Thomas Retzmann
Inhalt
- Interesse an der Zukunft
- Kurzgeschichte der Szenario-Methode
- Was sind Szenarien?
- Prämissen und Grenzen der Szenario-Methode
- Anwendungsfelder der Szenario-Methode
- Wie entstehen Szenarien?
- Was geschieht mit den Szenarien?
- Was lernen Teilnehmer durch die Szenario-Methode?
Abbildungen:
Abb. 1: Der Szenario-Trichter mit den drei Grundtypen von Szenarien
Abb. 2: Tableau des dem Szenario zugrundeliegenden Zukunftswissens
Abb. 3: Maßnahmentableau
1. Interesse an der Zukunft
Interesse an der Zukunft zu nehmen, ist eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Wer wollte nicht wissen, wie seine persönliche Zukunft im Hinblick auf Gesundheit, Beruf, Familie, Lebenserwartung usw. aussieht? Und: Wer wollte - besonders heutzutage - nicht wissen, wie die ökonomische, ökologische und politische Zukunft der Menschheit aussieht? Das Interesse an der Zukunft ist so alt wie die Menschheit. Aus der griechischen Mythologie sind das Orakel von Delphi und Kassandra allgemein bekannt. Noch heute bezeichnet man Unheilsprophezeiungen als "Kassandrarufe". In der Gegenwart wird das Interesse der Menschen an ihrer individuellen Zukunft z. B. durch zweifelhafte Horoskope und vorgebliche Hellseher befriedigt. Das Interesse an der Zukunft der Menschheit befriedigen zweifelhafte Trendforscher ebenso wie seriöse Zukunftsforscher.
Das Interesse an der Zukunft der Menschheit nimmt offenbar zu. Die Dynamik des ökonomischen und politischen Wandels lässt die zukünftige Entwicklung immer ungewisser werden. Die drohenden globalen Umweltkatastrophen wecken weitere Zukunftssorgen und Zukunftsängste. Keineswegs ist mehr ausgemacht, dass "die" Zukunft aufgrund des technologischen und politischen Fortschritts besser ist als die Gegenwart. Ein solcher naiver Fortschrittsglaube ist obsolet. Stattdessen greift Zukunftspessimismus um sich und die Ohnmacht gegenüber der zukünftigen Entwicklung siegt über den politischen Gestaltungswillen. Die Zukunft erscheint so als unabwendbares Schicksal, das man nur annehmen kann, nicht aber als eine Vielzahl von Optionen (Zukünfte), die man ergreifen kann und muss. Es gilt daher, in der (außer-)schulischen Bildung Möglichkeiten einer rationalen Antizipation, intersubjektiven Bewertung und gemeinsamen Bewältigung zukünftiger Entwicklungen zu finden. Diesbezüglich bietet die Szenario-Methode die Chance, zukunftsfähige, d. h. insbesondere sozial- und umweltverträgliche Formen des Wirtschaftens, Konsumierens, Arbeitens und Lebens in Form von möglichen Zukunftsszenarien zu entwerfen und deren politische Umsetzung zu forcieren.
2. Kurzgeschichte der Szenario-Methode
Auch für die Szenario-Methode gilt der Satz: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge", denn sie hat - wie so viele Methoden (z. B. Planspiel, Assessment-Center) - ihren Ursprung im Militär. Um ihre Kriegskünste für den Ernstfall zu trainieren, haben Militärstrategen Szenarien möglicher Kriegskonstellationen entworfen und die Erfolgsaussichten möglicher Kriegsstrategien eruiert. Von Unternehmen wurde die Szenario-Methode entdeckt und angewandt, um sich auf zukünftige Marktentwicklungen, die in einer turbulenter werdenden Unternehmensumwelt immer weniger exakt abschätzbar werden, vorzubereiten.1 Kommunale Behörden und Bürgerinitiativen nutzen die Szenariomethode, um lokale politische Probleme wie z. B. die Zunahme des innerstädtischen Individualverkehrs zu lösen.2 Zukunftsszenarien können auch für die Erhaltung oder Wiedererlangung der ökologischen Zukunftsfähigkeit oder auch nur des politischen Gestaltungswillens fruchtbar sein. Man denke nur an das Szenario über die "Grenzen des Wachstums" angesichts der Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcenvorräte, das D. MEADOWS u. a. in ihrem gleichnamigen Bericht an den Club of Rome 1972 entworfen haben. Auch sind die Szenarien über die "voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhundert" als ein Ergebnis der Studie "Global 2000 - Der Bericht an den Präsidenten" zu erwähnen, welche der amerikanische Präsident J. CARTER 1977 in Auftrag gegeben hatte.3 Beide Zukunftsstudien haben das Umweltbewusstsein und die Umweltpolitik beeinflusst. Erst neuerdings wird versucht, die Szenario-Methode für schulische und außerschulische Lernprozesse im Rahmen der ökonomischen, ökologischen und politischen Bildung zu nutzen.4
