Wenn die Bildung zum Erlebnis wird - Politische Bildung und Erlebnispädagogik

Wolfgang Berger/Siegfried Frech

"Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden.
Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglich-
keiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alter-
native motiviert: Konsumartikel, Eßgewohnheiten, Figuren
des politischen Lebens, Berufe, Partner, Wohnsituation,
Kind oder Kinderlosigkeit. Der Begriff des Erlebnisses ist
mehr als ein Terminus der Freizeitsoziologie. Er macht
die modere Art zu leben zum Thema..." [1]

1. Erlebnisgesellschaft: die "Wendung zum Subjekt"?

Die neue "deutsche Spaßgesellschaft verdrängt allenthalben Umweltsorgen und Angst vor Arbeitslosigkeit, Frust und Rentennot" [2]. Das auszumachende Gefahrenpotential der "Risikogesellschaft" [3], die unzähligen Kassandra-Rufe führen nicht auf unmittelbarem Wege zum Gebrauch praktischer Vernunft. Obwohl der - vielleicht generationsgebundene- Typus des erziehenden Intellektuellen seit Jahrzehnten hinweg versuchte (bzw. immer noch versucht), "Ordnung ins Chaos der Welt zu bringen, präsentiert (...) sein ungezogener Enkel triumphierend die Unordnung in den Zeiten der Verwirrung" [4]. Die alltagsweltliche Übersetzung der objektiven Wirklichkeit folgt eben leider nicht der eingefahrenen Dramaturgie des Akademikervortrags. Die beiden Konzepte der "Risiko-" und "Erlebnisgesellschaft" sind offenbar wie die zwei Seiten einer Medaille. Angesichts ökologischer und auch sozialer Risiken, die in globalem Ausmaß bedrohlich wirken, ist die Attraktivität kompensatorischer Lebenswelten - wie sie unter dem Begriff der Erlebnisgesellschaft zusammengefaßt werden - verständlich.

Der soziale Wandel und die Entgrenzung, d.h. die Zunahme der Handlungsspielräume, wurde an anderer Stelle bereits umfassend aufgearbeitet und dokumentiert. Zudem hat man gelegentlich den Eindruck, daß es sich keine Veröffentlichung zur politischen Bildung leisten kann, nicht auf diesen Sachverhalt zu rekurrieren. "Ansteigen des Lebensstandards, "Zunahme der Freizeit, Expansion der Bildungsmöglichkeiten, technischer Fortschritt, Auflösung starrer biografischer Muster" [5] - diese Stichworte mögen hier genügen - sind kennzeichnend für den gesellschaftlichen Wandel, der subjektiv als Vermehrung von Möglichkeiten erlebt, praktiziert und wahrgenommen wird. Gerhard Schulze macht diese objektiv zu konstatierende Entwicklung zum Ausgangspunkt der Frage, "was es subjektiv bedeutet, unter solchen Umständen zu leben" [6]. Auf diese Veränderungen der Situation reagieren Menschen - so die Hauptthese des kultursoziologischen Konzeptes der "Erlebnisgesellschaft" [7] - mit einer neuen und veränderten Definition dessen, was für menschliches Existieren sinngebend ist: "Erlebe dein Leben ist der kategorische Imperativ unserer Zeit" [8]. Die paradigmatische oder zuweilen auch allegorische Gestalt der Gegenwart ist der Wählende. Die Entgrenzung des Lebens und die damit einhergehende Vermehrung der Möglichkeiten "macht uns zu Katalogblätterern, zu Menue-Kompositeuren, zu Möglichkeitsmanagern" [9]. Das Leben wird zum Situationsmanagement, zum Nehmen und Entsorgen von Lebensumständen; der Mensch wird zum "Manager seiner eigenen Subjektivität, zum Manipulator seines Innenlebens" [10].

Im Kern der Erlebnisgesellschaft steht somit ein bestimmtes Grundmuster des Denkens, das Gerhard Schulze als den Gegensatz von Außen- und Innenorientierung beschreibt. Überwiegt in Zeiten der Knappheit und Begrenzung (z.B. in den Jahren nach 1945, die von materiellen Überlebensproblemen und dem ideellen Problem der Wiedergewinnung einer normativen Orientierung geprägt waren) außenorientiertes Denken, vollzieht sich in Zeiten der Entgrenzung ein Wandel zum innenorientierten Denken. Nicht Mangel und Bedrohung sind die vorrangigen Problemstellungen menschlichen Lebens, an denen sich Verhaltensmuster ausrichten; es ist vielmehr die Schwierigkeit, ein sinnvolles Leben zu führen, den abverlangten Orientierungsleistungen gerecht zu werden. Innenorientiertes Denken "bezieht sich auf  Ziele in uns selbst, Gefühle, psychophysische Prozesse, Erlebnisse. Es reicht nicht mehr nur, begehrenswerte Objekte zu bekommen. Das Ziel ist erst dann erreicht, wenn sie in der subjektiv gewünschten Art und Weise auf uns wirken" [11].

Mit dem Begriff der Erlebnisrationalität wird der instrumentelle Mechanismus beschrieben, daß man die äußeren Umstände mit der Absicht arrangiert, möglichst gute innere Wirkungen zu erzielen und dem Ziel des schönen Lebens nahezukommen. Etwas sein zu wollen, positive innere Wirkungen erzielen zu wollen, ist ein Prozeß der Selbstreflexion: "Man besteigt einen Hochsitz und betrachtet durch das Fernglas eine Waldwiese, auf die man gefälligst jetzt gleich als glückliches Reh zu treten hat" [12]. Da jedoch Menschen nicht wie Staubsauger auf Knopfdruck reagieren, der Zugang zum Selbst nur reflexiv - von einer bestimmten Beobachtungsperspektive aus - erfolgen kann, ist die Mißerfolgsrate dieser Selbstreflexionsprojekte relativ hoch. Ein Ereignis erhält erst durch seine Integration in einen bereits vorhandenen subjektiven Kontext einen Erlebniswert. Dadurch bekommt die Erlebnisrationalität ihre Tücken und Risiken: Da es außerordentlich schwierig ist, die eigenen Wünsche genau zu definieren, zu bestimmen, was man denn nun "wirklich" will, besteht immer die Gefahr, daß bei entsprechender Wahl aus reichhaltigen Alternativen erwünschte Erlebnisqualitäten nicht eintreten. Die zunehmende Handlungsdynamik, die Degradierung von Erlebnissen zum Konsumgut und der stets wachsende Erlebnismarkt führen bei der Vielzahl von Optionen dazu, daß der Mensch bei seiner Suche nach Glück immer wieder Schiffbrüche erleidet.

Dieses knappe sozialwissenschaftliche "Blitzlicht" vermag zu verdeutlichen, daß sich politische Bildungsarbeit mit Schlüsselbegriffen subjektiver Formen des Erlebens auseinandersetzen und kultursoziologische Imperative berücksichtigen muß. Zu befragen wäre demnach unsere Bildungspraxis und Rolle als Akteure auf "einer pädagogischen Bühne, deren Drehbücher woanders geschrieben werden" [13]. Wenn nun Kontemplation, Harmonie, Aktion, Befindlichkeit, Narzißmus und der Trend zur Selbstverwirklichung eine steigende Nachfrage verzeichnen, muß die Frage zulässig sein, ob die traditionelle, gelegentlich als "verkopft" gescholtene politische Bildung, deren Defizite in ihrer eher intellektuellen Vorgehensweise begründet liegen mögen, nicht eine "Wendung zum Subjekt" vollziehen muß. Kann politische Bildung Erlebnisintensitäten und -qualitäten bieten und dem gewandelten Lebensgefühl gerecht werden?

Es ist unbestreitbar, daß Subjektivität, Selbstorientierung und Hedonismus zwischenzeitlich in der Erwachsenenbildung starke Spuren hinterlassen haben. Problematisch ist jedoch der Befund, daß politische Bildung mit einer ausschließlichen Orientierung an den Befindlichkeiten jedweder Zielgruppe zum Marketingproblem wird [14]. Genauso schwer wiegt der kritische Einwand, daß die Kategorie der ausschließlichen Subjektivität oder gar alleinigen Lust nicht immer "einen angemessenen Zugang zur politischen Komplexität und darüber hinaus zu höchst selektiven und ausschnitthaften Erkenntnissen führen" [15], daß politisches und in der Theorie angesiedeltes Wissen einen nachgeordneten Stellenwert erhalten. Kritiker der "neuen Subjektivität" geben weiterhin zu bedenken, daß kognitiv und theoretisch angesiedeltes Wissen einen nachrangigen Stellenwert erhält und damit Irrationalismus und Innerlichkeit anstatt politischer Aufgeklärtheit zu erwarten sind.

Zu fragen ist weiterhin, welchem kulturellen Handlungsmuster denn nun die politische Bildungsarbeit nacheifern soll. Der skizzierten Praxis der Erlebnisorientierung ist nämlich ein völlig anderes Handlungsmuster entgegengesetzt: das Muster "der aufgeschobenen Befriedigung, kennzeichnend etwa für das Sparen, das langfristige Liebeswerben, den zähen politischen Kampf, für vorbeugendes Verhalten aller Art, für hartes Training, für ein arbeitsreiches Leben, für Entsagung und Askese" [16].

