Hochschulrektorenkonferenz/ Michael Ley: Übergang Schule - Hochschule. Klassifikation von Initiativen zur Förderung des naturwissenschaftlichen Nachwuchses.

In den vergangenen Jahren sind in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Initiativen entstanden, die darauf abzielen, Schülerinnen und Schülern ein möglichst authentisches Bild von den Aufgaben und Arbeitsweisen der modernen Naturwissenschaften zu vermitteln und das Interesse an einer systematischen Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben zu fördern. Im Auftrag der Hochschulrektorenkonferenz und der Kultusministerkonferenz wurde zu dieser Thematik eine Studie erstellt, in der die verschiedenen Entwicklungen in diesem Bereich nach strukturellen Gesichtspunkten geordnet werden. (2)

Das Ziel der Studie besteht darin, typische Modellvarianten zu identifizieren, die im Bereich der Nachwuchsförderung angetroffen werden können. Ausdrücklich wird in der Untersuchung darauf verzichtet, eine möglichst umfassende Bestandsaufnahme sämtlicher Initiativen vorzunehmen, die heute im Bereich der Bildungswerbung angetroffen werden können. Statt dessen wird ein Ordnungssystem entwickelt, das einen Vergleich der unterschiedlichen Initiativen erleichtert sowie Entwicklungsmöglichkeiten kennzeichnet, die das Gebiet der Nachwuchsförderung im Ganzen betreffen.

Auf der Grundlage einer Erhebung, bei der insgesamt 120 Projekte an Hochschulen und Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt wurden, konnten 22 Projekttypen unterschieden werden, die in der Dokumentation zu 6 verschiedenen Projektgruppen zusammengefasst werden. Die verschiedenen Projekttypen sowie die übergeordneten Projektgruppen werden in der Studie ausführlich gekennzeichnet und an einzelnen, besonders prägnanten Beispielen veranschaulicht.

Als Anhaltspunkt für die Klassifizierung der verschiedenen Projektformen gilt dabei die Überlegung, dass die einzelnen Initiativen jeweils bestimmte Entwicklungsaufgaben im Übergang Schule-Hochschule berücksichtigen. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Maßnahmen zur Nachwuchsförderung auf einer Linie anordnen, die von ersten Informations- und Orientierungsangeboten über die Einbindung in länger andauernde Arbeits- und Werkgemeinschaften bis hin zu einer Stabilisierung der einzelnen Initiativen im Rahmen übergreifender Organisationsstrukturen reicht:

  • So lassen sich unter dem Stichwort "Hochschule für Schüler" eine Reihe von Initiativen zusammenfassen, in denen Schülerinnen und Schülern Gelegenheit gegeben wird, sich eine erste Übersicht über die Studienmöglichkeiten an einer bestimmten Hochschule zu verschaffen, die Wahl zwischen Beruf oder Studium überhaupt erst zu thematisieren oder bereits getroffene Studienentscheidungen noch einmal zu überprüfen. Mit Formen eines so genannten Schnupperstudiums, mit speziell eingerichteten Fach- und Fakultätstagen, mit Veranstaltungen der Sommeruniversität oder mit besonderen Vorträgen für Schüler besitzen die Hochschulen ein Repertoire von Informations- und Orientierungsmöglichkeiten, die in besonderer Weise dazu geeignet sind, erste Zugänge zu den anschaulichen und alltagsnahen Seiten des Wissenschaftsbetriebes herzustellen.
  • Unter der Bezeichnung "Mobile Hochschule" werden in einer weiteren Gruppe Initiativen beschrieben, in denen die Hochschulen auch im physischen Sinne stärker auf die Schüler "zugehen". Gastvorträge für Schüler, Mobile Laboratorien, Science-Mobile sowie Mobile Ausstellungsprojekte kennzeichnen in dieser Gruppe spezielle Projektformen, bei denen sich Professoren, Dozenten, einzelne Fachbereiche oder sogar die Hochschule im Ganzen für einige Zeit in den Alltag der Schule begeben, um hier für die Leistungen der modernen Naturwissenschaften zu werben. In struktureller Hinsicht kommen dabei zugleich Züge zum Ausdruck, die um die 'Visionen' und die 'Utopien' des wissenschaftlichen Denkens zentriert sind.
  • In der dritten Gruppe werden unter dem Stichwort "Werkgemeinschaften" solche Projekte aufgeführt, bei denen die Beteiligung an langfristig angelegten Arbeitsprozessen im Vordergrund steht. Im Rahmen von Schüler-Experimentiertagen, Schüler-Praktika, Schüler-Arbeitsgemeinschaften und Schüler-Workshops werden spezifische Einübungsprozesse in die unterschiedlichen Formen des wissenschaftlichen Fragens und Denkens in Gang gesetzt, die den Schülerinnen und Schülern ausdrücklich die Möglichkeit zu selbstständig durchgeführten 'Experimenten' bieten sollen. Da dabei zugleich Formen des Lehrens und Lernens betont werden, die in den Schulen heute eher vernachlässigt werden, bieten die Initiativen dieser Gruppe wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung einer neuen Lehr- und Lernkultur, die geeignet sein könnte, auf positive Weise auf die Unterrichtspraxis in den Schulen zurückzuwirken.
  • Unter der Bezeichnung "Besondere Zielgruppen" werden in einer vierten Gruppe Initiativen aufgeführt, die sich mit der Förderung von Kindern und Mädchen und Frauen sowie von wissenschaftlichen Hochbegabungen befassen. Sie beziehen sich vor allem auf die Aufgabe, die verschiedenen Tätigkeiten im Bereich von Naturwissenschaft und Technik auf die speziellen Voraussetzungen lebensgeschichtlich gewordener Entwicklungen zu beziehen und das Engagement in diesem Bereich als eine 'biografische Unternehmung' zu begreifen.
  • In der fünften Gruppe werden "Kooperationsformen zwischen Schule und Hochschule" beschrieben, in denen es um die institutionelle Absicherung der bisher beschriebenen Projektformen geht. Typische Ansätze dieser Gruppe haben mit der Entwicklung von Netzwerken, von Mentoren- und Tutorensystemen, von Verbundprojekten zwischen Schule und Hochschule sowie von Kooperationsformen im Bereich der Lehrerbildung zu tun. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, unter welchen Bedingungen sich eine nachhaltige Wirkung der einzelnen Maßnahmen zur Nachwuchsförderung erreichen lässt, kommt den Initiativen dieser Gruppe eine besondere Bedeutung zu.
  • Schließlich werden in einer letzten Gruppe unter dem Stichwort "Medienprojekte" Initiativen aufgeführt, bei denen die Entwicklung neuer Formen der Mediennutzung im Zentrum steht. Typische Projektformen dieser Gruppe stützen sich entweder auf Möglichkeiten im Bereich der traditionellen Medien oder auf solche im Bereich der neuen Medien. Eine Sonderform bildet die Verwendung von Experimentier-Sets.

Wie die Beschreibung der einzelnen Projekttypen zeigt, handelt es sich bei den verschiedenen Initiativen keinesfalls nur um isolierte Maßnahmen zur Nachwuchsrekrutierung. In struktureller Hinsicht erschließen die verschiedenen Projekte vielmehr umfassende und komplette Umgangsformen mit den Aufgaben des wissenschaftlichen Fragens und Denkens, die sich insbesondere an alltagsnahen und anschaulichen Gesichtspunkten orientieren, die verstärkt Möglichkeiten des Ausprobierens und Selbermachens einräumen und die nicht zuletzt von einem besonderen Interesse an den ästhetischen Seiten der wissenschaftlichen Systembildung geleitet werden.

