Spiele als Unterrichtsmethode in der sozialwissenschaftlichen Bildung

Simulations-, Wissens-, Interaktionsspiele…. Die Bandbreite an didaktischen Spielideen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht ist groß (vgl. Kapitel 2) und dementsprechend auch die Fülle an Angeboten und Materialien. Vor allem Simulationsspiele, wie Rollenspiele, Diskussionen und Planspiele (vgl. Scholz 2014: 484) werden traditionell eingesetzt, aber auch zunehmend Mikromethoden, Interaktions- und szenische Spielformen [1]. Lernprozesse integrieren dabei kompetenzorientiertes und inhaltsbasiertes mit emotionalem und erfahrungsbasierten Lernen und eröffnen Synergieeffekte. Neben dem fachspezifischen Lernen werden außerdem die Selbständigkeit der Schüler (vgl. Ochs 2002: 332) und eine stärkere Motivation der Schüler durch den Einsatz von Spielen antizipiert. In diesem Zusammenhang betont Scholz, „dass eine stärkere Schülerorientierung sowohl im Unterricht, als durch die Eröffnung größerer Partizipationsmöglichkeiten für Schüler in der Schule, deren Bereitschaft zur Partizipation und ihr Interesse an Politik erhöht.“ (Scholz 2005: 549)

Methodenschnickschnack, Spiele kosten wertvolle Unterrichtszeit und dienen nur der „Bespaßung“ von Schülern. Dies sind nur einige mögliche Vorbehalte gegen den Einsatz von Spielen im Unterricht, die die Effizienz und Zielgerichtetheit von Spielen als Methode bezweifeln. Wie kann es also bei der Unterrichtsplanung gelingen, diejenige Methode auszuwählen, die dem zu vermittelnden Inhalt gerecht wird, die gleichzeitig Lernprozesse initiiert sowie die jeweils geforderten Kompetenzen vermittelt und systematisch den Kern eines komplexen Gegenstandes vermittelt?

Im Folgenden soll zunächst auf allgemein lernpädagogische und fachdidaktische Ziele beim Einsatz von Spielen im sozialwissenschaftlichen Unterricht eingegangen werden. Anschließend werden exemplarisch zwei Simulationsspiele und deren Ablauf vorgestellt- eine Talkshow als simulierte Rollendiskussion und das Planspiel der Dorfgründung. Abschließend werden anhand des derzeitigen Forschungsstandes Chancen, die in spielerischen Unterrichtsmethoden stecken, aber auch die Fallstricke beim Einsatz im sozialwissenschaftlichen Unterricht, dargestellt.

1. Lernpädagogische Ziele von Spielen als Methode im sozialwissenschaftlichen Unterricht

Die Methode des Spiels knüpft an den Grundbedürfnissen des Menschen an. So kann der Spieltrieb und Drang zum Ausprobieren in der Unterrichtspraxis zum Wissens- und Kompetenzerwerb genutzt werden. Es gibt im fachdidaktischen Diskurs keine einheitliche Definition davon, was Spiel ist (vgl. Scholz 2014: 485), jedoch kann man grundsätzliche Charakteristika, wie z.B. aktive Handlungen und Interaktionen, das Erfordernis von Regeln, die Integration von Emotion und Kognition sowie die Erzeugung von Motivation, die auch für Lernprozesse in der sozialwissenschaftlichen Bildung relevant sind, erkennen.

Auch die lerntheoretische Begründung zum Einsatz von Spielen kann an verschiedene konzeptionelle Grundlagen anknüpfen. Die soziologischen Ansätze, die vor allem konstruktivistisch und interaktionstheoretisch begründet sind, sehen das aktive Handeln und Experimentieren, als wesentliche Grundlage des kindlichen Entwicklungsprozesses (vgl. Nentwig-Gesemann 2002: 42). So geht Piaget als Vertreter der konstruktivistischen Theorie davon aus, dass sich Kinder, durch aktives Erfahren, Erleben und Interagieren Zusammenhänge und Orientierungsmuster in ihrer Welt rational konstruieren. Das Symbolspiel (fiktive Darstellung) stellt ihre „subjektive Wahrheit“ (Piaget 1969: 216) dar. Da sich Kinder im Spiel aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, stellt das Spiel eine zentrale Methode zur Weltaneignung dar (vgl. Piaget 1969: 210f). Auch nach der sozial-konstruktivistischen Entwicklungstheorie, die dem individualistischen Ansatz Piagets kritisch gegenübersteht und stattdessen die wechselseitige Beziehung zwischen Individuum und seiner sozialen Umwelt betont, ist das Spiel von besondere Bedeutung für die kindliche Entwicklung, da Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit Anderen initiiert werden (vgl. Tiling 2004: 4). So können Kinder in der Interaktionen und im Diskurs beobachten, wie das eigene Verhalten das Verhalten anderer beeinflusst, wie das eigene Verhalten wirkt und zu deuten lernen, welche Absichten dem Verhalten der Anderen zugrunde liegen.