3. Was sind Szenarien?
Szenarien sind keine Prophezeiungen, die auf einer einmaligen persönlichen Gabe des Propheten beruhen, keine Utopien, die den Realitätsbezug vollständig aufgeben, und auch keine Prognosen, die aus wissenschaftlichen Theorien logisch ableitbar sind. Szenarien sind nach GÖTZE sprachlich ausformulierte, hypothetische Zukunftsbilder von sozio-ökonomischen Problemfeldern, die möglichst viele alternative Entwicklungsmöglichkeiten berücksichtigen, systematisch entwickelt werden und ihr ihrer Entstehung für andere nachvollziehbar sind. Sie enthalten quantitative und qualitative Aussagen über Zukünfte und dienen der Orientierung und Entscheidungsvorbereitung.5 Die Szenario-Methode sieht vor, dass drei Grundtypen von Szenarien entwickelt werden:
- ein positives Extrem-Szenario (best-case-scenario), das die bestmögliche zukünftige Entwicklung modelliert. Es soll sich hierbei um eine Art "Wunsch-Szenario" handeln, das einen positiv bewerteten Zukunftszustand beschreibt, dessen tatsächliche Realisierung zwar unwahrscheinlich, aber niemals unmöglich sein darf. Es soll sich dabei nicht um einen "Wunsch-Traum" handeln, der Traum bleiben muss.
- ein negatives Extrem-Szenario (worst-case-scenario), mit dem nun die schlechtestmögliche Zukunftssituation modelliert wird. Es soll sich hierbei um eine Art "Horror-Szenario" handeln, d. h. einen negativ bewerteten Extremzustand, für den wiederum gilt, das er zwar unwahrscheinlich, aber niemals unmöglich sein darf.
- ein Trend-Szenario, bei dem die heutige Situation in die Zukunft fortgeschrieben wird. Es handelt sich hierbei um eine Art "weiter-so-wie-bisher-Szenario", mit dem eine Zukunft modelliert wird, die als eine "verlängerte Gegenwart" interpretiert werden kann. Es wird unterstellt, dass die Wahrscheinlichkeit des Trend-Szenarios höher ist als die Wahrscheinlichkeiten der beiden Extremszenarien. Daher der Name "Trend"-Szenario.
In der Literatur werden diese drei Grundtypen üblicherweise mittels des Szenario-Trichters veranschaulicht:
Abb. 1: Der Szenario-Trichter mit den drei Grundtypen von Szenarien
4. Prämissen und Grenzen der Szenario-Methode
So anschaulich man den Lernenden die Intention der Szenario-Methode mittels des Szenario-Trichters auch vermitteln kann, es darf doch in der wissenschaftlichen Fundierung und in der didaktischen Anwendung dieser Methode nicht vergessen werden, dass diese Darstellung mit "unausgesprochenen Unterstellungen" und "optischen Täuschungen" operiert, um es einmal überspitzt zu formulieren. Sie können leicht zu Missverständnissen bei den Lehrenden und Lernenden führen.
So suggeriert der "Trichter" aufgrund der "Schnittflächen" eine Dreidimensionalität, die nicht expliziert wird, denn lediglich die horizontale Zeitachse ist eingetragen und bezeichnet. Allzu leicht könnte der Verdacht der ideologischen Verschleierung entstehen, weil diese Eindimensionalität sich nicht mit der vorgeblichen Komplexität und Ganzheitlichkeit der Methode verträgt. Sofern eine solche Dreidimensionalität überhaupt erforderlich und erreichbar ist, so können die beiden anderen Achsen sicherlich nicht allgemeingültig bezeichnet werden. Sie müssen je nach zu bearbeitendem Problemfeld bestimmt werden. Das dürfte wohl der Grund für die faktische Eindimensionalität des dreidimensional erscheinenden Szenario-Trichters sein. Die Methode sieht die problemspezifische Achsenbezeichnung allerdings nicht vor.
