Dass politische Bildung nicht ohne Geschichte auskommt, wird besonders evident an dem Ineinander von geschichtlichem und politischem Bewusstsein. So wie Politikunterricht seine Gegenstände nicht hinlänglich verständlich machen kann, wenn er ihre Geschichtlichkeit nicht beachtet, so missversteht Geschichtsunterricht seine Aufgabe, wenn er der Illusion erliegt, Vergangenheit könne objektiv abgebildet und vermittelt werden. Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht, Zeitdeutungen und politisches Wollen sind immer ineinander verwoben, wenngleich Historie insoweit der Objektivität verpflichtet ist, als ihre Aussagen methodisch kontrolliert und nachvollziehbar sein sollen. Ihr Frageinteresse ist immer das der jeweiligen Gegenwart. Wir haben es also mit einem dialektischen Verhältnis zu tun.

Einerseits stellt Geschichte ein Reservoir bisheriger politischer Erfahrungen dar und wird als solches bewusst oder unbewusst immer auch politisch genutzt. Gesellschaftliche Strukturen, politische Institutionen, Deutungs- und Handlungsmuster sind geschichtlich bedingt. Gerade deshalb darf politische Bildung Geschichte nicht zum "Steinbruch" degradieren und politisch instrumentalisieren. Sie muss vielmehr durch Reflexion der Geschichtlichkeit politischer Phänomene Distanz ermöglichen. Das Verstehenspotential der Geschichte wird für politische Bildung erst fruchtbar, wenn Geschichte auch in ihrem Kontrastcharakter zur Gegenwart wahrgenommen und Historie als wissenschaftlich geleitete Aufklärung unserer Herkunft ernst genommen wird.

Andererseits war und ist Geschichtsunterricht immer auch ein politisch relevantes Fach. Seit dem 19. Jahrhundert war er in unterschiedlichen, phasenweise auch in extremen Formen, das Leitfach staatsbürgerlicher Erziehung. Gegen seine politische Vereinnahmung braucht er wissenschaftlich und didaktisch begründete Distanz. Aber er entkommt damit nicht dem Zirkel gegenseitiger Abhängigkeit von Gegenwarts- und Geschichtsbewusstsein. Seine Fragen stammen aus gegenwärtigem Erkenntnisinteresse. Wir wollen uns und unsere heutige Welt aus der Geschichte verstehen.

Deshalb hat die Geschichtsdidaktik seit längerem das Phänomen des Geschichtsbewusstseins in das Zentrum ihrer Überlegungen gerückt und versteht sich als Wissenschaft von Inhalt und Struktur, von Faktoren und Beeinflussungsmöglichkeiten diese Bewusstseins (2). Dieser Ansatz ermöglicht am ehesten auch eine konsensfähige Verbindung zur Didaktik politischer Bildung. Er vermeidet nämlich die Einseitigkeiten traditionalistischer wie progressistischer Konzepte.

Der didaktische Ansatz beim Geschichtsbewusstsein setzt voraus, dass Geschichte mehr und etwas anderes ist als Vergangenheit. Sie ist die in unserer Erinnerung und in unseren Vorstellungen wirksame Gegenwart von Vergangenheit. Unsere Bilder von Vergangenheit beeinflussen unser Verständnis von Gegenwart und unser Zukunftswollen. Deshalb müssen wir aber unter dem Aspekt der Aufgaben politischer Bildung den Gegenstand der Geschichtsdidaktik, das Geschichtsbewusstsein, erweitern und von geschichtlich-politischem Bewusstsein sprechen.

Unsere politischen Vorstellungen von gegenwärtigen Konflikten und Problemen, unsere Intentionen und Wünsche zu ihrer Lösung sind mit Geschichtsbildern und -deutungen eng verflochten. Geschichtsdeutungen beeinflussen politisches Meinen und Wollen, dieses bedient sich seinerseits zugleich der Geschichte als eines Arsenals zu politischer Argumentation und Legitimation. Das gilt individuell, vor allem aber sozial. Großgruppen und politische Verbände leben von und mit Geschichtsbildern. Sie suchen Identität in Aneignung von Vergangenheit, die sie deuten und zugleich als gegenwärtig wirksam erfahren. In allen politischen Auseinandersetzungen ist Geschichte mit im Spiel.

Geschichts- und Politikunterricht haben das nicht zu bestätigen und zu bestärken, sondern zum Gegenstand methodisch geleiteter Bearbeitung mit dem Instrumentarium ihrer je eigenen Bezugswissenschaften zu machen. Daraus ergibt sich für das Verhältnis historischer und politischer Bildung:

  • Politische Bildung braucht einen eigenständigen Politikunterricht. Dieser zielt auf die Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit durch die Analyse politischer Themen (Gegenwartsprobleme/Konflikte) mit Hilfe politikdidaktisch begründeter Frageweisen/Kategorien und Modelle. Geschichtlichkeit ist eine seiner Grundkategorien.
  • Politische Bildung braucht auch einen eigenständigen Geschichtsunterricht. Dieser zielt auf die Entwicklung historischen Verstehens und auf die Aufklärung unseres geschichtlich-politischen Bewusstseins durch historische Ortsbestimmung der Gegenwart. Diese Aufgabe kann nicht im Politikunterricht gleichsam nebenher mit Hilfe seiner Kategorie der Geschichtlichkeit geleistet werden. Dieser "Sehschlitz" ist zu eng.

Man kann dieses Plädoyer für die zwei Pfeiler politischer Bildung auch so begründen: Geschichtlichkeit ist nicht eine Kategorie neben anderen zum Verständnis des Politischen. Auch diese sind vielmehr von ihr durchdrungen. Die heute wirksamen Interessen und ihre Interpretationen, die Ideologien und die sozialen Strukturen, das Recht und die Institutionen, die Machtverhältnisse und schließlich unsere normativen Vorstellungen von Legitimität, von Menschenrechten, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sind allesamt geschichtlich geworden und bedürfen deshalb um politischer Bildung willen historischen Verstehens. Dieses kann der Politikunterricht mit seinen Mitteln nicht hinlänglich vermitteln; ganz abgesehen davon, dass es auch noch ganz andere legitime Aspekte und Interessen gibt, sich mit Geschichte zu befassen, literarische und künstlerische, philosophische und religiöse. Geschichtsunterricht ist für politische Bildung unentbehrlich, aber es ist Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft, ihn nicht nur auf diese zu beziehen.