Gänzlich unsoziologisch schlägt Gerhard Schulze daher als mögliche Wege aus der Erlebnisgesellschaft vor: "Definiere Ziele, die außerhalb deiner selbst liegen und arbeite daran" [17]. Anstatt der - gelegentlich verbissenen und verkniffenen - Prozedur des "Wählens" nachzueifern, sollte das "Einwirken" auf Situationen einen neuen Stellenwert erhalten. Einwirken bedeutet, sich "auf die Situation einzulassen und zu versuchen, sie zu seinen Gunsten zu beeinflussen" [18]. Einwirken meint das Verändern einer Situation durch Bearbeitung; und dies braucht Zeit und kostet Mühe. Dieses Grundmuster menschlichen Handelns hat viel mit der Mühe, den Anstrengungen und dem Zeitaufwand von Lernprozessen gemein: Handlungen dieser Art projezieren die Glückshoffnung in eine mittelfristig zu erreichende oder gar ferne Zukunft. In der Bildungsarbeit könnten solcherart inszenierte Situationen und deren Bewältigung in der Regel als "positives Grunderlebnis den 'Triumph' über die Umstände" [19] bewirken.

Der Ausweg aus dem Dilemma einer völligen Ästhetisierung der Bildungsarbeit bei gleichzeitigem Verlust des Politischen (und damit korrespondierender Beliebigkeit) könnte durch ein didaktisches Arrangement gefunden werden, das gleichsam eine "verbindende Mitte" zwischen beiden Handlungsarten zu definieren und auch zu realisieren vermag, ohne profillos zu sein. Notwendig sind konzeptionelle Formen einer Bildungsarbeit, die der authentischen Sinnlichkeit menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation, die dem Brückenschlag zwischen Lebenswelt und Politik sowie dem Bedürfnis nach Emotionalität und Rationalität [20] Rechnung tragen. Das Konzept der Erlebnispädagogik erscheint uns als ein geeigneter Weg, den obengenannten Dichotomien gerecht zu werden. Erlebnispädagogik hat hierbei "lediglich eine 'dienende Funktion', sie wird nicht zum Selbstzweck, sondern bezieht sich auf 'klassische' Lernziele politischer Bildung: Transparenz, gegen Politikverdruß und für ein Engagement im Prozeß der Demokratisierung" [21]. Ohne den nachfolgenden Praxisschilderungen vorgreifen zu wollen, behaupten wir nach mehrjährigen Erfahrungen mit erlebnispädagogischen Seminaren bereits an dieser Stelle: Politische Bildung kann Spaß machen und zu einem deutlichen Zugewinn an Kenntnissen und sozialen Erfahrungen führen.

2. Erlebnispädagogik - "Out-door anstatt in-door"!

"Outward Bound ist ein Begriff aus der englischen Seglersprache. Er steht für ein Schiff, das nach vielen Vorarbeiten bereits ist auszulaufen, um sich auf eine Fahrt zu begeben, deren Verlauf nie ganz gewiß ist und deren erfolgreicher Abschluß vom großen Einsatz, von der Überwindungskraft, dem Mut und der Zusammenarbeit der Crew abhängig ist" [22].

Diese Metapher verdeutlicht im übertragenen Sinne recht prägnant das Anliegen der Erlebnispädagogik [23] . Dieser ganzheitliche Ansatz hat die erklärte Zielsetzung, natursportliches und ökologisches sowie soziales Handeln zu praktizieren, das sowohl physisch als auch psychisch unmittelbar erfahren wird. Die pädagogische Indienstnahme verschiedener Natursportarten (z.B. Klettern, Kanufahren, Höhlenbefahrungen, Wandern) gewährleistet erlebnisintensives Handeln in der Natur. Das Arrangement von Erlebnissen ist unter didaktischen Gesichtspunkten eine bewußte Abgrenzung vom Alltag, von routinierten Lebenswelten sowie von durchdachten, zweckrational gestalteten und gestylten Lebensräumen. Bewußt inszenierte Erlebnisse sprechen durch ihre Unmittelbarkeit und den Charakter einer relativen Einmaligkeit sowohl die Gefühlsebene als auch die Vernunft- und Handlungsebene an [24].

Gewöhnlich umfassen erlebnispädagogische Seminare und Kurse das selbstverantwortliche Zusammenleben der Teilnehmenden und die gemeinsame Organisation des alltäglichen Lebens (Kochen, Essen, Schlafen, Energieversorgung, Müllentsorgung usw.). Diese - auf den ersten Blick vielleicht nachgeordnete - Rahmenbedingung trägt dafür Sorge, daß grundsätzliche Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten im Bereich des sozialen Lernens ermöglicht werden. Ein hohes Maß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und die Gruppe, Konfliktfähigkeit und Empathie wird von den Teilnehmenden abverlangt.

Die "essentials" der Erlebnispädagogik lassen sich an den favorisierten Lerngegenständen und - methoden aufzeigen [25]. Das Konzept der Erlebnispädagogik

  • ist ganzheitlich und handlungsorientiert, weil sich "Reflexionen und Diskussionen überwiegend aus den erlebten Handlungen ergeben und wieder in Handeln umgesetzt werden" [26]. Darüberhinaus fördern die Erlebnisse in der Natur und in der Gruppe psychosoziale, psychomotorische und kognitive Lernprozesse: Die Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen werden vom ersten Tag an angehalten, mitzuplanen, zu organisieren, sich körperlich zu betätigen, "eine funktionierende Gruppenstruktur aufzubauen, Konflikte zu regulieren, sich gegenseitig zu helfen, fair und kontrovers zu diskutieren und dabei insbesondere Verantwortung zu übernehmen" [27].
  • ist auf die Ernstsituation, auf die unmittelbare Anwendung des handelnd Ge- und Erlernten bezogen. Die Aneignung spezifischer Fertigkeiten, die aus den Erfordernissen der jeweiligen Natursportart erwachsen (z.B. Knoten-und Sicherungstechnik beim Klettern, Abseilen, pfleglicher und sorgsamer Umgang mit den Sportgeräten) wird angesichts der authentischen Situation, diese Fertigkeiten beherrschen und anwenden zu müssen, rasch einsichtig. Entgegen vielfältigen Formen institutionalisierter Wissensvermittlung (z.B. schulisches Lernen) steht nicht die Anhäufung von Wissen und das Vertrösten auf die Möglichkeit späterer Anwendung ("Non vitae, sed scholae discimus") im Mittelpunkt dieser pädagogischen Vorgehensweise, sondern die Vermittlung unmittelbar notwendiger und sinnfällig werdender Fähigkeiten und Fertigkeiten.
  • lebt vom didaktischen Prinzip der Herausforderung. Natursportliche Aktivitäten stellen eine Aufgabe dar, "deren Erfüllung aus der subjektiven Sicht der Teilnehmer zwar als schwer, nicht aber als unüberwindlich angesehen wird" [28]. Grenzerfahrungen, psychische Widerstände und letztlich deren Überwindung sowie die Mobilisierung körperlicher Kräfte und Reserven müssen bewältigt werden und eröffnen im nachhinein den Blickwinkel für (wieder-) entdeckte Fertigkeiten und Einstellungen.
  • legt Wert auf gruppenbezogene Lernprozesse. Oftmals zeigt sich im Verlauf erlebnispädagogischer Aktivitäten, daß individuelle Leistungen und Erfolge wesentlich von der Gruppe abhängig sind. Anstatt Höchstleistungen einer Einzelperson zu fördern, liegt die Akzentsetzung sozialen Lernens "vor allem in den Prinzipien der Rücksichtnahme auf das schwächste Glied und die Gruppenselbststeuerung (Hervorhebung i. Original)" [29]. Individuelle Leistungsorientierung und körperliche Stärke müssen mit dem Rhythmus der Gruppe abgestimmt werden.
  • ist durch die Wechselwirkung von Aktion und Reflexion gekennzeichnet. Der instrumentelle Einsatz von Aktion und Erlebnis wird von Reflexionseinheiten, die "alternative Lernmöglichkeiten bewußt machen und damit soziales Lernen absichtsvoll initiieren" [30], begleitet. Das platte und oftmals nur Aktionismus auslösende Motto "Der Weg ist das Ziel!" wird zur unter Umständen gewichtigeren Direktive "Der Umweg ist auch ein Weg!" umformuliert. In dem Dreischritt "Erleben, erinnern, erzählen" [31] werden die Naturerlebnisse - in denen eher eine emotionale Komponente mitschwingt - reflexiv verarbeitet [32]. Reflexion ist der nachhaltige Versuch, dem Erlebnis und seiner selbst habhaft zu werden. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren und Bewerten nehmen Erlebnisse eine kognitive Gestalt an. Die Orientierung an der Aktion benötigt das komplementäre Element der Reflexion, damit erlebnispädagogische Ansätze nicht Gefahr laufen, zum "blinden Aktionismus" zu verkommen.