Das Trendszenario wird idealtypisch etwa in der Mitte des Trichters angesiedelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Zukunftstrend nicht eher der negativ bzw. positiv bewerteten Extremausprägung angenähert sein kann. Es ist erst nach Durchführung der Szenario-Methode zu klären, wo das Trendszenario anzusiedeln ist.
Die Verbindung der Extrem- und Mittelpunkte der Schnittflächen durch eine gerade bzw. eine geschwungene Linie unterstellt eine insgesamt kontinuierliche Entwicklung von der Gegenwart zu einer zeitlich immer weiter entfernten Zukunft. Diskontinuierliche Entwicklungen werden von der Szenario-Methode offensichtlich nicht erfasst. Sie unterstellt mithin eine evolutionäre statt einer revolutionären Entwicklung.6 Dies ist nicht nur ein optisches Phänomen, sondern es spiegelt sich auch in der Stufung der Methode wider. Aus dieser Unterstellung folgt, dass der Trichter sich um so weiter öffnet, je weiter man sich auf der Zeitachse von der Gegenwart entfernt. Weniger metaphorisch gesprochen bedeutet dies: Die Summe möglicher Zukünfte steigt ebenso an wie die Möglichkeit ihrer extremen Ausprägung ins Positive wie ins Negative. Kurz gesagt: Langfristig sind mehr und extremere Zukunftssituationen möglich als kurzfristig. Das kann jedoch keineswegs für alle Problemfelder der Gegenwart pauschal behauptet werden. Was heute noch möglich ist, kann morgen schon als nicht wiederkehrende, eben "verpasste Chance" gelten.
Vergegenwärtigt man sich diese keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen der Szenario-Methode, so kommen die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und ihre "blinden Flecken" besser in den Blick. Auch mit ihr gelingt es nur - immerhin - partiell, die ungewisse Zukunft "in den Griff zu bekommen".
5. Anwendungsfelder der Szenario-Methode
Im Rahmen von Lernprozessen können Szenarien zu allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemfeldern entwickelt werden, die für die Lernenden zukunftsbedeutsam sind und als lösungsbedürftig und lösungsfähig angesehen werden, deren Entwicklung zwar ungewiss ist und dynamisch verläuft, auf die Einfluss jedoch genommen werden kann und soll. So hat WEINBRENNER u. a. Szenarien zu den Problemfeldern "Auto, Verkehr und Mobilität" sowie "Multikulturelle Gesellschaft" dokumentiert. Bei der Festlegung der Problemfelder, die mit der Szenario-Methode bearbeitet werden sollen, sind von den Lehrenden und Lernenden drei Vorentscheidungen zu treffen und im Hinblick auf die Lern- und Leistungsfähigkeit der Zielgruppe zu bedenken:
- sachliche Dimension: Das Problemfeld kann sehr weit oder sehr eng gefasst werden. Eine sehr weite Fassung wäre das Problemfeld "Wirtschaftliche Entwicklung". Enger gefasst wäre das darin enthaltene Problemfeld "Einkommensverteilung". Es könnte schließlich auf das Problem "Armut" oder gar auf das Problem "Armut im Alter" eingegrenzt werden.
- zeitliche Dimension: Es können kurzfristige, mittelfristige oder langfristige Zukunftsszenarien erstellt werden? V. REIBNITZ bezeichnet Zeithorizonte von fünf bis zehn Jahren als kurzfristig, von elf bis zwanzig Jahren als mittelfristig und von über zwanzig Jahren als langfristig.
- räumliche Dimension: Das Problem kann auf einen lokalen, regionalen, nationalen oder gar internationalen Raum bezogen werden. Man kann z. B. das Problem "Armut" räumlich auf eine bestimmte Stadt begrenzen oder aber auf die ganze Welt entgrenzen.