Weil damit zugleich Zugänge zu einem realistischeren oder 'authentischeren' Bild von Wissenschaft eröffnet werden, als es an Schulen und Hochschulen heute immer noch gebräuchlich ist, verdienen die in der Studie beschriebenen Projektansätze eine möglichst breite finanzielle und personelle Unterstützung. Gleichzeitig lassen sich auf der Grundlage der Untersuchung konkrete Gestaltungskriterien benennen, die bei einem künftigen Ausbau der Initiativen berücksichtigt werden müssten:

  • So empfiehlt sich die Profilierung eines umfassenden Entwicklungsprogramms, bei dem an den einzelnen Hochschulstandorten nicht lediglich isolierte Maßnahmen, sondern unterschiedliche Initiativen aus verschiedenen Projektgruppen aufgelegt werden sollten, die inhaltlich und strukturell aufeinander bezogen und durch eine einheitliche Gesamtstrategie zusammengehalten werden sollten.
  • Darüber hinaus sollten die Angebote zur Nachwuchsförderung noch stärker als bisher mit der Arbeit an den Schulen verknüpft werden. Die einzelnen Projektformen sollten als komplementäre Angebote zu den Aufgaben der Schule und des Unterrichtens verstanden werden und sowohl inhaltlich als auch organisatorisch in die Rahmenbedingungen der unterschiedlichen Fachcurricula eingebunden werden.
  • In einem weiteren Punkt wird eine möglichst frühe Ansprache der Schülerinnen und Schüler empfohlen. Die Angebote der Nachwuchsförderung sollten nicht wie bisher hauptsächlich auf Schüler der gymnasialen Oberstufe ausgelegt werden, sondern am besten bereits für Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter zugeschnitten werden und danach sämtliche Altersstufen mit speziell ausgearbeiteten Curricula begleiten.
  • Insbesondere für eine dauerhafte und nachhaltige Wirkung der einzelnen Fördermaßnahmen erscheint die Entwicklung tragfähiger Organisationsstrukturen unverzichtbar. Daher sind künftig vor allem solche Ansätze zu fördern, bei denen die inhaltliche Ansprache der Schülerinnen und Schüler durch den Aufbau regionaler Netzwerke oder die Organisation von Tutoren- und Mentorensystemen unterstützt wird.
  • Eine große, aber bisher leider erst wenig genutzte Chance bietet sich durch die Integration der Projekte in die Lehrerbildung. Die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern bildet die entscheidende Nahtstelle für eine zukunftsfähige Kooperation zwischen Schule und Hochschule. Vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen, die insbesondere mit der Beteiligung von Lehramtsstudierenden an der Gestaltung und Durchführung der einzelnen Projektformen gemacht werden konnten, spricht nichts dagegen, ausgewählte Angebote der Nachwuchsförderung in Zukunft zu einem verpflichtenden Bestandteil des Lehramtsstudium zu machen.
  • Da sich die Angebote zur Nachwuchsförderung in einem neuartigen und bisher wenig erforschten Bereich der Bildungslandschaft bewegen, da dieser Bereich jedoch zugleich erhebliche Potenziale für eine nachhaltige Reform des gesamten Bildungswesens besitzt, empfiehlt sich eine Unterstützung durch gut entwickelte Forschungsprogramme, mit denen diese Potenziale gesichtet und für eine Erneuerung traditioneller Lehr- und Lernformen genutzt werden könnten.

Es ist sicher nicht zu erwarten, dass die in der Studie beschriebenen Initiativen sämtliche Schwierigkeiten lösen können, mit denen die Schulen und Hochschulen heute zu kämpfen haben. Sie widersprechen jedoch dem verbreiteten Vorurteil, die Bildungslandschaft innerhalb der Bundesrepublik Deutschland bewege sich auf eingefahrenen Gleisen. Statt dessen zeigt sich, dass im Rahmen der Nachwuchsförderung eine Bewegung in Gang gekommen ist, in der Ansätze zu einem grundlegend anderen Verständnis von Wissenschaft und Unterricht enthalten sind. Wenn unsere Kultur diese Ansätze nicht ungenutzt lassen will, kommt sie nicht daran vorbei, die neu entstandenen Entwicklungen im Bereich der Bildungswerbung entschieden und dauerhaft zu unterstützen.

Anmerkung

1) Auszug aus einer Veröffentlichung der Ergebnisse einer im Auftrag von Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz erstellten Studie.

2) Die gesamte Studie ist unter der Adresse www.hrk.de im Netz abrufbar. In der Netzversion sind sämtliche Mail- und Internetadressen der im Anhang der Studie aufgeführten Initiativen als aktive Schaltleisten repräsentiert.