Zwei Aspekte der Erlebnispädagogik verdienen abschließend noch Beachtung. Erlebnispädagogik bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Natur und Ökologie [33]. In deutlicher Kontrastierung zu intentionaler und institutionalisierter ökologischer Bildung, die mit mühsamen didaktischen Anstrengungen gelegentlich an ihren hehren Ansprüchen scheitert [34], setzen erlebnispädagogische Ansätze bewußt auf Formen der nicht-intentionalen ökologischen Bildung. (Er-) Leben in der Natur ist eine Chance zur Weckung und Förderung ökologischen Bewußtseins. Sinnlich-ganzheitliche Naturerfahrungen und die Authentizität der Natur können zu einer veränderten Naturwahrnehmung führen: Natur wird nicht nur kontemplativ betrachtet. Die Teilnehmer sind gezwungen, sich mit den natürlichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen und haben in den meisten Fällen keine Chance, Veränderungen vorzunehmen [35].

Durch den in der Regel mehrtägigen Aufenthalt in der Natur können Seminargruppen den Rhythmus dert Natur (wieder) kennenlernen, sich auf ihn einstellen und mit ihm zu leben versuchen. Nicht "Symetrie, Neon, gerade Linien und rechte Winkel bestimmen das Erleben, sondern mäandrierdende Flußläufe, diffuses Licht, sich verlierender Horizont sowie krumme und spitze Ecken und Kanten begleiten das Handeln" [36].

Durch die Anpassung an die natürliche Um- und Mitwelt und das ständige Austarieren naturweltlicher Gegebenheiten mit körperlichen Aktivitäten ergibt sich permanent die Frage, wer hier eigentlich wen beherrscht. Andererseits ergibt sich bei der Durchführung erlebnispädagogischer Seminare und Kurse ständig das Dilemma, daß Leben im ökologischen Sinne immer auch mit Gefährdung und Störung der natürlichen Umwelt zu tun hat. Gerade unter dieser häufig neuartigen Perspektive müssen Teilnehmende lernen und akzeptieren, daß Aktionsräume zugleich immer Lebensräume sind, denen mit Respekt und ökologischer Sorgfalt zu begegnen ist. Auf sehr sensible Art werden Aktionsräume somit zu "Erlebnisräumen für Tiere und Pflanzen, die mit nötiger Achtung und Verantwortung begangen, beklettert, befahren werden" [37].

Das Gelingen erlebnispädagogischer Seminare hängt wesentlich von den Qualifikationen der betreuenden Personen ab. Die Betreuer sind qualifizierte, fachlich kompetente sowie erfahrene Sozialpädagogen, Bergführer, Sport- und Segellehrer. Für die Rolle, die sie bei der Inszenierung kontrollierter Erlebnisse innehaben, wird in der Literatur gerne das Bild vom (didaktischen) Architekten verwendet, der plant und vorbereitet. Das "Haus - um in dieser bildhaften Sprache noch kurz zu verweilen - wird jedoch von Seminarteilnehmern gebaut. Unter Beachtung höchster Sicherheitsanforderungen werden die optimalen Rahmenbedingungen für das Erlebnis geschaffen. Das Erlebnis jedoch ist zum Glück "seinem Wesen nach nicht organisierbar" [38]. Es ist in seiner Einmaligkeit und Authentizität eine Angelegenheit jedes einzelnen Teilnehmers. Fachliche Qualifikationen, Sensibilität für Gruppensituationen und -stimmungen, das Gespür für motivierende und mutmachende Impulse und die gebotene Zurückhaltung sind professionelle Fähigkeiten, die Erlebnispädagogen und -pädagoginnen auszeichnen. Als in der Regel kompetenteste Person der Gruppe sollte er bzw. sie ständig bereit sein, diese Kompetenz zeitweise und vorausschauend an die Seminarteilnehmer abgeben zu können. Im Rückblick wird deutlich, daß die vobildhafte Kooperationshaltung und die menschlichen Qualitäten von Elisabeth J. Wolf, Leo Klimmer und Stefan Schräder (Mitarbeiterin und Mitarbeiter der erlebnispädagogischen Initiative "alb ergo") wesentlich zum Gelingen der nachfolgend beschriebenen Seminare beitrugen.

Die oben beschriebenen Essentials sind feste und unverzichtbare Bestandteile erlebnispädagogischer Seminare bzw. Seminarwochen. Nachfolgend sollen Ausschnitte und Eindrücke zweier erlebnispädagogischer Seminare geschildert werden. Angestrebt ist nicht die detaillierte Ablaufbeschreibung sämtlicher Seminare. Die Akzentsetzung auf einzelne Seminarphasen erfolgt unter der Maßgabe der didaktischen Kriterien, die wir als kennzeichnend für die Konzeption der Erlebnispädagogik vorangestellt haben. Zudem konzentrieren sich die Praxisschilderungen auf zwei Bereiche: Erlebnispädagogische Seminare lösen häufig Irritationen hinsichtlich ihrer sportlichen Aktivitäten und der damit verbundenen Intentionen aus. Gelegentlich wird auch der Vorwurf laut, daß natursportliche Aktivitäten eine zu dominierende Stellung im Rahmen solcher Seminare einnehmen würden. Eng damit hängt die Frage zusammen, was und wie denn nun in erlebnisorientierten Seminaren überhaupt "gelernt" wird. [39].

Aufgrund ihrer ähnlichen inhaltlichen Struktur werden die Seminare "Was(s)erleben, Mit Paddel und Politik" und "Zwischen Himmel und Hölle. In den Höhlen der Schwäbischen Alb" im Rahmen der Erörterung zusammengefaßt. Die vom Text abgesetzten Seminarverläufe sollen die Struktur und den Gesamtablauf erlebnispädagogischer Seminarwochen veranschaulichen.

Erlebnispädagogische Seminarwochen - oder:
Welchen Bildungswert haben Wasseramseln und Fledermäuse?

"Die Wasseramsel (Cinclus cinclus) lebt - wie schon ihr
Name andeutet - ausschließlich am Wasser. In Färbung
und Haltung ist sie einer Ringamsel ähnlich, doch mit 18
cm Körperlänge viel kleiner. In Mitteleuropa ist sie an
schnell fließenden Bächen, klaren Gewässern, Gebirgs-
bächen und Wasserfällen anzutreffen. Da unsere Gewässer
vielerorts stark verschmutzt sind, wurde die Wasseramsel
sehr selten (...). Als einziger Singvogel können sie schwimmen,
tauchen und unter Wasser laufen!" [40]

"Und dieses wilde Herumgekurve soll nun
ein koordinierter Flug einer Fledermaus
sein" [41].

3.1 Wahrnehmen, Handeln und ökologisches Lernen

Die eingangs verwendeten Zitate erhalten dann eine gewisse didaktische Brisanz, wenn die biologische Erkenntnis, das Staunen über Naturphänomene mit dem Wissenangereichert wird, daß die Wasseramsel als lebendiger Indikator für die Güte eines Fließgewässers gilt. So werden beispielsweise in Elsaß und Lothringen in einzelnen Regionen Wasseramseln als "ökologische Frühwarnsysteme" verwendet. Werden Biotope von ihnen verlassen, so ist dies ein untrügliches Zeichen, daß die Qualität des jeweiligen Fließgewässers ökologisch vertretbaren Gütemaßstäben längst nicht mehr genügt. Nachfolgende chemische Meßverfahren ergeben stets denselben Richtwert, der die mangelhafte Wasserqualität belegt.

Eine während der Seminarwoche stattgefundene Bachexkursion und eine Gütebestimmung des Gewässers brachten - für bis dato Ungläubige - den empirischen Beleg für die gemachte Naturbeobachtung. Die Bewunderung der Flugkoordination, die die "Dämonen der Finsternis" nächtens an den Tag legen, wird abgelöst von der schmerzhaften Erkenntnis, daß die Bestände der einheimischen Fledermausarten in Baden-Württemberg so stark zurückgegangen sind, daß inzwischen 22 Arten unter Naturschutz stehen. Einige Arten sind ganz ausgestorben oder gelten als verschollen.

Diese beiden Eindrücke sind kennzeichnend für die Art des Lernens, das sich während erlebnispädagogischen Seminaren ereignet. Ausgehend von der Wahrnehmung, von der sinnlichen Erfahrbarkeit wird den Teilnehmenden spätestens im Rahmen der Reflexion, die sich während oder nach der Naturbeobachtung ereignet, deutlich, daß sie mit jedem Handeln in Ökosysteme und ökologische Zusammenhänge eingreifen. Ausgehend von der Naturbeobachtung wird das bestaunte Naturphänomen "reflexiv zurechtgerückt": Das vermittelte biologische und ökologische Wissen um die beobachteten Tiere und deren Lebensräume verdeutlicht die Sensibilität von Ökoystemen und die Problematik menschlicher Eingriffe in ökologische Zusammenhänge.