Bei der Bestimmung des zu bearbeitenden Problemfeldes müssen insbesondere die kognitiven Fähigkeiten der Informationsverarbeitung aber auch die kreativen Phantasiepotentiale der Zielgruppe berücksichtigt werden. Tendenziell gilt, dass die Anforderungen an Kognition und Kreativität der Teilnehmer um so höher sind, je weiter, langfristiger und globaler das Problem definiert wird. Arbeitet die Zielgruppe zum ersten Mal mit der Szenario-Methode, so sollte das Problem eher klein und überschaubar dimensioniert werden. Je vertrauter die Zielgruppe mit der Szenario-Methode ist und je mehr Anwendungsgelegenheiten sie bereits hatte, um so eher wird sie auch langfristige und globale Probleme mit dieser Methode bearbeiten können.
6. Wie entstehen Szenarien?
Zukunftsszenarien können nicht ad hoc formuliert werden, sie müssen in einem stringent aufgebauten Prozess entwickelt und systematisch vorbereitet werden. Die Teilnehmer müssen erst das erforderliche Zukunftswissen erwerben und ihre Zukunftshoffnungen und -befürchtungen artikulieren. Szenarien, die im Rahmen der strategischen Unternehmensplanung entwickelt werden, sind sehr komplex und werden in einem sieben- bis achtstufigen Prozess systematisch entwickelt - ggf. sogar computerunterstützt. Für schulische Zwecke sind weniger komplexe und weniger gestufte Phasenmodelle sinnvoll, um einen rationalen Diskurs über umwelt- und sozialverträgliche Zukunftsgestaltung in Gang zu setzen. Es hat sich bewährt, Szenarien durch drei vorangehende Phasen vorzubereiten.
In Phase I ist das ausgewählte Problem zu beschreiben und durch Bestimmung der relevanten Einflussbereiche zu konkretisieren. So wurden in einem Seminar zur "Welternährung 2030" - ein globales, langfristiges Szenario - die maßgeblichen Einflussbereiche "Boden", "Genressourcen", "Bevölkerungsentwicklung" und "Energieeinsatz" ermittelt und den weiteren Lernschritten zugrundegelegt. In Phase II werden diese Einflussbereiche in arbeitsteiligen Gruppen weiter präzisiert, indem nach Einflussfaktoren gefragt wird, die den jeweiligen Einflussbereich besonders gut kennzeichnen und das Problemfeld beeinflussen. Für den Einflussbereich "Bevölkerungsentwicklung" wurden z. B. die Einflussfaktoren "Kultur", "Bildung", "Politik" und "Gesundheit" erarbeitet. Diesen Einflussfaktoren werden nun sogenannte Deskriptoren zugeordnet, die als qualitative oder quantitative Kenn- oder Messgrößen eine möglichst gute Operationalisierung des Einflussfaktors erlauben. Im Beispielfall wurden für den Faktor "Bildung" u. a. die Deskriptoren "Schulpflicht" und "Kinderarbeit" genannt. Diese Deskriptoren werden in Phase III nunmehr in die Zukunft projiziert und zwar sowohl im Sinne einer günstigen als auch im Sinne einer ungünstigen Entwicklung (z. B. Ausweitung der Schulpflicht, Reduzierung der Kinderarbeit et vice versa) für das Problem der "Welternährung" in 2030. Das folgende Tableau gibt einen Überblick über das von den Teilnehmern weitgehend selbständig erarbeitete Zukunftswissen, bevor es an die Modellierung der Szenario-Grundtypen geht. So holzschnittartig dieses Wissen auf den Experten auch wirken mag, so rasch übersteigt die Komplexität des Wissens doch das verarbeitbare Maß: Werden vier Einflussbereiche mit je drei Einflussfaktoren identifiziert, für die je drei Deskriptoren formuliert werden, so liegen bereits 36 Situationselemente vor, die jeweils in den Positiv-/Negativ-/Trend-Szenarien stimmig integriert werden sollten.
Abb. 2: Tableau des dem Szenario zugrundeliegenden Zukunftswissens (vergrössern)
Diese schrittweise erarbeiteten, zum gegenwärtigen Seminarzeitpunkt noch isolierten Wissenselemente und Einschätzungen über positive und negative Veränderungen einzelner Faktoren und Deskriptoren in der Zukunft sollen in Phase IV zu Szenarien modelliert werden, d. h. zu umfassenden, stimmigen und stabilen Bildern und Modellen möglicher Zukünfte, die Zukunftsentwicklungen und ihre Konsequenzen anschaulich sichtbar und diskutierbar machen7: "Szenarien verknüpfen empirisch-analytische mit kreativ-intuitiven Elementen und sind insofern ein heuristisches Instrument, ein Befragungsvehikel, ein Denkmodell für Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt für Pädagogik, um unsere komplizierte Welt überhaupt noch begreifen zu können und entscheidungsfähig zu bleiben."8 Nach WEINBRENNER sollen Szenarien folgende Merkmale erfüllen: ganzheitlich, kreativ-intuitiv, partizipativ und kommunikativ, transparent, kritisch, politisch, multidimensional und interdisziplinär, praktisch und normativ. Diese Eigenschaftsforderungen werden im Einzelfall mehr oder weniger erfüllt werden können. Sie zeigen allerdings, dass die Methode hohe Anforderungen an die Lernenden stellt.