Nach Meads verläuft Interaktion über kulturell verankerte Symbole in Form von Sprache und Handlungen (vgl. Hillmann 1994: 855l). Ausgehend hiervon betont der symbolische Interaktionismus das - durch die Interpretation alltäglicher Situationen und Erfahrungen – aktive Erlernen von Handlungsnormen und Handlungsabläufen, die zukünftig zur eigenständigen Bewältigung der Umwelt zur Verfügung stehen. „Soziale Regeln oder Institutionen wie auch individuelle Orientierungen können in konkreten Handlungssituationen nur deshalb realisiert werden, weil Akteure zu kreativen Interpretationen fähig sind.“ (Schubert 2009: 347) So muss der Unterricht Situationen schaffen, die Interaktionen und soziale Aushandlungsprozesse ermöglichen. Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz und die Artikulation der eigenen Interessen sind grundlegende Voraussetzungen für gelungenes Rollenhandeln, die im Unterricht durch passende Methoden trainiert werden können (vgl. Tischner 2013: 61).

1.1. Rollentheoretische Begründung des Spiels

Mead („play and game“) schreibt beispielsweise dem Rollenspiel für die Identitätsentwicklung des Kindes eine bedeutende Rolle zu, da Kinder durch Rollenübernahme Erwartungen anderer wahrnehmen. Indem sich das Kind im Spiel (play) abwechselnd in eine konkrete fremde und dann wieder in die eigene Perspektive versetzt [z.B. „He plays that he is, for instance, offering himself something, and he buys it; he gives a letter to himself and takes it away… (Mead 1934: 150)], nimmt es die eigene Rolle wahr (play) und macht so erste Schritte zur Entwicklung seiner eigenen Identität, die in diesem Stadion noch nicht vollständig entwickelt ist (vgl. Mead 1934: 152). „Ist der Mensch in der Lage, die Rolle eines anderen zu übernehmen, kann er ggf. aus dieser Perspektive auf sich selbst zurückblicken (oder auf sich selbst reagieren) und so für sich selbst zum Objekt werden“ (Heuring 2004: 12).

Im Gruppenspiel (game) und in der Auseinandersetzung mit der Gruppe (das Verallgemeinerte Andere) lernt es bestimmte Rollen (Generalisierung) in einem sozialen System und gesellschaftlichen Zusammenhängen kennen und erkennt die damit verbundenen Normen und Werte (vgl. Hillmann 1994: 537). Es lernt, dass sein eigenes Handeln von anderen abhängt und auch es selbst das Handeln anderer beeinflussen kann. So ist der Prozess der Identitätsbildung immer ein gesellschaftlicher Prozess.

Bei der Themenauswahl, vor allem bei Rollenspielen und Diskussionen, ist das Alter der Kinder und die Entwicklung im moralischen Denken (vgl. Müller 1998: 242f) zu berücksichtigen, da sich dieser Prozess in verschiedenen Phasen entwickelt und nicht jedes Thema von den Kindern bewältigt werden kann. Die Grundvoraussetzung moralischer Urteilsbildung ist nach Kohlberg die Fähigkeit zur Perspektivübernahme und die Intelligenzentwicklung (ebd.). Kinder müssen also erst lernen andere Standpunkte nachzuvollziehen und z.B. widersprüchliche Erwartungen und Interessenskonflikte zu erfassen. Daher ist in Entscheidungssituationen, die auf individuellen und normativen Begründungsebenen basieren, eine Ausgewogenheit und Reflexion der Argumente anzustreben.

