Zukunftswerkstatt

Peter Weinbrenner

Die ZW ist eine Zusammenkunft von Menschen, die in Sorge um die Zukunft der Erde und das Überleben der Menschheit bemüht sind, wünschbare, aber auch vorläufig unmögliche Zukünfte zu entwerfen und deren Durchsetzungsmöglichkeiten zu überprüfen. Sie ist eine soziale Problemlösungsmethode zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Entwicklung von Visionen und Innovationen für eine "zukunftsfähige" Gesellschaftsgestaltung. Die Idee der Zukunftswerkstatt ist schon etwa 20 Jahre alt. Ihre Wurzeln liegen in der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre mit ihrem generellen Ziel einer Demokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche, in den vielfältigen Bürgerinitiativen, in der Friedensbewegung, kurz: in den "Neuen sozialen Bewegungen". Zukunftswerkstätten entstehen überall dort, wo Menschen mit den etablierten Institutionen, technischen Apparaten und Expertensystemen sowie den natur- und umweltzerstörenden Produktions- und Konsumformen nicht mehr einverstanden sind und nach Alternativen suchen. Die Idee der Zukunftswerkstatt ist untrennbar verbunden mit der Person von Robert Jungk, dem bekannten Zukunftsforscher, Friedenskämpfer und Humanisten, der seine ganze Lebensarbeit in den Dienst einer menschengemäßen, sozial- und umweltverträglichen Zukunftsgestaltung gestellt hat (vgl. Jungk 1969, 1983). Jungk war in Deutschland der prominenteste Vertreter einer neuen Zukunftsforschung, die sich nicht mehr an den Verheißungen einer auf Wachstum und technischen Fortschritt programmierten Industriegesellschaft orientiert, sondern eine sozialkritische, humanistische, basisdemokratische und ökologisch orientierte Zukunftsgestaltung propagiert. Aus seiner Sicht "ist die Zukunft nicht länger durch Wachstum und Reichtum, sondern durch zunehmende Verknappung und Armut gekennzeichnet. Nicht Herrschaft, sondern Verantwortung ist die wichtigste Aufgabe, nicht Entwicklung der Maschinen, sondern Bewahrung und Förderung der Menschen, die wie die natürliche Umwelt vom blinden Fortschritt bedroht sind" (Jungk/Müllert 1989, S. 24f.).

Die Ziele und Merkmale von Zukunftswerkstätten können wie folgt bestimmt werden:

    Zukunftswerkstätten sind basisdemokratisch, d. h. sie verstehen sich als "Demokratisierungsinstrument", als Plattform, von der aus eine maßgebliche Bürgerbeteiligung an der Ausgestaltung des Kommenden möglich wird.
  • Zukunftswerkstätten sind integrativ, d. h. sie versuchen eine Aufhebung des Gegensatzes von Experten und Laien, Herrschenden und Beherrschten, Wissenden und Unwissenden, Planern und Verplanten sowie Aktiven und Passiven.
  • Zukunftswerkstätten sind ganzheitlich, d. h. sie versuchen eine Integration von Selbst- und Gesellschaftsveränderung, Rationalität und Intuition, Intellektualität und Spiritualität sowie Kognition und Emotion.
  • Zukunftswerkstätten sind kreativ, d. h. es handelt sich um eine Methode des Planens, Entwerfens und Entwickelns, die die schöpferische Phantasie und den sozialen Erfindungsgeist der Beteiligten herausfordert.
  • Zukunftswerkstätten sind kommunikativ, d. h. sie sind eine Chance für die sonst Sprachlosen, die vielen Ungefragten in der Gesellschaft, ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte, ihre Vorstellungen und Ideen, aber auch ihre Ängste und Befürchtungen frei zu äußern.
  • Zukunftswerkstätten sind provokativ, d. h. sie sind eine Herausforderung an die staatlichen und wirtschaftlichen Institutionen, aus der Bevölkerung kommende Lösungsvorschläge und soziale Erfindungen ernst zu nehmen und aufzugreifen.
Die skizzierten Merkmale von Zukunftswerkstätten machen deutlich, daß hier eine Methode verfügbar ist, die doch in erheblichem Maße von den traditionellen Lern- und Vermittlungsformen in Schule und Hochschule abweicht. Sie integriert in sehr zwangloser Weise viele der bekannten didaktischen Prinzipien (z. B. die Prinzipien der Situationsorientierung, Problemorientierung, Interessen- und Bedürfnisorientierung, Handlungsorientierung sowie das Betroffenheitsprinzip) und kann trotzdem auf den alles wissenden, belehrenden und steuernden Lehrer als Experten verzichten. Insofern wird durch die Zukunftswerkstatt die Lehrerrolle neu definiert. In der Zukunftswerkstatt gibt es lediglich "Moderatoren", die mit einem Minimum an Autorität auskommen. Der Moderator ist dort nur Organisator, Initiator, Anreger und Vermittler sowie "unermüdlicher Zuhörer und Anreger" (ebenda, S. 107). Bei aller thematischen Offenheit und teilnehmerbezogenen Flexibilität von Zukunftswerkstätten sind sie als eigenständige Methode durch ein formales Strukturmodell mit einem klaren Regelwerk bestimmt. Wie die Abbildung zeigt, gliedert sich eine Zukunftswerkstatt in drei Hauptphasen sowie eine vorbereitende und nachbereitende Phase. Die Doppelspirale macht auf die Integration von intuitiv-emotionalem und rational-analytischem Lernen aufmerksam.