7. Was geschieht mit den Szenarien?
Die Modellierung der Szenarien ist zwar ein Höhepunkt in dem fünfstufigen Ablauf, jedoch nicht der Schlusspunkt. Auf ihrer Grundlage sowie unter Berücksichtigung des erarbeiteten Wissens sollen in Phase V konkrete Ziele formuliert werden und konkrete Handlungsmöglichkeiten erarbeitet werden, die geeignet sind, die zukünftige Entwicklung dem best-case-scenario bestmöglich anzunähern. Sie können alle gesellschaftlichen Akteure adressieren und mit unterschiedlichen Zeithorizonten ausgestattet werden. Die Szenario-Methode leistet daher einen Beitrag zur politischen Bildung. Mit der Formel von der bestmöglichen Annäherung an den bestmöglichen Fall wird zugestanden, dass die politische Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft ein langer und langwieriger Prozess ist, dass Rückschläge einzukalkulieren sind und dass nicht einfach ein gesellschaftlicher Neuanfang für den nächsten Tag beschlossen werden kann. Oder wie Max WEBER es sagte: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich."9 Die analytische Vorgehensweise der Szenario-Methode fördert das Augenmaß, der Kontrast zwischen positivem und negativem Szenario die Leidenschaft. Und indem die Szenario-Methode schließlich nicht nur die naheliegenden, sondern alle möglichen Zukünfte berücksichtigen will, trägt sie methodisch dazu bei, dass es nicht die "Bretter vor dem eigenen Kopfe" sind, die hier durchbohrt werden müssen.
Abb. 3: Maßnahmentableau (vergrössern)
8. Was lernen Teilnehmer durch die Szenario-Methode?
Die Szenario-Methode spricht durch ihre Komplexität und Mehrdimensionalität mehrere Lernzieldimensionen an.10 Indem die Teilnehmer anzustrebende bzw. zu vermeidende Zukünfte modellieren, wird die affektive (Werte und Normen) und die emotionale (Hoffnungen, Sorgen und Ängste) Dimension des Lernens an entscheidender Stelle des Lernprozesses einbezogen. Die daraus resultierende Betroffenheit und Besorgtheit soll zur Erarbeitung und Umsetzung von individuellen und politischen Handlungsmaßnahmen motivieren. Um in einer Lerngruppe überhaupt gemeinsame Zukunftsbilder modellieren zu können, die als positiv oder negativ bewertet werden müssen, ist ein grundlegender Wertekonsens der Lernenden erforderlich, der nötigenfalls kommunikativ hergestellt werden muss.
Indem die Teilnehmer diese Zukunftsbilder systematisch aus vorhandenem bzw. im Prozess erworbenem Zukunftswissen entwickeln und die Entwicklungen der einzelnen Faktoren und Deskriptoren zu einem stimmigen Szenario zusammenfügen müssen, werden kognitive Fähigkeiten der Umsicht, der Weit- und Voraussicht trainiert. Diese Fähigkeiten sind für die politisch-moralische Urteilsfähigkeit der Lernenden bedeutsam.11 Da die Methode durchgängig kommunikative Prozesse in Kleingruppen und Plenum in Gang setzt, deren Ziel begründete und konsensfähige Einschätzungen, Wertungen, Positionen und Handlungen sind, werden soziale und kommunikative Fähigkeiten (u. a. Konflikt-, Konsens- und Kompromissfähigkeit) angesprochen. Indem auf der Basis von Zukunftswissen, Zukunftswünschen und Zukunftssorgen mikro-, meso- und makropolitische Handlungsmöglichkeiten für Individuen, Organisationen, Verbände und Regierungen) erarbeitet werden sollen, wird die politische Handlungskompetenz der Lernenden gefördert. Schließlich fördert die Methode durch ein hohes Maß an Teilnehmerorientierung das selbstgesteuerte Lernen und durch ihren stringenten Aufbau und ihre universelle Einsatzmöglichkeit die Methodenkompetenz.