1.2. Fachdidaktische Begründung

Gerade für den sozialwissenschaftlichen Unterricht bietet die Methode des Spiels die Möglichkeit abstrakte Gegenstände emotional und sinnlich erfahrbar zu machen und konflikthaltige, alltägliche, unübersichtliche oder fiktive Problemsituationen zu bearbeitet und zu analysieren. Politische und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und demokratische Entscheidungsprozesse können so mithilfe des Prinzips der Handlungsorientierung erfahrungsorientierte und lebendige Unterrichtssituationen schaffen. Die Verbindung von Emotionalität und Rationalität ist eine essentielle Grundlage des sozialwissenschaftlichen Lernens (vgl. Scholz 2014: 485). So basiert z.B. ein Konzept der politischen Urteilsbildung nach Massing auf den Kategorien der Zweckrationalität (Effizienz) und Wertrationalität (Legitimität), die jedes Urteil zu einem gewissen Grad berücksichtigen sollte (vgl. Massing 2003: 95). Politische Urteile können nicht isoliert auf die eine oder auf die andere Kategorie reduziert werden. Dazu sollte das Spiel exemplarisch für andere politische oder soziale Konflikt- oder Entscheidungssituationen sein. So werden soziale Realitäten im Spiel miteinander hergestellt.

Spiele, im Unterricht eingesetzt, können grundlegende Kompetenzen der politischen Bildung, also z.B. den Erwerb von Fachwissen, die Entwicklung politischer Einstellungen und Motivation, die Aneignung politischer Handlungsfähigkeit, sowie die Anbahnung politischer Urteilsfähigkeit (vgl. Detjen/Massing/Richter/Weißeno 2012: 12ff; Reinhardt 2016: 149), oder das Beherrschen methodischer Kompetenzen (vgl. Reinhardt 2016), wie zB. Texterschließungskompetenz oder Gesprächskompetenz, initiieren. So sollen Diskussions-, Simulations- oder Entscheidungsspiele beispielsweise die demokratische Interaktion, kontroverses Denken, Rollenübernahme bzw.-reflexion und die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien [2] fördern. Aber auch Empathie, Offenheit im Denken, strategisches Denken und je nach Methode viele weitere fachbezogene Fähigkeiten können angebahnt werden. Außerdem können (Klassen-) Regeln, Normen oder demokratische Prinzipien von den Kindern selbständig im Spiel ausgehandelt und rational konstruiert werden, statt diese vorzugeben. Zu bedenken ist es, dass es nicht eine richtige oder von dem Lehrer zu erwartende Antwort gibt, sondern zu einem gewissen Grad ergebnisoffen geplant wird.

2. Ablauf exemplarischer Spieltypen

Je nach didaktischer Intention und intendiertem Kompetenzerwerb, gibt es verschiedene Spieltypen und –formen. So liegt für die Praxis der sozialwissenschaftlichen Bildung ein breites spielerisch orientiertes Methodenrepertoire vor. Spieltypen für die sozialwissenschaftliche Bildung können u.a. sein (vgl. Scholz 2014, 487 ff):

  • Assoziations- und Einstiegsspiele, die dem thematischen Einstieg, der Auflockerung und der Aktivierung von Vorwissen dienen, wie z.B. das Blitzlicht oder der Assoziationskreis
  • Diskussions- und Entscheidungsspiele, wie Pro-Contra Debatten oder Streitgespräche
  • Simulationsspiele, die eine virtuelle Realität erzeugen, wie z.B. Rollen-, Plan- und Konferenzspiele
  • Interaktions- und Kooperationsspiele, die eine Zusammenarbeit (positive gegenseitige Abhängigkeit) und problemlösende Interaktion der Mitspieler fordern, um ein Aufgabe zu lösen, wie etwa das Nasa-Spiel oder Mysteries
  • Wissensspiele, die zum Abschluss einer Reihe oder begleitend zu einer Rechercheaufgabe eingesetzt werden können, wie Quizze oder Rätsel
  • szenische Spielformen, bei denen Textvorlagen interpretiert, sowie offene Schluss- oder Entscheidungsszenen und umgesetzt werden, wie z.B. bei Standbildern oder kurzen Theaterszenen
  • spielerische Präsentations- und Produktionsformen, die eine kreative Umsetzung der erarbeiteten Ergebnisse fordern, wie etwa ein Wahlplakat zur Vorstellung bestimmter Ideen und Strategien oder das Halten von (Wahlkampf-) Reden

Im Folgenden soll exemplarisch auf zwei Methoden genauer eingegangen werden, die beide der Spielform des Simulationsspieles zuzuordnen sind.

