Antonius Warmeling
Inhalt
1. Eckdaten zum Projekt
2. Projektdurchführung
3. Die Arbeit der Kleingruppe "4gewinnt"
3.1 Modellierungsphase I: Recherche und Absprachen
3.2 Modellierungsphase II: Berechnungen
4. Ein Vergleich mit anderen Gruppen
5. Bewertung des Projekts
6. Anmerkungen
Zum Autor
Abbildungen:
Abb. 1: Info-Blatt Modellierungsphase
Für die Klasse als auch für den Lehrer war es der erste Versuch, im Kontext des internationalen Projekt "Modellieren mit Mathematik", selbstverantwortetes Lernen bei den Schülerinnen und Schülern auszuprobieren. An ein Lernen in Sachzusammenhängen waren diese in gewisser Weise gewöhnt. Im folgenden Beitrag wird daher schwerpunktmäßig über die Erfahrungen beim Ablauf der Modellierungsphase im Unterricht berichtet, da gerade in dieser Phase die Selbstständigkeit der Lernenden herausgefordert wird.
1. Eckdaten zum Projekt
Die am internationalen Projekt "Modellieren mit Mathe" beteiligten Schüler und Schülerinnen besuchen die Klasse 10. Klasse des Fichte-Gymnasiums in Hagen. Die Klasse besteht aus 12 Mädchen und 13 Jungen. Ich bin Klassenlehrer der Klasse und unterrichte in dieser Klasse die Fächer Mathematik und Chemie.
Die Technische Ausstattung unserer Schule ist einigermaßen zufriedenstellend. Wir besitzen einen modernen PC-Raum mit Internetanschluss und 12 Computerarbeitsplätzen.
Einige Schüler und Schülerinnen konnten in den vergangenen Jahren im Rahmen des Wahlpflichtbereich II ausreichend Erfahrung im Umgang mit dem Computer sammeln und verfügen über solide Grundkenntnisse in der Nutzung der Programme Word, Excel und Powerpoint. Bei der überwiegenden Anzahl konnte ich aber lediglich Kenntnisse in Textverarbeitung und Internetnutzung (Suchmaschinen etc.) voraussetzen.
Als Leitmedium wurde im Unterricht die Lern- und Arbeitsumgebung "Modellieren mit Mathe" [1] verwandt.
Im Vorfeld des Projektes habe ich sowohl der Klasse als auch der Klassenpflegschaft (Elternvertretung) meine Intentionen im Hinblick auf das Projekt verdeutlicht und auch die Wichtigkeit selbstverantworteten Lernens für den späteren Beruf hervorgehoben.
2. Projektdurchführung
Da ich in der Systematisierungsphase des Projektes auf Exponentialfunktionen hinaus wollte, hatte ich meiner Klasse die vier folgenden realen Probleme zur Auswahl angeboten bzw. vorgegeben (in Klammern steht jeweils die Zahl der Gruppen, die das reale Problem gewählt haben sowie die Eingangsseite in das reale Problem):
- Bevölkerungsexplosion - Oder? (2 Gruppen / ../ma0150.htm)
- AIDS und Grippe - zwei "moderne" Epidemien? (2 Gruppen / ../ma0620.htm)
- Wohlstand für alle! - Vision oder Möglichkeit? (1 Gruppe / ../ma0320.htm)
- Werden die Reichen immer reicher? (1 Gruppe / ../ma1010.htm)
Nach der Auswahl eines realen Problems besprach ich mit den Schülerinnen und Schüler meine Rahmenbedingungen für die Modellierungsphase, für das zu erarbeitende Produkt sowie für das Lerntagebuch. Zum Nachlesen hatte ich diese auch schriftlich niedergelegt (Material 1: Infoblatt Modellierungsphase ).
In der Modellierungsphase standen den Schülerinnen und Schülern 7 Unterrichtsstunden im Internetraum zur Verfügung. Da ich aber in vielen Kleingruppen die Zielrichtung noch zu wenig konkret fand, verlegte ich die 4. Stunde in den Klassenraum, damit unbeeinflusst von den Computern das Augenmerk stärker auf die inhaltlichen Teil-Fragen und Planungen gelenkt werden konnte, um so eine Entscheidung für die konkrete Arbeit herbeizuführen.