Persönliches Angesprochensein und emotionale Anteilnahme sind auslösende Faktoren, das Agieren in der Natur und die ökologischen Aus- und Rückwirkungen von Natursportarten zu überdenken. Durch die Wahrnehmung der Mitwelt, durch die Konfrontation mit Informationen und Kenntnissen über Flora und Fauna "akzeptieren viele Teilnehmer die notwendige Auseinandersetzung mit Lebensräumen, die primär für sie unter dem Aspekt von Aktionsräumen im Bewußtsein sind" [42]. Im Mittelpunkt erlebnispädagogischer Ansätze steht demzufolge nicht das bloße Naturerleben und auch nicht die undifferenzierte Indienstnahme der Natur für einen neuen Gefühlskult, der die Natur romantisiert, zum Mythos stilisiert und keine Sensibilität für unterschiedliche Nutzungen, Belastungen, Veränderungen und Gefährdungen von Ökosystemen aufzeigt.

Ein weiteres Beispiel mag verdeutlichen, daß diese Art des Lernens - von Kritikern unter Umständen als induktiv und pragmatisch akzentuiert belächelt - auch eine gewisse umweltpolitische Brisanz gewinnen kann. Nachdem eine Seminargruppe begriffen und am eigenen Körper erfahren hat, daß ein Kajak oder ein Kanadier nicht mit dem bloßen Intellekt zu bewegen und zu steuern ist, paddelt man auf der Lauchert, einem reizvollen Wiesenfluß auf der Schwäbischen Alb. Der Streckenabschnitt ist weitgehend eingebettet in ein Landschaftsschutzgebiet, Reste der Talwiesenbewässerung sind zu erkennen, zahlreiche Mäander lassen nach jeder Biegung neue Entdeckungen und Wahrnehmungen zu. Eine der Wahrnehmungen ist dann der Zufluß eines kleinen Baches, dessen Wasser jedoch in den gängigen Modefarben der Saison schillert: flußoberhalb ist eine Bekleidungsfabrik gelegen, die gelegentlich Stoffarben auf diese Weise "entsorgt". Diese ungeplante Beobachtung verleiht dem, an einem späteren Abend folgenden inhaltlichen Programmpunkt, der sich mit Oberflächenwasser, Grundwasser und Abwasser beschäftigt, eine entsprechende Aktualität und Ernsthaftigkeit.

Diese Art des Lernens, die in erlebnispädagogischen Seminaren inszeniert und gepflegt wird, lebt von der steten Wechselwirkung, die sich aus dem Zusammenspiel aktiver (Naturbeobachtung, Erkundung, Exkursion, sportliche Betätigung) und reflexiver Handlungsformen (Expertengespräch, Vortrag, Kreisgespräch, Phantasiereisen) ergibt. Kennzeichnend sind Seminarblöcke, die gleichermaßen emotionale und rationale Lernprozesse zulassen. Können in dem Seminar "Was(s)erleben" die Exkursionen im Nahbereich und die gezielt angeleiteten Beobachtungen während der Kajakausfahrten den handlungsorientierten Lernformen zugerechnet werden, so wurde während der sog. "Info-Blöcke" Wert darauf gelegt, den Nahbereich zu verlassen und sich mit komplexen und (umwelt)politischen Sachverhalten zu beschäftigen.

Ökologischen Bildungsveranstaltungen wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, daß "in erster Linie nach einer auf konkrete Praxis verkürzten Handlungsorientierung Ausschau gehalten wird" [43]. Ist man sich der Problematik bewußt, daß eine ausschließliche Handlungsorientierung die Gefahr in sich birgt, andere Dimensionen des politischen Lernens zu vernachlässigen, bedarf es informativer Bausteine (Vortrag, Präsentation, Diskussion, Expertengespräch), die als Korrektiv wirken und politische Sachverhalte zum Gegenstand der jeweiligen Seminareinheit machen.

So wurden die kreativen, sportlichen und handlungsorientierten Phasen in dem Seminar "Was(s)erleben" durch inhaltliche Themenblöcke ergänzt, die

  • die Problematik der Wasserressourcen der Erde beleuchten. Die Diskussion über Grundwasser, Oberflächenwasser und Abwasser wird dann spannend, wenn die Frage entsteht, wie der "Vorrat" wieder aufgefüllt wird. Maßnahmen zur Reduktion der Verdunstung (z.B. den Regen so nah als möglich am Ort des Niederschlags zu sammeln) und andere Techniken der "Wasserernte" lassen erkennen, wie Wasser zu einer produktiven Ressource werden kann.
  • den Wasserverbrauch in industrialisierten und weniger entwickelten Ländern in Abhängigkeit vom Wohlstandsniveau, dem Umfang der Produktionssektoren sowie der vorherrschenden Technologie thematisieren. Fragen, die unmittelbar die Notwendigkeit von Einschränkungen - auch im privaten Haushaltsbereich - provozieren.
  • Gründe für Wasserknappheit (Trockenheit, Austrocknung, Versteppung, starke Wasserbeanspruchung) und die Ursachen von Konflikten um das Lebenselement Wasser erörtern.
  • die bundesrepublikanische Gewässerverschmutzung und den Gütezustand der Flüsse aufgreifen.
  • am Beispiel einer Gemeinde im lokalen (und damit überschaubaren) Bereich Möglichkeiten des sparsamen Umgangs mit Wasser und sinnvolle Technologien für Abwässerreinigung sichtbar werden lassen.

Auch das Seminar "Zwischen Himmel und Hölle" war konzeptionell so angelegt, daß durch Info-Blöcke die Erörterung komplexer (umwelt)politischer Zusammenhänge gewährleistet war. Im Rahmen dieser reflexiven Bausteine

  • wurde die ökologische Sensibilität von Karstgebieten thematisiert. Gerade in Karstgebieten sind die Selbstreinigungskraft des Wassers und der Filtrationseffekt sehr gering. Das unterirdisch nach allen Richtungen weggehende Wasser hat eine extrem hohe Fließgeschwindigkeit. Welche verheerenden Auswirkungen entstehen, wenn Höhlen als wilde Müllkippen benutzt werden, veranschaulichten nicht nur Dias. In einer der folgenden Höhlenbefahrungen fand ein Teil der Seminargruppe ausgediente landwirtschaftliche Geräte sowie ein altes Ölfaß.
  • kam der Sachverhalt zur Sprache, daß die begehbaren Höhlen der Schwäbischen Alb, in denen es fragile und hochempfindliche Formen von Jurafossilien gibt, systematisch von Touristen und Mineraliensammlern geplündert werden. Unter diesem Gesichtspunkt gewann die Diskussion darüber, ob Höhlenbegehungen generell durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen (Gitter oder Mauern) verboten werden eine neue Perspektive;
  • wurden Fledermäuse unter exemplarischen Gesichtspunkten als Bewohner eines Ökosystems dargestellt, die durch menschliche Eingriffe in ihren Lebensraum zu leiden haben. Seit Jahren war der Fledermausbestand auf der Schwäbischen Alb rückläufig. Bestände von winterschlafenden Tieren, die noch 1950 in einer Höhle mit 2000 Tieren angegeben wurden, waren im Jahre 1975 auf 20 Exemplare geschrumpft. Neben dem Verbot von Pestiziden und Herbiziden, die den Nahrungsbestand von Fledermäusen vergifteten, konnte die ehrenamtliche Arbeit einer Gruppe von Höhlenforschern im Landkreis Reutlingen, die alljährlich Winterverschlüsse an den Höhlen anbringen, gewürdigt werden. Aufgrund dieser Maßnahmen war eine deutliche Vermehrung des Fledermausbestandes festzustellen.
  • konnte die symbolische Bedeutung von Höhlen als Orte zwischen Geborgenheit und Gruft, zwischen Bedrohung und Behausung verortet werde , so "wie der Mensch vor der Geburt im dunklen Paradies des mütterlichen Bauches lebt und nach seinem Tod dem Dunkel der Erde übergeben wird" [44]. Höhlen bekommen in mythologischen, kulturellen und literarischen Produkten häufig einen symbolischen Gehalt zugesprochen oder finden als Sinnbilder Verwendung. Von daher war es auch naheliegend, sich im Rahmen des Seminars unter anderem mit dem Höhlengleichnis von Platon zu beschäftigen.
  • wurde die Höhle nicht zuletzt zu einem Erfahrungsraum für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Höhle wurde zur "Metapher des Lebens, mit Sackgassen, Engpässen, Schlammgängen, Hindernissen, unverhofften Ausgängen, Labyrinthen, weiten Hallen, Licht und Dunkel" [45].