Die Phasen der Zukunftswerkstatt

I. Vorbereitungsphase

In der Vorbereitungsphase geht es insbesondere um folgende Aktivitäten:

(1) Themenfindung: Als Themen für eine Zukunftswerkstatt eignen sich alle Probleme und Fragestellungen, die von einer Gruppe Betroffener als dringend lösungsbedürftig und im Prinzip auch lösbar angesehen werden. Wichtig ist, daß alle Teilnehmer sich einig darüber werden, welches Problem für die meisten von ihnen von Bedeutung ist.
(2) Raumausstattung: Der Raum für eine Zukunftswerkstatt sollte groß genug sein, um allen Teilnehmern genügend Bewegungsspielraum zu ermöglichen. Die sterilen Sitzordnungen von Klassen- und Seminarräumen sind ungeeignet und sollten durch das Ausräumen der Tische und die Bildung einer halbkreisförmigen Sitzordnung verändert werden. Es müssen genügend Tafeln, Stellwände bzw. Zimmerwände zum Aufhängen von Papierbögen und Arbeitsblättern zur Verfügung stehen.
(3) Arbeitsmaterial: Zur laufenden Dokumentation der Werkstattergebnisse werden große Papierbögen (Packpapier) oder Druckpapierrollen benötigt, dazu Klebeband und Filzstifte sowie Schreibmaschinenblätter DIN A4. Hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig, sind eine Schreibmaschine und ein Schnellkopierer.
(4) Gruppengröße: Die optimale Teilnehmerzahl liegt zwischen 16 und 28 Personen. Es sollten immer genügend Gruppenräume bzw. -nischen für Kleingruppen von ca. 3 bis 7 Personen zur Verfügung stehen.
(5) Zeitplanung: Die Drei-Tageswerkstatt stellt nach Jungk/Müllert (1989, S. 81) sowie nach eigenen Erfahrungen den Idealtyp einer Zukunftswerkstatt dar. Erst in einer solchen ausführlichen Werkstattarbeit gelingt es in der Regel, daß die Teilnehmer sich aus den Zwängen des Alltags lösen sowie frei und ungezwungen miteinander kommunizieren.