2.1. Das Rollen- und Simulationsspiel

Zu den simulativen Lernformen zählen klassische Rollen- und Planspiele, sowie Talkshows, Konferenzen, simulierte Interviews, Befragungen oder Podiumsdiskussionen. Ausgangspunkt ist eine konflikthaltige modellhafte Situation, wobei die Teilnehmer im Sinne eines Perspektivwechsels eine bestimmte, mehr oder weniger starr vorgegebene, Rolle übernehmen. Durch die nachgeahmte nicht-reale Situation ergibt sich die Möglichkeit des Ausprobierens, und des Erprobens von Handlungsmöglichkeiten um sich aus der Interessenslage der zugeschriebenen Rolle heraus, dem Konflikt oder Problem zu nähern (Sander 2001: 68). Mögliche Beispiele für Rahmen einer solchen Diskussion wären eine z.B. UN-Klimakonferenz, ein EU-Flüchtlingsgipfel oder eine Diskussionsrunde zu einem lokalen Bürgerentscheid.

Ziel von Simulationsspielen ist es - neben der Stärkung von Konfliktmanagement und Entwicklung von Problemlösungs-, Kommunikations- und Kooperationstrategien - den Unterrichtsgegenstand inhaltlich in seiner Komplexität und Multidimensionalität erfahrbar zu machen und dabei die verschiedenen Perspektiven und Interessen zu beleuchten. Dazu sind eine kritische Rollendistanzierung und -reflexion nach der Simulation und eine inhaltliche Auswertung der Argumente anhand von Leitfragen essentiell. Eine kriteriengeleitet Urteilsbildung im Anschluss an die Simulation um Argumentationsebenen aufzuzeigen, ist ein wesentlicher Bestandteil einer reflektierten abschließenden Beurteilung.

Beispiel 1: Ablauf Talkshow/ simulierte Rollendiskussion

  1. A: Vorbereitung durch den Lehrer: Die Lehrkraft muss eine klar formulierte Problemfrage/ Thema benennen, damit die Schüler den zu behandelnden Konflikt erkennen. Außerdem ist die Auswahl der Rollen wichtig, denn die Diskussion sollte nicht mit zu vielen Personen überfrachtet werden, wobei trotzdem alle relevanten Positionen vertreten sein sollten. Hier ist eine Ausgewogenheit der beteiligten Perspektiven zu beachten. B: Vorbereitung durch die Schüler: Ausgehend von einem Problemaufwurf oder der vorangegangenen Leitfrage der Unterrichtsreihe, erarbeiten die Schüler selber das Setting sowie die Positionen der Diskussion. Sie begründen anhand ihres Vorwissens welche Positionen für eine ausgewogene Diskussion sinnvoll sind.
  2. Rollenübernahme und Vorbereitung durch die Schüler: Die Schüler erarbeiten aus dem (vom Lehrer bereitgestellten) Material Argumente für ihre Rolle. Bei der Auswahl des Materials muss darauf geachtet werden, dass für die konkurrierenden Positionen ausgewogene Hintergrundinformationen gegeben werden. Grundlegende Information, auf deren Basis argumentiert werden kann, sind essentiell, da sonst keine kritische Urteilskraft entsteht. Die Schüler müssen verstehen, dass sie nicht ihre eigene Position, sondern ggf. eine die sie selber nicht vertreten vorbereiten müssen. Aussagekräftige Rollenkarten bieten hier eine Hilfe (vgl. Gänger 2007: 128), um die Debatte auch als sachliche Diskussion zu vermitteln. Die anspruchsvolle Rolle der Gesprächsleitung oder Moderation bedarf in der Vorbereitungsphase besonderer Unterstützung, da sie Leitfragen und Schwerpunkte für das Gespräch erarbeiten muss. Eine Zusammenfassung der grundlegenden Argumente, in denen die Konfliktlinien deutlich werden, ist hier hilfreich.
  3. Durchführung: Als Grundlage für die abschließende Reflexion sind gezielte Beobachtungsaufträge in Bezug auf die inhaltlichen Argumente oder die Interaktion essentiell.
  4. A) inhaltliche Auswertung/ Reflexion: Ziel ist es auf Basis der präsentierten Diskussion zu einer politischen Urteilsfindung zu kommen. Dazu gehören grundsätzliche Fragen, wie: Wer hat mich überzeugt und warum? Waren die inhaltlichen Argumente ausschlaggebend oder das rhetorische Geschick und Auftreten? Zentral für die eigene Urteilsbildung ist es aber im Reflexionsgespräch die Konfliktlinien zu identifizieren und Urteilskriterien für die vorgetragenen Argumente zu finden (z.B. kategoriale Urteilsbildung nach Massing 2003). Welche grundlegenden Konfliktlinien. / Interessensgegensätze/ Theorieansätze et können wir identifizieren? Können generelle Erkenntnisse abgeleitet werden? B) methodische Reflexion: Auswertung der Methode in Bezug auf die Ergebnisse. Z.B.: Inwieweit hat uns die Methode geholfen zu einem eigenen Urteil zu gelangen? Wie haben wir gearbeitet sind wir vorgegangen? Wo gab es Probleme und was können wir beim nächsten Mal verbessern?...