3.2 Zusammenleben und Kooperation anstatt sportlicher Höchstleistung

Ein konzeptioneller Schwerpunkt erlebnispädagogischer Seminare ist das Zusammenleben der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, einschließlich der Seminarleitung, in einer Selbstversorgerhütte. Gerade durch die Notwendigleit, das Zusammenleben auf engem Raum organisieren zu müssen, werden Lernprozesse im Bereich des sozialen Lernens angestrebt. Die Beschreibung von Stefan Boos verdeutlicht, daß individuelle Freiräume Einzelner zugunsten der Gruppe eingeschränkt werden müssen:

"Die Selbstversorgerhütte von 'alb ergo' bietet den Teilnehmern der Seminarwoche zwischen den natursportlichen Aktivitäten im Freien mit seiner gemütlichen Atmosphäre einen idealen Rahmen zur Erholung von den Anstrengungen der Aktionen und zur Rückbesinnung auf die Ereignisse der einzelnen Tage. Hierfür stehen den Teilnehmern unter anderem ein großer Seminar- und Speiseraum sowie in einem zweiten Raum im Erdgeschoß eine Sitzgruppe und eine große 'Kuschelecke' neben dem holzbeheizten Kachelofen zur Verfügung. Eine funktional ausgestattete Küche mit Gasherd und Backofen, Kühlschrank und Geschirrspülmaschine bietet den Teilnehmern alle Möglichkeiten für die tägliche Versorgung. Zwei getrennte Sanitärbereiche mit Duschen, Waschbecken und WCs bieten ausreichend Kapazität für die Körperpflege der Gruppen. Untergebracht sind die Teilnehmer während der Woche in drei Mehrbettzimmern, die insgesamt maximal 20 Personen Platz bieten (...) Für einen angenehmen und erfolgversprechenden Ablauf der Woche ist eine Voraussetzung, daß sich alle Teilnehmer verantwortlich für die Erledigung der verschiedensten haushaltstechnischen Aufgaben einsetzen. Darunter fallen insbesondere die Zubereitung des morgendlichen Frühstücks, das Kochen des Abendessens bzw. die Aufgabe, fertig Gekochtes aus der Gaststätte zu holen, falls der Zeitplan bei den Aktionen keinen Spielraum für das Kochen läßt, Tischdecken und -abräumen sowie das Putzen der Sanitär- und Gemeinschaftsräume." [46].

Diese Rahmenbedingungen fordern ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, verlangen Kooperation und gegenseitige Rücksichtnahme [47]. Das relativ enge Zusammenleben bringt es mit sich, daß eine Vielzahl unterschiedlichster Bedürfnisse und Gewohnheiten arrangiert werden müssen. Die in jeder Seminargruppe rasch identifizierbaren Schnarcher und das unterschiedliche nächtliche Durchhaltevermögen sowie die Regelung haushaltstechnischer und hygienischer Abläufe machen die Notwendigkeit von Absprachen und Vereinbarungen rasch einsichtig. Dieses einwöchige Zusammenleben ermöglicht für Seminarteilnehmer ein Überprüfen, Abklären und gelegentliches In-Frage-Stellen von individuell praktizierten Handlungsmustern und Gewohnheiten. Da die Teilnehmer sich für diesen fest umrissenen Zeitraum von ihrem alltäglichen Lebens- und Arbeitsprozeß, von ihren gewohnten Rollen distanzieren können, erhalten sie die Gelegenheit, ihr Handeln auf die Gruppe abzustimmen und in Gruppenzusammenhängen ausprobieren zu können.

Durch das Zusammenleben und die alltagspraktischen Verrichtungen verwandelt sich die anfänglich formale Gruppe der frisch eingetroffenen Teilnehmer in eine lebendige und lustige Seminargruppe, deren Klima von gegenseitiger Wertschätzung, Achtung und Hilfsbereitschaft geprägt ist. Der Gruppenzusammenhang "stellt sich ohne gruppendynamischen Methodenzauber fast von selbst her" [48]. Fällt dann während einer Abschlußbesprechung der Satz: "...und Kaffeekochen konnte er auch nicht!", so bezieht sich dies weniger auf die haushaltstechnischen Qualitäten eines männlichen Teilnehmers. Vielmehr war es eine lustige Auszeichnung für denjenigen, der während der Paddelei eine ungewöhnlich hohe Häufigkeitsrate von ungewollten Schwimmübungen erzielt hatte.

Dieses kooperative Moment spielt auch im sportlichen Bereich eine gewichtige Rolle. Während der Anfangsphase der Seminare sind Kennenlernspiele und sog. Initiativspiele ein fester Bestandteil des Programms. Sich daraus ergebende Herausforderungen dienen vornehmlich dem Einüben kooperativer Verhaltensweisen. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen können sich mit ihren Stärken einbringen oder an ihren Schwächen arbeiten, um so zur Konsolidierung der Gruppe beizutragen.

Spinnennetz

Zwischen zwei Bäumen wird ein Spinnennetz mit Hilfe eines Seils gespannt. Es beginnt einen halben Meter über dem Boden und endet in einer Höhe von zwei Meter. Je nach Anzahl der Teilnehmer müssen zwischen 15 - 20 Löcher in verschiedenen Höhen und verschiedener Größe in das Netz geknüpft sein. Aufgabe der Gruppe ist es nun, alle Teilnehmer durch die Löcher im Netz zu schleusen, wobei die Berührung des Netzes untersagt ist. Diejenige Person, die einmal durch das Netz hindurch ist, darf nicht mehr auf die andere Seite zurück, um den Restlichen zu helfen. Die Hilfe kann nur von derjenigen Seite aus erfolgen, auf der er sich die hindurchgeschlüpfte Person befindet [49].

Seilschwingen

Beim "Seilschwingen" wird die Seminargruppe vor die Aufgabe gestellt, von einem Baum aus einen zwar seichten, aber trotzdem nassen Bach zu überwinden und alle 16 Mitglieder der Gruppe auf eine relativ kleine Insel zu bringen, die sehr wenig Raum bietet. Vorgabe dieser Aktion ist die Anweisung, daß kein Mitglied der Gruppe mit Wasser in Berührung kommen darf (Passiert ist dies natürlich trotzdem!). Einzige Hilfsmittel sind ein Tau, ein Klettergurt sowie ein Karabinerhaken [50].

Da die Aufgabe erst dann als gelöst betrachtet ist, wenn alle Gruppenmitglieder die andere Seite des Netzes bzw. die trockene Insel erreicht haben, fördern diese spielerischen Übungen außer der Anwendung kreativer Problemlösungsstrategien die Zusammenarbeit und Diskussionsfähigkeit der Gruppe, da die Aufgabenstellung nicht von einer einzelnen Person zu lösen ist. Genauso wichtig ist die Intention, daß notwendigerweise Körperkontakt aufgenommen werden muß und somit Berührungsängste abgebaut werden. Damit auch die letzten Teilnehmer die Insel trockenen Fusses erreichen, ist das gegenseitige Festhalten, Umklammern und das Auffangen der gerade Heranschwingenden notwendig.

Bei diesen natursportlichen Seminarphasen erkennen die Teilnehmer schon bald, daß der Erfolg des angestrebten Vorhabens vor allem vom Funktionieren der Gruppe abhängig ist. Von besonderer Bedeutung ist die Erkenntnis, daß die Gruppe nur so stark ist wie ihr schwächster Teilnehmer. Am Beispiel des "Baumkletterns", einer Vorübung für die späteren Kletteraktionen, wird dieser Anspruch deutlich:

"Im ersten Moment stellt sich dem Leser vielleicht die Frage, was am Klettern auf einen Baum so besonders sein soll, und vor allem, wo dabei erlebnispädagogische Aspekte und Elemente wiederzufinden sind. Diese Fragestellung drängt sich insbesondere dann auf, wenn eigentlich davon ausgegangen werden kann, daß fast jeder Mensch in seiner Kindheit und frühen Jugend diesbezügliche Erfahrungen beim Äpfel- und Kirschen-'Hamstern', in den Obstbäumen der Umgebung oder beim Bauen eines Baumlagers, beim Spiel im Wald sammeln konnte. Das besondere und eigentlich Neue bei dieser Aktion ist jedoch, daß es eben nicht darum geht, daß jeder alleine einen Baum im Feld oder Wald erklimmt und sich daraus eventuell noch ein Wettbewerb um die höchste und schwierigste Besteigung entwickelt. Beim erlebnispädagogischen Baumklettern als Programmpunkt (...) wird den Teilnehmern die Aufgabe gestellt, einen ca. 25 Meter hohen Nadelbaum, der von den Verantwortlichen dafür ausgesucht wurde, gemeinsam in der Gruppe zu erklettern. Die Teilnehmer werden hierzu von den Betreuern in zwei, vom physischen Leistungsvermögen und der sportlichen Begabung her betrachtet möglichst heterogene Halbgruppen a´sechs bis acht Personen eingeteilt, die sich an zwei nebeneinanderstehenden, nahezu gleichhohen und -schwierigen Bäumen versuchen dürfen. Die Mitglieder der beiden Klettergruppen sind bei dieser Aktion durch ein Alpinseil miteinander verbunden, in das sie sich in einem jeweiligen Abstand von ca. zwei Metern voneinander mit ihren Klettergurten einbinden. Sie sichern sich durch diese 'Seilschaft' im Baum selbst" [51].