I. Die Kritikphase

In dieser ersten Hauptphase geht es um eine möglichst präzise und radikale Kritik gegenwärtiger Mißstände und ungelöster sozialer Verhältnisse. Es wird in folgenden Schritten vorgegangen:
a) Kritiksammlung: Der Moderator formuliert zunächst provozierende Leitfragen, wie etwa "Was stört Sie?" "Was haben Sie zu kritisieren?" oder "Wovor haben Sie Angst, was bedrückt Sie?" Die Teilnehmer sollen sich in kurzen Stichworten äußern; alle Aussagen werden auf Papierstreifen (3 Streifen aus einer DINA4-Seite) notiert, in die Mitte des Kreises gelegt und laut angesagt.
b) Systematisierung und Bewertung: Nach der Kritiksammlung sollen die Kritikpunkte zu übergeordneten Problembereichen zusammengefaßt werden. Danach findet eine Bewertung dieser Problembereiche durch die Gruppe statt, und zwar in der Form, daß jeder Teilnehmer etwa drei bis fünf Punkte nach Belieben und Interesse auf die einzelnen Problembereiche verteilt.
c) Thematische Schwerpunkte bilden: Durch diese Bewertung kristallisieren sich Problemthemen heraus, von denen die Teilnehmer meinen, daß sie vorrangig diskutiert und bearbeitet werden sollen. Die Kritikphase endet mit der für alle Teilnehmer deutlich sichtbaren Zusammenstellung dieser vorrangigen Problembereiche.

Spielregeln:

1. Diskussionsverzicht.
2. Kritik nur in Stichworten aufschreiben (kurz, kritisch, konkret).
3. Deutliche Visualisierung aller Äußerungen (Kritikpunkte auf eine Tapete aufkleben und an die Wand hängen).


II. Die Phantasiephase

In dieser Phase geht es darum, die in der Kritikphase aufgedeckten Probleme, Schwierigkeiten, Ängste und Befürchtungen ins Positive zu wenden. Die Teilnehmer werden durch den Moderator ermuntert, ihrer Phantasie und Kreativität freien Lauf zu lassen. Es wird ihnen zugestanden, daß sie alle Macht und alles Geld haben, um sich ihre neue Zukunft zu schaffen. In der Regel werden die Problemschwerpunkte der Kritikphase aufgenommen und in Arbeitsgruppen durch die Entbindung sozialer Phantasie und utopischen Denkens positiv gewendet.

Spielregeln:

1. Keine Kritik am Vorgebrachten. Streng verboten sind sogenannte "Killerphasen" ("Das ist doch Blödsinn" - "Das geht doch überhaupt nicht" - "Das bringt doch nichts").
2. Freies Gedankenspiel, d. h. alle Möglichkeiten des kreativen, phantastischen und utopischen Denkens sollten genutzt werden.
3. Freie Wahl der Präsentation, d. h. die Gruppe bestimmt selbst die Art und Weise der Präsentation (Bild, Collage, Gedicht, Geschichte usw.). Der Zukunftsentwurf sollte möglichst anschaulich und sinnlich erfahrbar präsentiert werden.


III. Die Verwisklichungsphase

In dieser letzten Phase geht es darum, die Zukunftsentwürfe und sozialen Phantasien mit den realen Verhältnissen der Gegenwart zusammenzubringen sowie Wege und Strategien zu ihrer Durchsetzung zu finden. Jetzt darf die bis dahin aufgestaute Kritik wieder voll zum Zuge kommen, ohne daß die Zukunftsentwürfe gleich wieder erdrückt werden. Vielmehr ist auch in dieser Phase wieder Erfindungsreichtum und soziale Phantasie notwendig, um möglichst vielfältige, neuartige und erfolgversprechende Wege zur Verwirklichung der besseren Zukunft zu finden. Diese besonders wichtige Phase wird in mehrere Verwirklichungsschritte untergliedert, und zwar (vgl. Jungk/Müllert 1989, S. 128 ff.):

a) kritische Prüfung der utopischen Entwürfe: Hierbei sollen die Entwürfe auf ihre Realisierbarkeit unter den gegenwärtigen und noch zu schaffenden Bedingungen überprüft werden. Inwieweit lassen sie sich schon jetzt in Angriff nehmen? Gibt es bereits reale Ansätze in der gewünschten Richtung? Welche Hindernisse stehen ihnen entgegen? Welche Beharrungskräfte müssen überwunden werden? Wie beurteilen Fachleute, Wissenschaftler, Politiker ihre Erfolgschancen?
b) Entwicklung von Durchsetzungsstrategien: Woran muß unbedingt festgehalten werden? Wie müßte vorgegangen und taktiert werden, um wenigstens Teile zu retten? Welche politischen und ökonomischen Voraussetzungen wären notwendig? Gibt es Bündnispartner, die für eine Unterstützung in Frage kämen? Soll man offen vorgehen oder solange wie möglich ohne große Publizität arbeiten?
c) Planung eines gemeinsamen Projekts bzw. einer Aktion: Keine Zukunftswerkstatt sollte folgenlos bleiben. Im günstigsten Fall entwirft die Gruppe selbst einen Projektplan bzw. bereitet eine gemeinsame Aktion vor, um ihre Neuerungen, Vorstellungen oder Utopien zu verwirklichen. Was muß bei einem solchen Unternehmen bedacht werden? Wie sieht es mit der Finanzierung aus? Wer engagiert sich und mit welchem Einsatz? Wie wird Öffentlichkeit hergestellt? Welche Repressalien sind zu befürchten, und wie ist ihnen zu begegnen? Welche Absicherungen des Projekts sind möglich, welche sollten vorgenommen werden? Aus dieser Zielsetzung der Verwirklichungsphase ergeben sich wiederum die folgenden