3. Die Arbeit der Kleingruppe "4gewinnt"
In der Folge werde ich die Modellierungsphase der Kleingruppe "4gewinnt" skizzierend beschreiben und ihr zum Abschluss und als Vergleich noch eine zweite Gruppe gegenüberstellen. In der Gruppe "4gewinnt" fanden sich Elisa, Friederike, Pia und Tina zusammen - mehr aus persönlicher Sympathie und eher weniger aus dem Sachzusammenhang. Die Schülerinnen entschieden sich sehr schnell dafür, die folgende Frage zu bearbeiten: "Wie viele Menschen fasst die Erde und wie kann man sie ernähren?" Die nachfolgende Dokumentation ihrer Modellierungsphase beruht zum Teil auf meinen eigenen Notizen und zum anderen Teil auf den Lerntagebüchern der vier.
3.1 Modellierungsphase I: Recherche und Absprachen
Während andere Kleingruppen noch mit ihrer Vorstellung auf dem Forum beschäftigt waren, stieg die Gruppe "4gewinnt" schon intensiv in die inhaltliche Debatte ein. Hier einige Gesprächsfetzen, die ich mir aufgeschrieben habe: "Was braucht man für eine ausreichende Ernährung?" "Was essen Asiaten?" "Reis natürlich, aber reicht das allein?" "Wie groß sind die Nährstoffgehalte?" "Wie groß ist die Gesamtoberfläche der Erde?" "Aber die Wüsten müssen wir abziehen …" Einwand von mir: "Und was ist mit den Gebirgen …?"
Zwischendurch suchten die Schülerinnen immer wieder in der Lernumgebung oder mittels Suchmaschine nach passenden Daten zu ihren Fragen. Die Arbeit war sehr konzentriert, aber noch wenig zielgerichtet. Friederike schrieb dazu in ihr Lerntagebuch: "Ich bin ziemlich unmotiviert, weil ich irgendwie immer noch nicht weiß, wie genau wir unser Projekt verwirklichen und fertig stellen sollen. Außerdem läuft uns meiner Meinung nach die Zeit weg." Zum Abschluss dieser ersten Stunde vereinbarten sie, zuhause nach weiteren Daten zu suchen (Lexikon, Internet).
Die Frage nach einer ausreichenden Ernährung wurde in der zweiten Stunde erst einmal beiseite gelegt. Die Gruppe konzentrierte sich auf die Bevölkerungsdichten in den verschiedenen Kontinenten und auch einigen ausgewählten Ländern. Die Schülerinnen vereinbarten, 50% der bewohnbaren Fläche für die Ernährung zu verplanen und die übrigen für die Unterbringung der Menschen und die Infrastruktur. Jetzt wurde die Diskussion etwas irreal, weil die Gruppe darüber nachdachte, wie hoch man die Gebäude bauen könnte und sogar, ob man nicht alle unterirdisch anlegen könnte. Meinen Einwand: "In einer solchen Welt (ohne Natur ..) möchte ich aber nicht leben." ließen sie nicht gelten, weil sie ja ein Extremszenario beleuchten wollten. Elisa notierte dazu: "Heute bekomme ich mehr und mehr das Gefühl, dass unser Projekt, so vereinfacht wir es wohl auch berechnen werden, viel zu unrealistisch wird."
Zur nächsten Stunde brachte Pia schon eine Übersicht über die Lebensflächen ("Was ist damit gemeint?"), die momentanen Bevölkerungsgrößen und die Wachstumsraten auf den verschiedenen Kontinenten mit. Die vier berechneten die Bevölkerungsdichten in Personen pro Quadratkilometer und überlegten, wie man diese Zahlen auf die nächsten Jahrzehnte/Jahrhunderte hochrechnen könnte. Man verabredete, sich entsprechende Zahlen von Ballungsräumen (z.B. London) zu besorgen und bei der UN Informationen über die minimale Nahrungsaufnahme in den verschiedenen Kontinenten zu recherchieren.
Die vierte Stunde fand - wie bereits oben gesagt - im Klassenraum statt. Die Gruppe "4gewinnt" war aber eigentlich so weit, dass sie hätte rechnen konnten. Sie konnte daher mit diese Stunde nicht viel anfangen.