Beispiel 2: Ablauf Rollenspiel: Dorfgründung

Petriks Idee der Dorfgründung ist ein Beispiel für eine simulative Methode, die eine gesamte Klasse/Kurs aktiv an der Gestaltung eines (im Idealfall friedlichen und demokratischen) Zusammenlebens einbezieht und die Diskussion von Verteilungskonflikten, ideologische Konflikte und die Positionierung zu verschiedenen Streitfragen initiiert. Beim Dorfmodell schlüpfen die SuS zuerst einmal in die Rolle von Dorfgründern und simulieren das Zusammenleben in einem abgelegenen „Mikrokosmos, in dem politische, rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Elementarfragen entdeckt und geklärt werden können“ (Petrik 2013: 45). Ein Ziel ist es mit Hilfe wesentlicher Analyse- und Urteilskategorien diese Erkenntnisse auf den Staat als Makrokosmos (vgl. Petrik 2007b: 176) übertragen zu können. Ungleichheitsstrukturen, wie unterschiedliche Häusergrößen und Einkommen sowie zu bewältigende Herausforderungen wie Güterverteilung, wirtschaftliche Organisationsprozesse und Naturereignisse stellen sinnstiftende Anlässe der Interaktion um Interessen auszuhandeln und Probleme zu lösen. „Politische Grundorientierungen manifestieren und elaborieren sich in der konflikthaften Dorfsituation“ (Petrik, 2011b: 159). Dabei werden verschiedene Methoden, wie Streitlinien oder simulierte Dorfsitzungen angewandt. So ist der Handlungsspielraum nach außen vorgegeben, jedoch von den Schülern zu füllen und damit in den jeweils konkreten Ausprägungen ergebnisoffen.

Die Schüler konstruieren aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse Werte, Normen und Regeln z.B. des gesellschaftlichen Zusammenlebens oder Wirtschaftens. Sie untersuchen wie Kompromisse und Kooperation in bestimmten Bereichen entstehen oder woran diese scheitern. Hierbei werden eigene Aushandlungsprozesse und Ideen mit wissenschaftlichen Grundorientierungen abgeglichen (Sachkompetenz) und umgekehrt theoretische Konzepte situativ angewendet. Zum Beispiel gibt es eine Einheit in der die Schüler lernen ihre eigene Position und die anderer politisch zu verorten und so ein Stück politische Identitätsentwicklung angebahnt wird. Dabei werden Politisierungstypen herausgearbeitet, die vier Grundhaltungen unterscheiden: libertär, sozialistisch, liberal und autoritär (Petrik 2007: 200), und die im Anschluss wiederum die Reflexion der eigenen Position anbieten.

So werden im Verlauf der Reihe immer wieder Aushandlungsprozesse auf ihren Theoriegehalt und Realitätsnähe untersucht, Interessenslagen und Konfliktlinien durch szenisches Spiel visualisiert.

Den Schülern wird Raum gegeben sich inhaltlich begründet zu positionieren (Urteilskompetenz) und diese Position zu begründen und ggf. auch gegen andere Positionen zu verteidigen (Konfliktkompetenz). Sie lernen ihre eigene Rolle sowie gesellschaftliche Werte und Normen zu reflektieren. Dieser Rahmen kann die Schüler durch ein komplettes Halbjahr begleiten, indem das Szenario an thematisch geeigneten Stellen wieder aufgegriffen wird und fundamentale theoretische Konzepte, Grundprobleme und Machtkonstellationen daran verdeutlicht werden.