Spielregeln:

1. Konkret werden, d. h. der utopische Entwurf muß in allen Einzelheiten mit den gegenwärtigen Verhältnissen konfrontiert werden. Es sollte möglichst präzise aufgezeigt werden, wer, wann, wo, wie, was machen soll.
2. Schritte zur Realisierung aufzeigen, d. h. es sollen Strategien entwickelt werden, mit deren Hilfe die Utopie schrittweise realisiert werden kann.
3. Zeitplan aufstellen, d. h. es sollte möglichst genau gesagt werden, in welcher Zeitspanne der angestrebte Endzustand erreicht werden soll.
4. Den eigenen Beitrag zur Zielverwirklichung aufzeigen, d. h. jeder Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin sollte die Frage beantworten: "Was wird sich in meinem Leben und meinem Verhalten ab morgen ändern?"


Literatur

Burow, Olaf-Axel und Marina Neumann-Schönwetter (Hrsg.) 1995: Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht, Hamburg.

Deutsches Kinderhilfswerk 1996: Planen mit Phantasie. Zukunftswerkstatt und Planungszirkel für Kinder und Jugendliche, Berlin u. Kiel.

Jungk, Robert (Hrsg.) 1969: Menschen im Jahr 2000. Eine Übersicht über mögliche Zukünfte. Frankfurt/M.

Jungk, Robert 1983: Menschenbeben - der Aufstand gegen das Unerträgliche. Ein Bericht. München.

Jungk, Robert/Norbert R. Müllert 1989: Zukunftswerkstätten. München.

Koch, Gerd/Manke, Wilfried 1985: Zukunftswerkstätten - ihre Prinzipien und ihre Bedeutung für den Unterricht. In: SOWI, 14/4, S. 309-316

Kuhnt, Beate und Norbert R. Müllert 1996: Moderationsfibel Zukunftswerkstätten, Münster.

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.) 1987: Zukunftsphantasien - (k)ein modischer Trend ? - Reader zum Lernkonzept Zukunftswerkstatt. Soest.

Müllert, Norbert R. u.a. 1987: Computer machen taubstumm - Wir reden darüber. Ergebnisse aus Zukunftswerkstätten im Rahmen des Programms "Mensch und Technik - Sozialverträgliche Technikgestaltung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Ratingen/Wuppertal.

Stange, Waldemar und Wolf Paschen 1995: Praxishandbuch Zukunftswerkstätten, Hamburg.

Weinbrenner, Peter 1988: Zukunftswerkstätten - Eine Methode zur Verknüpfung von öko-nomischem, ökologischem und politischem Lernen. In: Gegenwartskunde, Heft 4, S. 527-560.

Weinbrenner, Peter/Häcker, Walter 1991: Zur Theorie und Praxis von Zukunftswerkstätten. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Methoden in der politischen Bildung - Handlungsorientierung. Bonn, S. 115-149. Nachdruck in: Burow, Olaf-Axel/Marina Neumann-Schönwetter (HG.) 1995: Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht. Hamburg, S. 23-54.

Weißeno, Georg 1990: Zukunftswerkstatt. Eine neue Methode in der schulischen politischen Bildung, in: Politisches Lernen, Heft 2, S. 52 - 58.

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(c) 2001 Peter Weinbrenner, Steinhagen
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