3.2 Modellierungsphase II: Berechnungen
In der nächsten Stunde half ich der Kleingruppe bei der Einrichtung einer EXCEL-Tabelle, mit deren Hilfe sie das Bevölkerungswachstum mit Hilfe der gefundenen Wachstumsraten simulieren konnten. Nachdem sie dann zunächst einfach Jahr für Jahr die prozentuale Steigerung hinzugerechnet hatten, brachte ich mögliche Vereinfachungen und den Wachstumsfaktor ins Spiel. Nebenbei lernten die Jugendlichen die Nutzung relativer und absoluter Bezüge bei EXCEL und waren dann in der Lage, selbstständig weitere Tabellen zu erstellen. Da die Frage nach den Ernährungsgrundlagen zunächst nicht weiter führte, traf die Gruppe die Entscheidung, drei Szenarien durchrechnen: hoher Lebensstandard (wie in Deutschland), mittlerer Lebensstandard in einem Ballungsraum (wie in London) und geringer Lebensstandard.
In der Folgestunde wurden die Tabellen erstellt. Die Schülerinnen errechneten die Bevölkerungszahlen für 5, 50 und 500 Jahre. Für die Welt kamen sie dabei in 500 Jahren auf mehr als 1,1 Billionen Menschen, und: fast alle wohnen in Afrika. Die Zahl wurde nicht hinterfragt, sie war wohl nicht vorstellbar. Schließlich einigten sich die Schülerinnen auf die Berechnung von Erdbevölkerungszahlen auf der Basis der Einwohnerdichten von London, Hongkong und Sydney. Die Gesamtwohnfläche (ohne Anbau- und Wasserflächen) wurde mit 97,2 Mio. km2 berechnet. Elisa notierte in ihr Lerntagebuch eine wichtige Erfahrung: "Was mich ein wenig stört, ist, dass einige Quellen verschiedene Zahlen angeben und es so eventuell vorkommen kann, dass ich andere Zahlen habe als jemand anderes aus meiner Gruppe."
In der letzten Stunde kam die Kleingruppe noch einmal auf die Ernährungssituation zurück. Auf der Basis der Bevölkerungsdichte von Deutschland (Zahlen aus dem Internet) berechneten sie eine Weltbevölkerungszahl von rund 22 Milliarden und gingen (fälschlicherweise) davon aus, dass alle nach "deutschem Standard" gut ernährt werden könnten. Auf der Basis der Hamburger Bevölkerungsdichte (Im letzten Moment hatte die Gruppe aus irgendeinem Grunde London gegen Hamburg getauscht.) hätten die Menschen dann nur noch 1/9 und auf Hongkong bezogen nur noch 1/23 der Nahrungsmittel zur Verfügung - so ihre Berechnungen.
In der folgenden Stunde gab die Kleingruppe "4gewinnt" als einzige pünktlich ihre Ausarbeitung[2] ab, alle anderen Gruppen gaben sie mit ein bis drei Stunden Verspätung ab. Zur Ausarbeitung schrieb Friederike um 22.55h am Vorabend: "Halleluja, endlich geschafft … Außerdem finde ich es schade, dass wir nicht noch mehr Zeit haben, weil uns noch eine Menge eingefallen ist, was man noch zusätzlich errechnen und einbringen könnte. Ansonsten sind wir mit unseren Ergebnis sehr zufrieden." Mein Kommentar: Das konnten sie auch sein.
4. Ein Vergleich mit anderen Gruppen
Dass es nicht in allen Kleingruppen so gut lief, mag noch ein kurzes Blitzlicht auf die andere Gruppe zeigen, die ebenfalls dieses reale Problem gewählt hatte. Bei ihr fehlte wechselseitig mindestens immer ein Schüler aus Krankheitsgründen. Die Kommunikation innerhalb der Gruppe klappte nur sehr begrenzt. Ich hatte mit ihnen in der Planungsstunde erarbeitet, dass ein Vergleich der Bevölkerungsentwicklungen eines Industrielandes, eines Entwicklungslandes und eines Schwellenlandes doch eine ganz prima Sache sei. Doch letztendlich enthielt das ausgearbeitete Produkt dann jeweils nur eine Graphik aus den Jahren 2001 und 2020 für die Länder Frankreich und Brasilien, die aus dem Internet heruntergeladen worden waren. Das Produkt enthielt keine eigenen Berechnungen und interpretierende Texte, lediglich einen Anhang mit einem nicht passenden Text zur Weltbevölkerungsentwicklung.
