Ein weiterer Lösungsansatz, um das Ziel einer breiten Grundausbildung dennoch durchzusetzen, wurde in der Einführung schulischer Berufsgrundbildungsjahre und parallel dazu in der verstärkten Übernahme von Ausbildungsinhalten durch die Berufsschule gesehen. Für die Bundesregierung hatte die Einführung des schulischen Berufsgrundbildungsjahres im Zusammenhang mit der beabsichtigten Reform der beruflichen Bildung eine hohe Priorität. Übergeordnete Reformziele waren: Chancengleichheit, mehr berufliche Mobilität, größere Durchlässigkeit des Bildungssystems, Integration allgemeiner und beruflicher Bildung. Für das BGJ wurden folgende Leitziele abgeleitet:

  • Entspezialisierung der Ausbildungsinhalte,
  • Verstärkung der theoretischen Grundkenntnisse,
  • stärkere Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen von Jugendlichen und
  • Vorbereitung einer begründeten Berufswahlentscheidung.

Über diese Ziele bestand bei allen "reformwilligen" Gruppen Übereinstimmung. Vom Konzept her wurde als Vorteil des schulischen Berufsgrundbildungsjahres gesehen, eine Reform der Inhalte der Berufsausbildung mit einer Reform der institutionellen Voraussetzungen (Lernorte) zu verbinden: Das BGJ sollte als 11. Bildungsjahr für alle Jugendlichen, die eine Berufsausbildung beginnen, obligatorisch sein. Um eine breite Grundbildung auf Berufsfeldbreite zu ermöglichen, sollte das BGJ grundsätzlich von der Produktion getrennt durchgeführt werden. Von der inhaltlichen Gestaltung her sollte der didaktische Zusammenhang von vorberuflicher Bildung und anschließender beruflicher Fachbildung beachtet werden.

Aufgrund der getrennten Zuständigkeit für allgemeine und berufliche Bildung in Deutschland beschränkte sich die Zuständigkeit des Bundes auf die Möglichkeit, durch den Bundesminister für Wirtschaft die Anrechnung des BGJ`s auf die Dauer der beruflichen Erstausbildung zu verfügen.

Diese Anrechnungsverordnung wurde 1972 erlassen, und bald darauf zeigten sich auch die Schwächen und Probleme des Reformkonzeptes BGJ, die von den negativen Entwicklungen in der Praxis noch übertroffen wurden:

Da sich die Unternehmer weigerten, den Besuch des schulischen BGJ`s auf die Berufsausbildung anzurechnen, wurde es zum Aufbewahrungsort für Jugendliche, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten konnten. Es wurde zur "Restschule" und erhielt bundesweit ein negatives Image und damit den Charakter einer Notlösung.

Daran konnten die Unternehmerverbände mit ihrer Ablehnung des schulischen BGJ`s anknüpfen. 1975 forderten die Spitzenverbände der Wirtschaft vom Bundeskanzler die Aufhebung der Anrechnungsverordnung. Wegen des Widerstandes der Gewerkschaften und des Einspruches des Bundesausschusses für Berufsbildung blieb die Forderung zunächst erfolglos.

Allerdings wurde dem Willen der Unternehmerverbände dadurch Rechnung getragen, dass in die offiziellen Plandaten der Bund-Länder-Kommission der gleichberechtigte Ausbau eines kooperativen Berufsgrundbildungsjahres (das heißt in den Betrieben) mit dem schulischen BGJ aufgenommen wurde. Die erneute Überantwortung der beruflichen Grundbildung an den Betrieb waren erste Abstriche an den Reformanspruch des Berufsgrundbildungsjahres.

Parallel dazu wurde die bildungspolitische Begründung der Einführung des schulischen BGJ`s zunehmend arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Erfordernissen untergeordnet. Auf das unzureichende betriebliche Ausbildungsangebot der Betriebe reagierte der Staat mit einer Ausweitung schulischer Angebote speziell für diejenigen Jugendlichen der geburtenstarken Jahrgänge, die aufgrund der Marktlage keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden konnten. Vorangetrieben wurde vor allem der Ausbau von Sonderformen des Berufsgrundbildungsjahres. Diese Sonderformen waren von der Verpflichtung zur Anrechnung auf ein Ausbildungsverhältnis ausgenommen.

Und ihr Besuch galt in vielen Ländern als ausreichende Voraussetzung zur Aufhebung der Berufsschulpflicht. Die Abwertung des Berufsgrundbildungsjahres - ob in schulischer oder kooperativer Form - zur einjährigen Anlernmaßnahme war damit vollzogen.

Vor diesem Hintergrund bedeutete der Ausbau des schulischen BGJ`s eine neue Form der Stufenausbildung. Nach Meinung der Gewerkschaften wurde der Verzicht auf den mit dem BGJ verbundenen Reformanspruch, mit der Änderung der Anrechnungsverordnung Ende der siebziger Jahre besiegelt. Mit ihr wurde die Fachpraxis zu Lasten der allgemein bildenden Inhalte erhöht, im zweiten Halbjahr wurden Schwerpunkte eingerichtet, so dass nur noch ein halbes Jahr lang auf Berufsfeldbreite ausgebildet werden musste. Bei zweijährigen Berufen brauchte der Besuch des BGJ`s überhaupt nicht mehr und in zahlenmäßig stark besetzten Berufen des Handwerks nur noch mit einem halben Jahr angerechnet werden. Außerdem konnten BGJ-Absolventen ohne einen anschließenden Ausbildungsvertrag von der Berufsschulpflicht befreit werden.

In der Praxis konnte also von breiter Grundbildung und Verbesserung der Berufswahlmöglichkeiten keine Rede mehr sein. Unter dem Druck des Ausbildungsstellenmangels wurden ursprüngliche Reformziele des schulischen BGJ`s den Bedingungen der Unternehmerverbände untergeordnet. Materielle Nachteile für BGJ-Schüler kamen hinzu, da diese auf die Ausbildungsvergütung im ersten Jahr verzichtet mussten. Somit wurden lediglich die Unternehmer von den Kosten der Ausbildung im ersten Jahr entlastet, während die Inhalte des ersten Ausbildungsjahres verstärkt an den betrieblichen Interessen nach Spezialisierung ausgerichtet wurden.

Vor diesem Hintergrund lehnten die Delegierten des Gewerkschaftstages der IG Metall im Jahr 1980 den weiteren Ausbau des flächendeckenden schulischen BGJ`s ab.

Die Zielvorstellung einer breiten Grundausbildung wurde jedoch bei der Neuordnung der Metallberufe in den darauf folgenden Jahren von der IG Metall verstärkt in den Vordergrund gestellt.