3. Forschungsstand

Es gibt in der Praxis der politischen Bildung ein breites Repertoire an spielerischen Lernformen. Die didaktische Wirksamkeit von Spielen in der politischen Bildung wurde bisher allerdings kaum empirisch untersucht (vgl. Scholz 2014: 484).

3.1. Sozialwissenschaftlich- theoretische Begründung: Chancen und Fallstricke

Einen Konflikt kontrovers im Unterricht zu verhandeln, argumentieren und Kompromisse aushandeln, motiviertes, aktives und eigenständiges Handeln, problemlösendes Denken, multiperspektivische Annäherung an das Thema durch einen anschaulichen Lernprozess (vgl. Müller 2004: 243), all dies sind Stärken, die Spiele im Unterricht bieten können. Damit erfüllen Spiele wichtige Ziele in Bezug auf die im KLP geforderten Kompetenzen. Eine qualitative Studie von Petrik (2007b) zur Entwicklung der Urteils- und Konfliktlösekompetenz in Bezug auf die Dorfgründung, zeigt das wachsende Verständnis der eigenen, aber auch fremder Perspektiven, sowie die Anregung einen „wertebasierten Standpunkt“ (Petrik 2007b: 182) einzunehmen. Aber auch alltägliche Herausforderungen, die sich dem Politikunterricht stellen, wie Distanz der Schüler zu politischen Themen, ein negativbesetztes Image vieler politischer Themen, sowie Komplexität bestimmter Sachverhalte und Entscheidungsstrukturen (Bsp. EU), können durch handlungsorientierte Unterrichtsarrangements aufgebrochen werden. Außerdem wird durch die Kombination emotionaler und rationaler Ebenen (vgl. Scholz 2014: 485), eine Beurteilung und Reflexion dieser Kategorien möglich. Um diese Chancen gewinnbringend für sinnhafte Aneignungsprozesse nutzen zu können, müssen jedoch bestimmte Herausforderungen und Fallstricke bedacht werden.

Ein grundlegendes Problem, das alle Arten von Spiel gemeinsam haben ist die Tatsache, dass die Realität nur aspekthaft und simplifiziert dargestellt werden kann. „Deswegen ist es immer schwierig mit dem Spiel Erfahrungen über die Wirklichkeit zu gewinnen. Notwendige Korrekturen bedürfen dann besonderer didaktischer Bemühungen“ (Busse 2003: 1). Dies hat auch Müller mit der Analyse einer Konferenzsimulation dargelegt, die zeigt, dass Simulationen scheitern, wenn die politische Realität stark verändert im Unterricht dargestellt wird. Dazu bedarf es auch des Reflexionsvermögens der jeweiligen Lehrperson zu erkennen, dass der Lernprozess „nur dann gelungen [ist], wenn sachlich angemessene Lernprozesse initiiert, strukturiert und reflektiert werden können“ (Müller 2004: 237). In der didaktischen Reduktion wissenschaftliche Kontroversen, im Sinne des Kontroversitätsgebotes, nicht abzuglätten (Szukala 2014: 45), sondern mithilfe des Spiels „den pragmatischen Kern der wissenschaftlichen Aussagen“ (ebd.) zu identifizieren, stellt eine enorme Herausforderung dar, da viele sozialwissenschaftlichen Themen häufig sehr komplex sind und verschiedene Ebenen betreffen. So besteht immer die Gefahr, dass die virtuelle Realität des Spiels auf Seiten der Schüler zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich der Entscheidungs- oder Problemlösung führen kann.

Ein essenzieller Bestandteil eines Spieles und vor allem einer Simulation ist die anschließende Reflexion und Auswertung. Schüler die trotz anderer Meinung den Konflikt eigene scheuen müssen hier eingebunden werden, denn „ab einem gewissen Maß an mitgebrachter Konfliktscheu fördern die heftigen Auseinandersetzungen eine Rückzugstendenz und verhindern die Selbstreflexion des eigenen Standpunktes“ (Petrik, 2007b: 182).