5. Bewertung des Projekts
Zur Einschätzung des Projekts und vor allem der Modellierungsphase möchte ich zum Schluss noch einmal Pia mit Passagen aus ihrem Abschlussstatement im Lerntagebuch zu Worte kommen lassen:
"Die Arbeitsmethode hat viele Vorteile, aber auch Nachteile":
Vorzüge: Durch die Teamarbeit lernt man mehr zu kooperieren und zu diskutieren. Dies schafft gute Voraussetzungen für das gemeinsame Lösen von Problemen und das Erarbeiten von Themen.
Da man sich vieles selbst erarbeitet, behält man auch mehr. Durch Eigenaktionen sind einem die Vorgänge klarer und man verbindet auch alles miteinander. So vergisst man vieles nicht wieder und das Lernen fällt leichter.
Diese Art des Unterrichts weckt das Interesse, weil man mehr selbst agieren und aktiv werden kann. das Arbeiten und Recherchieren im Internet macht Spaß und ist vor allem zeitgemäß.
Nachteile: Durch das Arbeiten in eine falsche Richtung wird viel Zeit verbraucht, die man gut anders nutzen könnte. Hier muss der Lehrer mehr helfen, damit die Gruppe den richtigen Anfang findet.
Zuerst treten einige Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit auf. Jeder hat eigene Vorstellungen und es muss erst eine Ideallösung gefunden werden, um effizient arbeiten zu können. Das verbraucht auch Zeit, aber da sich das Problem sehr schnell löst, ist der Nachteil weniger gravierend.
Die beiden genannten Nachteile sehe ich gar nicht unbedingt als solche. Ich werde mir aber beim nächsten Durchgang vorher überlegen, wie ich den Schülerinnen und Schülern eine bessere Hilfe geben kann, damit sie sich im komplexen Problem besser für eine konkrete Teilfrage entscheiden können.
Von der ersten Stunde an gab es auch von einigen Schülerinnen und Schülern deutlichen Widerstand gegen das Projekt. Er äußerte sich u.a. in der Bemerkung "Was hat das überhaupt mit Mathe zu tun?" Die Schülerinnen und Schüler mussten sich in diesem Projekt auf eine andere als die gewohnte Lehr- und Lern-Methode einstellen. Und das machte Schwierigkeiten. Bisher geschah in meinem Unterricht die Einführung eines neuen Themas zwar häufig auch sachbezogen, aber unter starker Steuerung durch den Lehrer. Dann kam die Phase der mathematischen Präzisierung und dann die der Übungen. Das war diesmal anders. Fast drei Wochen haben die Gruppen gearbeitet, bevor ich gesagt habe, dass unser neues Thema Exponentialfunktionen heißt, denn diese Funktionenart sollte ja von den Schülern und Schülerinnen in ihrer eigenen Sprache bei einer konkreten Nutzung "erfunden" werden. Ich darf daher nicht unzufrieden sein, wenn das Ergebnis bezogen auf die Mathematik nicht gleich bei allen ganz toll war. Es bleibt für mich aber angesichts der Entwicklungen im Berufsleben und in der elektronischen Kommunikation gar keine Alternative, als auf diesem Weg weiterzumachen.
6. Anmerkungen
1) www.schule.suedtirol.it/blikk/angebote/modellmathe/medio.htm. In den folgenden Verweisen auf diese Arbeitsumgebung wird nur noch die Seite angegeben, die an Stelle von medio einzusetzen ist.
2) Die Ausarbeitung kann z. Zt. noch in der Lernumgebung "Modellieren mit Mathe" auf dem Teilforum "Bevölkerung" unter "Referat[1]" eingesehen und heruntergeladen werden. Später wird diese Ausarbeitung unter dem realen Problem "Bevölkerungsexplosion - Oder?" als exemplarisches Beispiel auf der Seite ../ma01592.htm zu finden sein.
Zum Autor
Antonius Warmeling, Lehrer (StD) für Mathematik und Chemie am Fichte-Gymnasium in Hagen. http://fichte-gym.de/MINT/index.html
Dieser Text ist unter gleichem Titel in leicht abgeänderter Form erschienen in: Computer und Unterricht 13. Jg. 2003. (51), S. 11-13.
© 2003 Antonius Warmeling, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
sowi-online dankt dem Friedrich Verlag, Seelze und dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung des Textes im Internet.
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