Zu den ersten Anforderungen zählt bereits die Bewältigung der ohne Hilfestellung nicht erreichbaren unteren Äste. Um den ersten Astkranz der beiden Bäume erklimmen zu können, erinnert sich gar so mancher Teilnehmer an das Prinzip der "Räuberleiter". Bei dieser natursportliche Übung wird der Rhythmus der Gruppe auf das schwächste und bzw. oder ängstlichste Mitglied abgestimmt. Diese Tatsache ist für physisch stärkere Teilnehmer zunächst eine ungewohnte Herausforderung. So konnte man während des Kletterns beobachten, daß rücksichts- und verständnisvoll mit der Angst einzelner Teilnehmer umgegangen wurde, daß die Defintion des Gruppenzieles - die gewünschte Kletterhöhe - stets unter Beachtung jeder einzelnen Gruppenstimme erfolgte. So bestimmte das schwächste Mitglied der Gruppe den Zeitpunkt der Umkehr.

An dieser Übung kann ein weiteres Prinzip der Erlebnispädagogik verdeutlicht werden. Um einen höchstmöglichen Sicherheitsstandard gewährleisten zu können, erfordert diese Übung eine sorgsame und genaue Einweisung der Teilnehmer in das Klettermaterial. Die persönliche Verantwortung für das - jedem Teilnehmer zur Verfügung gestellte - Klettermaterial (Brust- und Sitzgurt, Helm, Karabinerhaken usw.) setzt eine Beherrschung und vorherige Einübung in Funktion und Handhabung ein. Zudem werden die wichtigsten Sicherungs- und Abseiltechniken gemeinsam geübt und von jedem Teilnehmer angewendet. Erneut kommt ein sozialer Moment ins Spiel: Jedem, der schon einmal an einem Kletterseil hing, kommt gelegentlich die bange Frage in den Sinn, ob er sich auf die Person verlassen kann, die das Kletterseil absichert.

Aufgrund dieser und weiterer Kletterübungen, deren Schwierigkeitsgrad im Laufe der Woche zunahmen, konnten am Ende der Seminarwoche schließlich alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen das Abseilen in unterschiedlich tiefe Schachthöhlen (17 bzw. 40 Meter Tiefe) der Schwäbischen Alb wagen und das anschließende mühsame Hochklettern mittels Steigklemmen auf sich nehmen.

Jeder einzelne konnte bei dieser physischen und psychischen Herausforderung neue Erfahrungen gewinnen, mußte Ängste und innere Widerstände verarbeiten. Trotz vorherigen Höhlenbegehungen, trotz der Erfahrung von Dunkelheit, Nässe und dem zeitweiligen Gefühl des Eingesperrtseins kostet es Überwindung, sich durch ein Loch im Waldboden zu zwängen und dann am Seil hängend sich langsam ins Dunkel hinabzulassen. Ähnliche Gedanken stellen sich beim anstrengenden Hochklettern ein. Das Gelöbnis, den Nikotinkonsum nun doch endlich zu reduzieren, ist noch die harmlosere kognitive Leistung. Trotz der Doppelsicherung mit einem zweiten Seil ist die Anstrengung des Aufwärtskletterns an einem baumelnden und ständig um sich selbst drehenden Kletterseil mit dem Gedanken gepaart, ob man aus eigener Kraft wieder oben angelangt.

Wenn auch die zuletzt geschilderte Aktion im Gegensatz zu den anderen Programmpunkten eher im individuellen Erfahrungsraum angesiedelt ist, werden diese Aktivitäten gezielt in gruppenbezogene Zusammenhänge gestellt. Damit dieses individuelle Moment nicht zu übergewichtig wird, dienen die gemeinsame Planung des Vorhabens, die gemeinsame Wanderung zur Höhle und das Auffinden des Höhleneingangs in Kleingruppen dem sozialen Anliegen der Erlebnispädagogik. So wird am Vorabend der jeweiligen Höhlenbefahrung der Schwierigkeitsgrad der Höhle von der Gruppe selbstsändig bestimmt. Die betreuenden Personen greifen in diesen Prozeß gewöhnlich erst dann ein, wenn das geplante Vorhaben die Leistungsfähigkeit einzelner Teilnehmer übersteigt.

4. Erlebnispädagogik: Nur eine pädagogische Sahnehaube?

Betrachtet man die beiden Seminarverläufe und die Praxisschilderungen, so zeigt sich die ineinander verwobene Struktur der aktiven und reflexiven Handlungsstränge: handlungsorientierte, kreative, sportliche, gruppenbezogene Arbeitsformen lösen diskursive und reflexive Phasen, die dem Wissenserwerb und der Auseinandersetzung mit ökologischen und politischen Sachverhalten dienen, ab. Die wechselnden Handlungs- und Arbeitsformen bieten die Gewähr, daß gleichermaßen emotionale und rationale Lernprozesse ermöglicht und zugelassen werden. Entscheidend ist es, möglichst viele Verknüpfungen und Verbindungen zwischen den eher kognitiv behandelten Themenfeldern und den Erlebnisse im Nahbereich zu schaffen. Gerade die enge Verzahnung von Erfahrung und Wissensvermittlung macht den (nicht nur didaktischen) Reiz solcher Seminare aus. Da die Vermittlung des Wissens aus zweiter Hand entfällt, fördern die Erkundungen und Entdeckungen ein aktives, fragendes Verhalten der Seminarteilnehmer, das sich in den thematisch gewichteten Seminareinheiten widerspiegelt.

Entscheidend für die Attraktivität erlebnispädagogischer Seminarwochen ist nicht die scholastische Handhabung des Wechsels von aktiven und reflexiven Arbeitsformen, sondern der vielfältige Einsatz von Methoden, die der jeweiligen Seminargruppe sowie den inhaltlichen Fragestellungen angemessen sind. So geht es auch in diesen Seminaren letztlich um die durchdachte Kombination von neuen methodischen Ansätzen mit erprobten Standardbausteinen der politischen Erwachsenenbildung. Sollten die Teilnehmer dann am Ende das Gefühl haben, eher einen Bildungsurlaub absolviert zu haben, so muß dies nicht unbedingt gegen die Qualität des erlebten Lernens sprechen [52].

Die zuletzt geäußerte Beobachtung provoziert die Frage, ob denn nun erlebnispädagogisch orientierte Seminare den Ansprüchen genügen, die gemeinhin an die politische Bildungsarbeit zu stellen sind. Erlebnispädagogik sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, daß diese "Schonraum-Pädagogik" [53] keine Übertragung des erworbenen ökologischen Wissens und sozialen Verhaltens in alltägliche Anwendungssituationen zu garantieren vermag [54]. Dafür werden eine Reihe stichhaltiger Gründe geltend gemacht: Die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand sei zu kurzfristig. Die euphorische Grundstimmung, die während erlebnispädagogischen Seminaren vorherrscht, werde von der "Brisanz der Backhome-Situation" [55], die durch die Komplexität und Andersartigkeit der Ernstsituationen in Leben und Alltag entsteht, abgelöst. Zudem blockiere das Freizeitgefühl solcher Seminare die Transfermotivation der Teilnehmer und Teilnehmerinnen [56]. Diese Skepsis hinsichtlich langfristiger Wirkungen ist verständlich und wird "als die Gretchenfrage' insbesondere an die Erlebnispädagogik herangetragen, ohne daß im gleichen Maße andere kurzzeitpädagogische Maßnahmen im Rahmen politischer oder auch ökologischer Bildung kritisch hinterfragt werden" [57]. Wenn man zunächst an die originären Zielgruppen erlebnispädagogischer Bemühungen - in der Regel sind dies Schüler und Jugendliche - denkt, mag diese Skepsis nachvollziehbar sein. Werden doch einmal gemachte Erfahrungen im Jugendalter durch andere Sozialisationsinstanzen (Familie, peer-group, Schule und Betrieb), die weitaus prägendere Kräfte entfalten, überformt und modifiziert. Trotz diesem Dilemma - das übrigens jeder Erziehungs- und Bildungsbemühung innewohnt - muß die jugend- und sozialerzieherische Potenz der Erlebnispädagogik im Umgang mit jugendlichen Zielgruppen gewürdigt werden [58].

Zu bedenken ist jedoch, daß die beiden beschriebenen Seminare Bildungsveranstaltungen waren, die ausschließlich von Erwachsenen besucht wurden. Dem entsprechend ist die Fragestellung hinsichtlich dessen, was den "Erfolg" politischer Bildung ausmacht, anders zu gewichten. Erwachsene Adressaten bringen sehr unterschiedliche Sozialisationsverläufe und Biografien in Bildungsveranstaltungen mit.

Wirkung und Reichweite politischer Erwachsenenbildung muß daher "immer relativiert werden um das, was bereits vorher an politischer Bildung und politischer Sozialisation erfahren bzw. zugrundegelegt wurde" [59]. Erwachsene lassen sich in ihren Wertorientierungen und Einstellungen nur schwerlich von einer kurzfristigen Bildungsveranstaltung umstimmen. Zudem besuchen erwachsene Interessenten oftmals Bildungsveranstaltungen, die ihre bisherige Selbstdefinition eher stützen und nicht in Frage stellen. Diese Vorbehalte sind keine neu erfundenen Argumente. Wer in der politischen Bildung einer gezielten Änderung von Einstellungen und letztlich von Verhaltensweisen Vorschub leisten will, begibt sich in ein klassisches Konfliktfeld der Pädagogik und Didaktik [60]. Teilnehmerorientierte Seminare in der politischen Bildungsarbeit, die auf dem Prinzip der freiwilligen Teilnahme beruhen, zeichnen sich durch ein anderes Bildungsverständnis aus: "Ob die Teilnehmer sich den ihnen offerierten Wissens- und Verhaltensangeboten gegenüber offen zeigen, sie adaptieren und nutzen, ist ihnen schon vom Konzept (...) her freigestellt" [61].

