[/S. 107:] Wir leben in einer dynamischen Zeit. Die Veränderungen im Bereich der Berufs- und Arbeitswelt in den letzten Jahren sind mit Begriffen wie z. B. Kundenorientierung, Reorganisation der Wertschöpfungsprozesse und Globalisierung vielfältig beschrieben worden. Organisationsentwicklung und Veränderungen der Arbeitsabläufe, die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien haben das Arbeitsleben verändert, aus Arbeitnehmern sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit erweiterten Kompetenzen und neuer Verantwortung geworden. Unternehmen werden zu lernenden Unternehmen, schnelles Lernen aus Veränderungen ist Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmenskonzepte und die Gestaltung der Märkte und - falls erforderlich - schnelle Anpassung an die Märkte.
Mit der Veränderung der Berufs- und Arbeitswelt verändern sich auch die Fragestellungen und Problemlagen jungen Menschen am Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt. Die Schulen antworten auf die veränderten Bedingungen und erweitern ihre Berufsorientierungskonzepte. Sie antworten auf Veränderungen und nutzen die mit den neuen Möglichkeiten gegebenen Chancen für die Bildungsprozesse der Schülerinnen und Schüler.
Die Bundesanstalt für Arbeit identifiziert sieben dominante Trends für die Zukunft der Erwerbsarbeit (vgl. Schober 2001). Mit diesen Trends wird ein Bezugssystem beschrieben, das meines Erachtens für die Weiterentwicklung der curricularen Rahmenbedingungen einer schulischen Berufsorientierung richtungsweisend ist. Diese Trends sollen hier kurz benannt werden.
Informatisierung: Bereits heute benutzen mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen programmgesteuerte Arbeitsmittel und erstellen, sammeln und verarbeiten Informationen mit Computern. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Für immer mehr Arbeitsplätze werden Kenntnisse und Fähigkeiten im [/S. 108:] Einsatz der modernen Kommunikationsmittel erforderlich. Berufsorientierung wird künftig noch mehr als heute auch einen Beitrag dafür leisten müssen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Medienkompetenz weiterentwickeln.
Globalisierung: Arbeitsorte und Arbeitsbedingungen sind nicht mehr regional bestimmt. Mit der Globalisierung verändern sich die Konkurrenzsituationen und die Zumutbarkeiten an regionale Mobilität. Fremdsprachenkompetenzen, kulturelle Kompetenzen und Mobilität gewinnen im Berufsleben an Bedeutung. Berufsorientierung wird auch dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen entwickeln können, um unter den Bedingungen der Globalisierung ihre beruflichen Wege gestalten zu können.
Entkoppelung: Erwerbsarbeit und Normalarbeitsverhältnisse, Berufsausbildung sowie soziale Sicherung werden entkoppelt. Die Wirtschaft wird die Berufsausbildung und Weiterbildung zunehmend vor allem für die Kernbelegschaft übernehmen. Die Aus- und Weiterbildung der Randbelegschaften oder der im Rahmen von Projekten eingebundenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird für viele Unternehmen nicht mehr erforderlich sein, wenn am Arbeitsmarkt qualifizierte Kräfte zur Verfügung stehen. Die künftig Beschäftigten müssen zunehmend bereit sein, ihre Weiterbildung eigenverantwortlich zu gestalten. Der Auftrag der Berufsorientierung umfasst damit auch die Entwicklung der Fähigkeit, die individuelle Bildungsbiografie zu gestalten.
Erwerbsformen: Verbunden mit der Entkoppelung entstehen neue Erwerbsformen. Selbstständigkeit, Projektarbeit, Telearbeit, Leiharbeit kennzeichnen die neuen Erwerbsformen, deren Verbreitung mit weiteren Deregulierungen am Arbeitsmarkt zunehmen wird. Die Erwerbstätigen müssen in größerem Maße zu Unternehmern der eigenen Arbeitskraft, zu den Managern der eigenen Potenziale werden. Berufsorientierung hat damit auch die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Potenziale bewusst wahrzunehmen, zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Sie muss dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Fähigkeiten und Kompetenzen entsprechende Berufswege zielorientiert gestalten können.
Entstandardisierung von Berufsbiografien: Berufsnormalbiografien, d. h. die früher typischen Wege von der Schule in eine Berufsausbildung und anschließende Berufstätigkeit in diesem Beruf bis zur Rente, werden seltener. Unterschiedliche Tätigkeiten und unterschiedlich lange Zeitabschnitte der einzelnen Phasen werden die Berufsbiografie bestimmen. Nicht immer frei gewählt werden Arbeiten, Lernen, Freizeit und Eigenarbeit sich abwechseln. Veränderungen werden nicht automatisch als Scheitern interpretiert, Um- und Quereinsteigen werden Teile der neuen "Normalbiografien" [/S. 109:] werden. Bereits am Eintritt in die Berufswelt verläuft der Weg nicht mehr typisch geradlinig. Der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung erweist sich als zunehmend verzweigter: vorher noch eine weitere schulische Ausbildung oder erst mal jobben, ein Praktikum oder ein Auslandsaufenthalt, dann vielleicht erst studieren. Berufsorientierung muss Schülerinnen und Schüler unterstützen, auch angesichts der verschiedenen Möglichkeiten schon beim Einstieg in die Berufswelt entscheidungsfähig zu sein, berufliche Orientierung als permanente Aufgabe wahrzunehmen und Veränderungen nicht zwangsläufig als Brüche zu verstehen. Berufsorientierung trägt zur Stärkung der Persönlichkeit bei.
Entberuflichung: In Anzeigen am Arbeitsmarkt wird der Trend deutlich sichtbar. Die Anzeigen nicht nur für neue Berufe oder besonders außerordentliche Beschäftigungen enthalten heute oftmals wenig Hinweise auf formale Qualifikationen und Abschlüsse. Der Beruf behält nur für einen Teil der Erwerbstätigen und einen Teil der Arbeitsplätze seine Bedeutung. Für die Berufsorientierung verändert sich damit das Zentrum der Orientierung.
Qualifizierung: Die Anforderungen in der Berufsausbildung sind in den letzten Jahren quer durch alle Berufe gestiegen, der Trend zur Höherqualifizierung, verbunden mit der Bereitschaft und Fähigkeit, das fachliche Wissen ständig zu aktualisieren, ist nach wie vor zu beobachten und schließt extrafunktionale Qualifikationen wie die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen ein. Berufsorientierung muss dazu beitragen, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf diese Aufgaben vorbereiten und das eigene Lernen in unterschiedlichen Kontexten organisieren und professionalisieren können.
Die Trends beschreiben Veränderungen in der Arbeitswelt und kennzeichnen, was Berufsorientierung leisten muss. Sie verdeutlichen, dass die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler beim Übergang von der Schule in die Berufswelt differenzierter werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich heute beim Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt angesichts der Unvorhersehbarkeiten und Unübersichtlichkeiten orientieren und stabilisieren. Die meisten Jugendlichen, die heute eine Ausbildung beginnen, werden im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit den Beruf wechseln und in verschiedenen Beschäftigungsformen tätig sein.
Welche Kompetenzen müssen die Jugendlichen erwerben, damit sie sich unter diesen Bedingungen in der Berufswelt orientieren und ihre Potenziale und Fähigkeiten entfalten können? Welche Kompetenzen müssen sie bereits in der Schule erwerben bzw. welche Fähigkeiten müssen sie als Voraussetzungen für das Weiterlernen außerhalb und nach der Schule erwerben, damit sie die eigene Berufsbiografie erfolgreich aufbauen und gestalten können? [/S. 110:]