Eine weitere Gefahr ist eine sehr starke Fokussierung auf den Inhalt, ohne die Beachtung des Kontextes und der systemimmanenten Möglichkeiten den dieser bietet. Die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen, Institutionen und Systeme wird in der Praxis häufig, aufgrund des Fokus auf den Inhalt vernachlässigt. Auch systeminhärente Rahmenbedingungen werden z.T. aufgrund ihrer Komplexität ignoriert (Müller 2004: 247) und so führen Simulationen bei zu starker Vereinfachung leicht zu einem oberflächlichen Verständnis von politischen Prozessen „wenn der Politikunterricht im motivationalen, moralischen und nicht spezifisch politischen Begründungsdiskurs hängen bleibt“ (Müller 2004: 250).

Die Diskrepanzen zwischen Spiel- und Alltagswelt muss im Rahmen der Spielauswertung miteinander verglichen werden und kann dann durchaus zu produktiven Erkenntnissen führen (z.B. ‚Wieso haben wir uns auf Kompromisse geeinigt, die Politiker nicht hinbekommen?‘; Welche ideologischen und interessensgeleiteten Überzeugungen blockieren in der Realität oder in der Simulation bestimmte Entscheidungen gegen besseres Wissen?‘) Findet eine solche didaktische Reflexion des Spielablaufs an konkrete Beispielsituationen nicht statt, besteht die Gefahr, dass die Spieler sich illusionäre Erklärungsmuster oder Konzepte schaffen, die von ihnen als gesellschaftliche Realität interpretiert werden. Auch wenn die Realitätsnähe der Materialien hoch ist (z.B. bei Einsatz von Originaldokumenten), muss den Schülern klar sein, dass dies nur „künstliche Schulbuchrealitäten“ sind (Müller 2004: 245).

4. Beispielthemen

Rollenspiele und Planspiele:

Methodisches Vorgehen, Arbeitsaufträge und Analyse zu einem Rollenspiel um die Debatte zur Höhe des Mindestlohns finden sich bei Tischner (siehe Literaturverweis).

Modeled United Nations: http://www.model-un.de/de/mini-muns/

Debatte um den UN-Sicherheitsrat: http://www.bpb.de/lernen/formate/planspiele/65586/planspiele-detailseite?planspiel_id=15

Simulation Dorfgründung:

Ausführliches Arbeitsmaterial und einleitende Erläuterungen zur Simulation des Dorfspiels gibt es unter www.pedocs.de/volltexte/2008/255/pdf/Corvey_Gymnasium.pdf (Erscheinungsdatum: 2017)

[1] Viele Beispiele finden sich bei der Bundeszentrale für Politische Bildung unter http://www.bpb.de/shop/lernen/thema-im-unterricht/36913/methoden-kiste

[2] Ergebnisse einer qualitativen Studie von Petrik (2007b) zum Simulationsspiel Dorfgründung ergeben, dass die Schüler durch das „hoch-emotionale, destruktive Gegeneinander“ (ebd.) sowohl ihre eigene Konfliktfähigkeit und als auch die des gesamten Kurses verbessert sehen

5. Literatur und Hinweise zu Unterrichtsmaterial

Literatur:

  • Busse, Gerd: Spielen im Unterricht - Ein Dilemma, Paulo Freire Kooperation e.V., 2003; http://www.freire.de/node/69
  • Colby, Ann/ Kohlberg, Lawrence: Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz, in: H. Bertram (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, S. 130-162
  • Detjen, J/Massing, P./ Richter, D./Weißeno, G. (Hrsg.): Politikkompetenz- Ein Modell, Wiesbaden, 2012
  • Gänger, Sven: Interaktionen, In: Reinhardt, S./ Richter, D. (Hrsg.): Politikmethoden- Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen, Berlin, 2007, S. 126-128
  • Heuring, Monika/ Petzold, Hilarion G.: Rollentheorien, Rollenkonflikte, Identität, Attributionen - Integrative und differentielle Perspektiven zur Bedeutung sozialpsychologischer Konzepte für die Praxis der Supervision. 2004.
  • Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, Kröner, Stuttgart. 1994
  • Massing, Peter: Kategoriale politische Urteilsbildung, in: Kuhn, Hans-Werner: Urteilsbildung im Politikunterricht, Wochenschau-Verlag, Schwalbach, 2003, S. 95 ff.
  • Mead, George Herbert: Mind, self, and society. (Morris, Ed.), Chicago, Ill.: Univ. Press, 1934
  • Müller, Holger: Konferenzsimulation zur europäischen Umweltpolitik- Fallgruben im Handlungsorientierten Unterricht, in: Weisseno, G: Europa verstehen lernen, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2004, S. 236-251
  • Müller, Jürgen: Moralentwicklung und polititsche Bildung: Rezeption und Relevanz der moral-kognitiven Entwicklungspsycholigie in der Politischen Bildung, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein, 1998
  • Netwing-Gesemann, Iris: Gruppendiskussionen mit Kindern. Die dokumentarische Interpretation von Spielpraxis und Diskursorganisation. In: ZBBS, Heft 1/2002, S. 41-63.
  • Ochs, Dieter: Planspiele zur Anbahnung von Selbständigkeit, in: B. Weber (Hrsg), Eine Kultur der Selbständigkeit in der Lehrerausbildung, Bergisch Gladbach 2002
  • Petrik, Andreas: Rollenspiel, in: Reinhardt, S./ Richter, D. (Hrsg.): Politikmethoden- Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen, Berlin, 2007a, S. 116-118
  • Petrik, Andreas: Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Konzept und praxis einer genetischen Politikdidaktik. Studien zur Bildungsgangforschung Bd. 13 Opladen u.a.: Budrich 2007b
  • Petrik, Andreas: Politisierungstypen im Lehrstück „Dorfgründung“ – Eine Bildungsgangstudie zur Entwicklung der Urteils- und Konfliktlösungskompetenz im Politikunterricht, in: Bayrhuber u.a.. Empirische Fundierung in den Fachdidaktiken Bd.1, Waxmann Verlag, Münster, 2011
  • Petrik, Andreas: Der genetische Ansatz, in: Deichmann, C. (Hrsg.): Dimensionen und Ansätze in der politischen Bildung, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2013, 37-56.
  • Petrik, Andreas: Entwicklungswege des politischen Selbst. Über den unterschätzten Beitrag der Wertewandelforschung zur Rekonstruktion von Politisierungsprozessen in Lebenswelt und Politikunterricht. In: Helmut Bremer (Hrsg.): Politische Bildung zwischen Politisierung, Partizipation und politischem Lernen. Beiträge für eine soziologische Perspektive, Beltz Juventa, Weinheim und Basel, 2013, S. 159-183
  • Piaget, Jean: Nachahmung, Spiel und Traum. Erziehungswissenschaftliche Bücher (1. Aufl.). Stuttgart. 1969. Klett.
  • Reinhardt, Sibylle: Politikdidaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen, Berlin, 2016.
  • Röll, K.: Talkshow, in: Reinhardt, S./ Richter, D. (Hrsg.): Politikmethoden- Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen, Berlin, 2007, S. 129-131
  • Sander, Wolfgang: Politik entdecken- freiheit leben. Neue Lernkulturen in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2001
  • Scholz, Lothar: Spielend lernen: Spielformen in der polititschen Bidlung, in: Handbuch politische Bildung, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2005, S. 547-564.
  • Scholz, Lothar: Spielend lernen: Spielformen in der polititschen Bidlung, in: Handbuch politische Bildung, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2014, S. 484- 492
  • Scholz, Lothar: Spielend lernen: Lernprodukte und Lernumgebungen, in: Sander, Wolfgang (Hrsg): Handbuch politische Bildung, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2014, S. 484-492
  • Schubert, Hans-Joachim: Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus, in: Kneer, Schroer (Hrsg): Handbuch Soziologische Theorien, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 345-367
  • Szukala Andrea. (2014). Europabildung und Europawissenschaft: Modellfall einer Inkompatibilität von wissenschaftlichem und curricularem Wissen? Politisches Lernen, 32(1-2).S. 45-49.
  • Tiling; Johannes von: Einführung in den Sozialkonstruktivismus, 2004, https://www.psychologie.uni-heidelberg.de/ae/allg/lehre/Tiling_2004_SozKon.pdf
  • Tischner, Christian: Der handlungsorientierte Ansatz, in: Deichmann, C. (Hrsg.): Dimensionen und Ansätze in der politischen Bildung, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2013, S. 57-71.

Links zur Methode:

http://methodenpool.uni-koeln.de/download/rollenspiele.pdf

Praktische Beispiele/Links zu Unterrichtsideen:

Dorfgründung: www.pedocs.de/volltexte/2008/255/pdf/Corvey_Gymnasium.pdf

http://www.model-un.de/de/mini-muns/

http://www.bpb.de/lernen/formate/planspiele/65586/planspiele-detailseite?planspiel_id=15

http://www.spun.de/


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