An der sog. Transferfrage, die an die Erlebnispädagogik gerichtet wird, zeigt sich zum anderen die grundsätzliche Problematik jeglicher Effizienzmessung im Bildungsbereich: "Überall wird untersucht, gemessen und gewogen - und manches wird für zu leicht befunden" [62]. Bedingt durch die äußerst dürftige Informationslage und die unzureichende empirische Datenbasis bleiben bei der Einschätzung der Wirkungen, die politische Bildungsveranstaltungen hinterlassen, nur fragmentarische Kenntnisse übrig. Den endgültigen "Beweis ihrer Effizienz wird die politische Bildung nie liefern können" [63]. Damit soll nicht die Wirkungslosigkeit der beschriebenen Seminare herbeigeredet werden. Vielmehr wäre hinsichtlich der Effizienzfrage etwas mehr Gelassenheit angezeigt.

Das ausschlaggebende Argument für die Durchführung erlebnisorientierter Seminare muß an einer anderen Stelle als der bloßen Effizienzfrage verortet werden. Wenn die im Eingangskapitel formulierte Annahme stimmt, daß "die Vielfalt der Lebensstile wächst und der Zug zur Individualisierung zunimmt, dann ist das allein schon ein Grund, darauf in der Methodik politischer Bildung mit Vielfalt zu reagieren" [64]. Wenn weiterhin der Tatbestand Zustimmung findet, daß das "Erlebnis" in diversen Branchen vereinnahmt und vermarktet wird und unter dem Signum der "neuen Subjektivität" Huldigung erfährt, so kann dieser Zeitgeist als didaktische Herausforderung und Chance verstanden und behutsam genutzt werden. Dies soll kein Plädoyer für die beliebige Adaption aktueller Strömungen und Gesellschaftsdiagnosen, für die Anpassung der politischen Bildung an den "main stream" kultureller und sozialer Tendenzen und Befindlichkeiten sein. Vielmehr könnte sich die Erlebnispädagogik zu einem (wiederentdeckten) methodischen Ansatz neben anderen entwickeln, der zu einer Erweiterung des Repertoires in der Praxis der Bildungsarbeit führt. Gelingt es, originäre Arbeits- und Themenfelder der politischen Bildung mit attraktiven Methoden zu verbinden, so ist dies allemal eine Rechtfertigung für "pädagogische Sahnehäubchen", die eine Verzierung und Bereicherung der alltäglichen Arbeit darstellen.

Anmerkungen:

1) Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York 1992, S.13
2) DER SPIEGEL, 8/1996, S.173
3) So der Titel des Buches von Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. Diese Gesellschaftsanalyse, deren Erscheinung zeitgleich mit den Folgewirkungen von Tschernobyl datierte, griff das manifest gewordene Unbehagen an und das erschütterte Vertrauen in Großtechnologien auf, bündelte die Kritik an der modernen Industriegesellschaft und mündete in die (immer noch) aktuelle Debatte um die Zukunft moderner Industriegesellschaften. Zentrale Inhalte sind zudem die Tendenzen des gesellschaftlichen Wandels (z.B. Individualisierung und gleichzeitige Enttraditionalisierung von Lebensformen).
4) DER SPIEGEL, 8/1996, S.184
5) Gerhard Schulze (vgl. Anm. 1), S. 21
6) a.a.O., S.33
7) So der gleichlautende Titel des Buches von Gerhard Schulze (vgl. Anm. 1). Vgl auch die pointierte Zusammenfassung und brauchbare Einführung von Gerhard Schulze: Entgrenzung und Innenorientierung. Eine Einführung in die Theorie der Erlebnisgesellschaft. In: Gegenwartskunde, 4/1993, S. 405-419. Gerhard Schulze beschreibt seine Theorie der Erlebnisgesellschaft als "eine Momentaufnahme unserer Gesellschaft im Prozeß der Veränderung" (a.aO., S.405). Abschließend wird die Prognose gewagt, daß "ökologische und wirtschaftliche Probleme (...) jene Entgrenzung teilweise rückgängig machen" (a.a.O., S. 418), von der die derzeitige Erlebnisgesellschaft in ihrer vollen Entfaltung geprägt ist.
8) Vgl. Gerhard Schulze (vgl. Anm. 1), S. 59. Zugleich hat sich ein stetig expandierender Erlebnismarkt entwickelt: "Zu der privatwirtschaftlichen Antwort auf die Zunahme der Erlebnisorientierung gesellt sich die politische Reaktion einer allmählichen Anerkennung als ressortfähiges Bedürfnis, das kulturpolitisch, städtebaupolitisch, arbeitszeitpolitisch, familienpolitisch befriedigt werden soll. Erlebnisorientiertes Handeln ist schließlich ein Feld von Professionalisierung: Entertainer, Animateure, Reisebegleiter, Psychologen, Erwachsenbildner, Sozialarbeiter, 'Kulturarbeiter', Freizeitpädagogen bieten sich als berufsmäßige Erlebnishelfer an; Designer, Journalisten, Redakteure, Diskjockeys, Unterhaltungsplauderer in Radio und Fernsehen sorgen für ununterbrochene Abwechslung; neue Einrichtungen wurden (...) erfunden: Kommunikationszentren, Diskotheken, Kinokneipen".(a.a.O., S.59ff.)
9) Vgl. Gerhard Schulze (vgl. Anm. 7), S. 407.
10) Vgl. Gerhard. Schulze (vgl. Anm. 1), S. 40
11) Vgl. Gerhard Schulze (vgl. Anm. 7) S. 411)
12) Zu bedenken gilt jedoch folgendes: "Erlebniswünsche sind vage, flüchtig und anthropologisch offen, was dazu führt, daß erlebnisrationales Handeln oft schon beim Problem der Zielfindung stecken bleibt" (a.a.O., S. 411)
13) Hartmut Bölts: Umwelterziehung. Grundlagen, Kritik und Modelle für die Praxis, Darmstadt 1995, S. 56
14) Als grundlegende Einführung zur Zielgruppendiskussion in der politischen Bildung sei das Buch von Berthold Bodo Flaig/Thomas Meyer/Jörg Ueltzhöffer: Alltagsästhetik und politische Kultur. Zur ästhetischen Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation, Bonn 1993 empfohlen.
15) Klaus-Peter Hufer: Politische Erwachsenenbildung. Strukturen, Probleme, didaktische Ansätze - Eine Einführung, Schwalbach/Ts. 1992, S. 61. Klaus-Peter Hufer stellt die befürwortenden und kritischen Argumente, die sich mit der "neuen Subjektivität" ergeben, recht brauchbar gegenüber (a.a.O.).
16) Gerhard Schulze (vgl. Anm.1 ), S. 14
17) Gerhard Schulze (vgl. Anm. 7), S. 419
18) Gerhard Schulze (vgl. Anm. 7), S. 408
19) a.a.O.
20) Zum Themenbereich Rationalität und Emotionalität in der Praxis politischer Bildungsarbeit verweisen wir auf das Buch von Siegfried Schiele/Herbert Schneider: Rationalität und Emotionalität in der politischen Bildung, Stuttgart 1991 (Didaktische Reihe der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg)
21) Vgl. Klaus-Peter Hufer: Politische Bildung in Bewegung. Neue Lernformen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 1995, S. 13
22) Vgl. Hartmut Breß: Erlebnispädagogik und ökologische Bildung. Förderung ökologischen Bewußtseins durch Outward Bound, Neuwied 1994 (Schriftenreihe erleben&lernen, Band 3), S. 127
23) Das Konzept der Erlebnispädagogik feiert seit geraumer Zeit fröhliche Urstände. Erlebnispädagogische Methoden als bewußter Gegenpol zu intellektuellen Anforderungen und vornehmlich kognitiv ausgerichteten Bildungsveranstaltungen sind wieder neu entdeckt worden. Mit der Renaissance und Konjunktur dieses Ansatzes besinnt man sich auch wieder auf die reformpädagogischen Wurzeln der Erlebnispädagogik. Ausführungen zum "Gründungsvater" der Erlebnispädagogik, Kurt Hahn, und dessen pädagogischen und staatsbürgerlichen Intentionen finden sich in dem Buch von Wolfgang Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine ausführliche Darstellung, Weinheim und Basel, 4. Aufl. 1974. Als brauchbare Zusammenfassung sei das entsprechende Kapitel bei Hartmut Breß (vgl. Anm. 22) auf den Seiten 128-134 empfohlen. Ebenso kann die Darstellung des sozialpädagogischen Diskussionprozesses über die Diversifikation der Jugendarbeit und die Implementierung der Erlebnispädagogik an dieser Stelle nicht geleistet werden. Vgl. hierzu: Werner Michl: Höhlentour. Zur Integration von Körpererfahrung, Erlebnispädagogik und kultureller Praxis. In: deutsche jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit, Heft 11/1989, S. 485-489
24) Wolfgang Antes definiert den Begriff des Erlebnisses wie folgt: "Erlebnis ist unmittelbar, macht einen betroffen, ganz und gar, es ist nicht 100%ig kalkulierbar und von relativer Einmaligkeit (...). Sie werden mir ferner zustimmen, daß man ohne Wagnis kaum etwas erleben wird. Hinter Wagnis jedoch steht ein Wortspiel wie Wagemut. Wer etwas wagt, braucht Mut, wägt jedoch dabei ab, ohne tollkühn zu werden. Man nimmt sehr bewußt die Kalkulation des Risikos vor". Vgl. Wolfgang Antes: Erlebnispädagogik. Fundierte Methode oder aktuelle Mode? In: Jugendstiftung Baden-Württemberg (Hrsg.): Erlebnispädagogik. Theorie und Praxis in Aktion, Münster, 2. Aufl. 1993 (Praxishilfen der Jugendstiftung Baden-Württemberg), S. 11-23, hier: S. 12
25) Wir stützen uns hierbei im wesentlichen auf Hartmut Breß (vgl. Anm. 22), Wolfgang Antes (vgl. Anm. 24), Werner Michl (vgl. Anm. 24) sowie Elisabeth J. Wolf (vgl. Anm. 33).
26) Hartmut Breß (vgl. Anm. 22), S. 148
27) a.a.O., S. 148
28) a.a.O., S. 149
29) a.a.O., S. 150
30) Wolfgang Antes (vgl. Anm. 24), S. 16
31) Werner Michl (vgl. Anm. 24), S. 486
32) Gerd Michelsen/Horst Siebert: Ökologie lernen. Anleitungen zu einem veränderten Umgang mit der Natur, Franfurt/M. 1985. Gerd Michelsen und Horst Siebert bemerken hierzu: "Eine ökologische Bildung benötigt sinnliche Wahrnehmung und emotionales Engagement, aber auch die theoretische Erkenntnis von komplexen und abstrakten Zusammenhängen. (...) Eine an der Ökologie orientierte Bildung ohne ein reflexives Lernen greift zu kurz" (S. 85)
33) Vgl hierzu: Elisabeth J. Wolf: Erlebnispädagogik und ökologische Bildung. In: Siegfried Frech/Erika Halder-Werdon/Markus Hug/ (Hrsg.): Natur-Kultur. Perspektiven politischer und ökologischer Bildung, Schwalbach/Ts. 1997 (Didaktische Reihe der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg), S. n.n.
34) Vgl. hierzu die Einleitung des Buches von Siegfried Frech/Erika Halder-Werdon/Markus Hug (vgl. Anm. 33), S. n.n. ff.
35) Es geht also nicht darum, Bäume zu umarmen, den Waldboden zu durchschnüffeln, in Wald und Flur zu kreuchen, schmecken, kauen und verdauen. Dem Vorwurf des bloßen Naturerlebnisses begegnen erlebnispädagogische Ansätze gerade durch die Reflexionsphasen, die dem gedanklichen Innehalten und der kognitiven Bewußtmachung dienen.
36) Hartmut Breß (vgl. Anm. 22), S. 221
37) Eliasbeth J. Wolf (vgl. Anm. 33), S. n.n.
38) Wolfgang Antes (vgl. Anm. 24), S. 21
39) Befürworter der Erlebnispädagogik sehen sich häufig diesen Vorwürfen ausgesetzt. Gelegentlich hat man bei der Lektüre erlebnispädagogischer Projekt- und Praxisschilderungen daher den Eindruck, daß sich dieser wiederentdeckte Zweig der Pädagogik gegenüber etablierten Maßnahmen der Jugend- und Erwachsenenbildung rechtfertigen muß.
40) Georg Diesselhorst u.a. (Hrsg.): Parkland. Lexikon der Tiere, Stuttgart 1990, S. 488
41) So der entgeisterte und Verwunderung zollende Ruf eines Seminarteilnehmers.
42) Elisabeth J. Wolf (vgl. Anm. 33), S. n.n.
43) Vgl. hierzu: Hartmut Bölts (s.Anm. 13), der konzeptionelle Schwerpunkte der sog. "Naturerlebnispdäagogik" aufzeigt und die kritischen Befunde zu diesem didaktischen Ansatz zusammenstellt und deutlich benennt.
43) Vgl. Klaus-Peter Hufer (s. Anm. 15), S. 123 bemerkt hierzu: "Aber ist z.B. das Umstellen der Ernährung, die Pflege des eigenen Biotops, das Sammeln und Sortieren von Müll oder der Bau des eigenen - und teuren - biologisch einwandfreien Wohnhauses bei aller Notwendigkeit, dies so zu tun, auch bereits handlungsorientierte politische Bildung? Besteht hier nicht vielmehr die Tendenz und auch Gefahr, mit diesem derart individuell oder instrumentell verkürzten Handlungsbegriff andere Dimensionen des politischen Lernens - die Reflexion, das kritische Überprüfen, das Erarbeiten von Systemzusammenhängen, das bewußt distanzierte Urteilen etc. - zu vernachlässigen oder gar auszuklammern?" (a.a.O.)
44) Vgl. Werner Michl (s. Anm. 23), S. 488
45) a.a.O.
46) Stefan Boos: Die erlebnispädagogische Seminarwoche. In: Jugendstiftung Baden-Württemberg (s. Anm. 24), S. 29-49. Hier: S. 33. Die Darstellung von Stefan Boos schildert den Verlauf einer erlebnispädagogischen Seminarwoche mit Jugendlichen. Analoge Lernerfahrungen, wie sie hier mit erwachsenen Adressaten geschildert werden, lassen sich in dem lesenswerten Beitrag von bei Jugendlichen ausmachen.
47) Auch Stefan Boos (s. Anm. 24) kann ähnliche Erlebnisse berichten.
48) Thomas Ruffmann: Europa vor Ort erkunden. Politische Erwachsenenbildung vom Fahrradsattel aus. In: Klaus-Peter Hufer (s. Anm. 21), S. 163 -196, Hier: S. 195
49) Nach: Jugendsstiftung Baden-Württemberg (s. Anm. 24), S. 72
50) Nach: Stefan Boos (s. Anm. 46), S. 32
51) Stefan Boos (s. Anm. 46), S. 36ff.
52) Ähnliche Erfahrungen berichtet auch Thomas Ruffmann (s. Anm. 48), S. 190 ff.
53) Vgl. Hartmut Breß (s. Anm. 22), S. 155
54) Es kann an dieser Stelle keine ausführliche Diskussion der Transferproblematik erfolgen. Verwiesen sei auf Hartmut Breß (s. Anm. 22), S. 155 - 203, Wolfgang Antes (s. Anm. 24), S. 17-22 und J Bühler: Das Problem des Transfers. Kritisches zur erlebnisorientierten Kurzzeitpädagogik. In: deutsche jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit, Heft 2/1986, S. 71-76
55) Vgl. Josef Bühler (s. Anm. 54), S. 72
56) a.a.O.
57) Vgl. Hartmut Breß (s. Anm. 22), S. 155
58) Vgl. hierzu das Interview mit Jörg Ziegenspeck: Erlebnispädagogik will wirkungsvoll helfen, wo andere Hilfen versagen". In: Jugendstiftung Baden-Württemberg (s. Anm. 24) S. 107-111. Jörg Ziegenspeck charakterisiert das Dilemma folgendermaßen: "Dieser (...) Anspruch belastet die Diskussion bis in die heutigen Tage, weil damit von vornherein eine Überforderungstendenz entsteht und die Erlebnispädagogik zwischen die Mühlsteine beider Forderungen gerät: Auf der einen Seite sollmit erlebnispädagogischen Projekten eine vorbeugende Breitenwirkung erzielt werden ('Erlebnispädagogik für alle'), auf der anderen Seite soll jenen eine spezifische, gezielte und individuelle Hilfe zuteil werden, die bereits in einen von jenen berühmten Brunnen gefallen sind, die immer im Umfeld von sozialen Brennpunkten zu finden sind ('Erlebnispädagogik für wenige')". S. 111
59) Klaus-Peter Hufer (s. Anm. 14), S. 185
60) Vgl. hierzu: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Konsens und Dissens in der politischen Bildung, Stuttgart 1987 (Didaktische Reihe der Landeszentrale für politische Bildung)
61) Gerhard de Haan: Reflexion und Kommunikation im ökologischen Kontext. In: Heino Apel u.a.: Orientierungen zur Umweltbildung, Bad Heilbrunn 1993, S. 119 -172. Hier: S. 130
62) Siegfried Schiele: Politische Bildung in schwierigen Zeiten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte.
Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 47-48/1996, S. 3 - 8. Hier: S. 7
63) a.a.O.
64) Siegfried Schiele: Politische Bildung in Richtung auf das Jahr 2000. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 37-38/1991, S. 19 - 26. Hier: S. 24

Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Praktische politische Bildung. Stuttgart 1997, S. 120 - 147.

(c) 1997 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart

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