Anmerkungen
1
Siehe z. B. GESCHKA / HAMMER 1992
und v. REIBNITZ 1991.
2
Siehe z. B. BOSSEL 1978
und FELLNER / GESTRING 1990.
3
Zur zukünftigen Entwicklung des Weltklimas werden z. B. fünf denkbare Szenarien erarbeitet und die Einflussfaktoren benannt, die diese Entwicklung entscheidend beeinflussen werden. Siehe GLOBAL 2000, S. 212 ff.
4
Siehe z. B. KAISER / KAMINSKI 1994, S. 203 ff., WEINBRENNER 1995 a
und 1995b, auf dessen Phasenschema der Szenario-Methode sich die folgenden Ausführungen stützen.
5
Vgl. GÖTZE 1991, S. 38 f.
6
Ereignisse wie die erste Ölkrise in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts oder jüngst der überraschende Zusammenbruch der kommunistischen Staaten mitsamt der dadurch möglich gewordenen Wiedervereinigung Deutschlands werden so ausgeschlossen.
7
Beispiele zum Thema "Auto und Verkehr" gibt z. B. SCHMALSTIEG 1990, S. 7 ff.
8
WEINBRENNER 1995 a, S. 433.
9
WEBER 1964, S. 67.
10
Siehe darüber hinaus WEINBRENNER 1995, S. 472.
11
Siehe RETZMANN 1994, S. 400 f.
Literatur:
BOSSEL, Hartmut: Bürgerinitiativen entwerfen die Zukunft: neue Leitbilder, neue Werte, 30 Szenarien; ein Alternativ-Bericht des Öko-Instituts Freiburg.
Frankfurt a. M. 1978
FELLNER, Anne
/ GESTRING, Norbert: "Zukünfte" der Stadt: Szenarien zur Stadtentwicklung. Beiträge der Universität Oldenburg zur Stadt- und Regionalplanung. Oldenburg 1990
GESCHKA, Horst
/ HAMMER, Richard: Die Szenario-Technik in der strategischen Unternehmensplanung. In: HAHN, Dietger / TAYLOR, Bernard (Hg.): Strategische Unternehmensplanung. 6. Aufl., Heidelberg 1992, S. 311-336
GÖTZE, Uwe: Szenario-Technik in der strategischen Unternehmensplanung. Wiesbaden 1991
GLOBAL 2000
- Der Bericht an den Präsidenten. Frankfurt a. M. 1980
KAISER, F.-J.
/ KAMINSKI, H.: Methoden der ökonomischen Bildung. Bad Heilbrunn 1994
MEADOWS, Dennis
u. a.: Die Grenzen des Wachstums. Stuttgart 1972
REIBNITZ, Ute von: Szenario-Technik. Instrumente für die unternehmerische und persönliche Erfolgsplanung. Wiesbaden 1991
RETZMANN, Thomas: Wirtschaftsethik und Wirtschaftspädagogik. Köln 1994
SCHMALSTIEG, Dieter Olaf: Aussteigen und sich selbst bewegen. Mobilität. Auto-Befreiung. Ethik. Genf 1990
WEBER, Max: Politik als Beruf. 4. Aufl., Berlin 1964
WEINBRENNER, Peter: Auto 2010 - Ein Szenario zum Thema "Auto und Verkehr". In: Bodo Steinmann / Birgit Weber
(Hg.): Handlungsorientierte Methoden in der Ökonomie. Neusäß 1995a, S. 432-441
WEINBRENNER, Peter: Multikulturelle Gesellschaft - Einsatz der Szenario-Methode. In: Bodo Steinmann / Birgit Weber
(Hg.): Handlungsorientierte Methoden in der Ökonomie. Neusäß 1995b, S. 469-477
Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: awt-info,
15. Jg. 1996, Heft 2, S. 13-19. Das awt-info wird herausgegeben von der Forschungsstelle
für politisch-gesellschaftliche Erziehung und Arbeitslehre an der Pädagogischen
Hochschule Weingarten, Abteilung
Arbeitslehre.
(c) 2001 Thomas Retzmann
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