke favorisieren das Systematische und Abstrakte, das Generelle und Prinzipielle, das Sach- und Werturteil, die Aktualität und die Prognose, die Problemlösungs- und Handlungsperspektive, die kritisch-analytische Methode. Zwischen beiden Fächern gibt es zahlreiche gleitende Übergänge; jedes bedient sich mannigfacher Anleihen beim Nachbarn.

Im Ganzen scheint der Blick in die Lexika (die die Schätze der Wissenschaft in kleiner Münze zu verteilen suchen) den allgemeinen wissenschaftstheoretischen und fachdidaktischen Diskussionsstand zu bestätigen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Politik- und dem Geschichtsunterricht drängt sich auf, weil sowohl die Inhalte als auch die Methoden der Fächer teilweise bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren. Die Zusammenarbeit stößt jedoch da an ihre Grenzen, wo die facheigenen Spezifika ihr Recht verlangen. So wenig sich Historiker und Politologen gegeneinander abschotten dürfen, so schlecht wären sie beraten, wollten sie nicht an den unverwechsel- und unaustauschbaren Paradigmen ihrer Disziplinen festhalten. Jedes der Fächer verfügt über Kompetenzen und Erkenntnismöglichkeiten, die es nicht mit anderen teilt.