Rollen- und Simulationsspiele

Wilfried Buddensiek

Inhalt

1. Herkunft und Begriffsbestimmung
2. Zum Spielcharakter von Simulationsspielen
3. Zum Modellcharakter von Simulationsspielen
4. Simulationsspiele als Synthese aus den Elementen "Spiel" und "Modell"
5. Literatur

1. Herkunft und Begriffsbestimmung

Begriffe wie Rollen-, Konflikt-, Konferenz-, Entscheidungs-, Plan-, Simulationsspiel oder Computersimulation kennzeichnen nur unzureichend die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der vielfältigen didaktischen Spielkonzeptionen. Betrachtet man deren historische Entwicklung, so lassen sich zwei unterschiedliche Wurzeln ausmachen.

  1. Das Rollenspiel (Rs) ist, aus entwicklungspsychologischer Sicht betrachtet, eine Grundform menschlichen Verhaltens, wie es individuell und spontan bei Kleinkindern auftritt (z. B. übernimmt ein Kind gegenüber seiner Puppe die Rolle einer Mutter, gegenüber einem Karton die Rolle des Autofahrers, Kapitäns). Aus sozialpsychologischer oder -soziologischer Perspektive wird das Rollenspiel dagegen als eine soziale Interaktionsform in einer konstruierten, nicht ernsten Handlungssituation beschrieben (U. Coburn-Staege 1977, 12ff.). Es geht von einer vorgegebenen Situation aus, der weitere Spielverlauf entwickelt sich maßgeblich aus den Aktionen der Spieler.
  2. Der Ursprung didaktischer Plan- oder Simulationsspiele (Ss) lässt sich über Unternehmens- und militärische Planspiele, die der Entwicklung und Erprobung realer Handlungsstrategien dienen, bis zu jahrtausende alten Kampf- und Kriegsspielen zurückverfolgen. Sie geben ebenfalls eine Ausgangssituation vor, der weitere Spielablauf wird jedoch in hohem Maße durch das jeweilige Spielmaterial und! oder die Spielleitung beeinflusst, welche die Spieler mit den Konsequenzen ihrer Handlungen konfrontiert.[/S.370:]

So einleuchtend diese idealtypische Unterscheidung auf den ersten Blick sein mag, so verwirrend kann sie werden, wenn man ein konkretes Spielkonzept dem einen oder anderen Begriff zuordnen soll. Didaktische Rs konfrontieren die Lernenden ähnlich wie Plan- und Ss mit einer Konflikt- oder Problemsituation, die aus der Interessenposition einer übernommenen Rolle durch spielerisches Handeln zu einer Lösung geführt werden soll. Somit sind Rs hinsichtlich ihrer didaktischen Grundstruktur als eine einfache Form des Ss anzusehen. Sie zeichnen sich gegenüber komplexeren Ss lediglich durch einen geringeren Formalisierungsgrad und durch Verzicht auf eine vorprogrammierte Steuerung des Spielprozesses aus. Gemeinsam ist beiden Spielformen, dass vorgegebene Probleme in einer modellhaften Entscheidungssituation von den Lernenden spielerisch bewältigt werden.

Hier soll dieser gemeinsame Nenner aller Rs- und Ss-Konzepte dargestellt werden. Dazu wird ausschließlich der Begriff "Simulationsspiel" als weitgefasster Oberbegriff benutzt, der es ermöglicht, die didaktisch bedeutsame Differenzierung zwischen (nicht-spielerischer) Simulation, Ss und (nicht-modellhaftem) Spiel zu treffen.

2. Zum Spielcharakter von Simulationsspielen

Ein zentrales Merkmal von Spielen ist ihre Zweckfreiheit, genauer ihre Freiheit von spielexternen Zwecken. Den didaktischen Implikationen, die sich daraus ergeben, wird häufig zu wenig Beachtung geschenkt: Wenn man auf die motivationale Kraft des Spiels nicht verzichten will, darf man den Spielprozess nicht mit didaktischen Zielen überfrachten. Lernziele lassen sich während des Spielprozesses nur insoweit ohne Gefährdung des Spielcharakters erreichen, als sie mit den spielinternen Zielen im Einklang sind (W. Buddensiek 1979, 60ff.). Fragwürdig sind Spielkonzepte, in denen die Spielaktivitäten durch rigide Spielmaterialien und Rollenvorgaben auf ein marionettenhaftes Pseudohandeln eingeengt werden. Wenn ein vorab bestimmbares Spiel- oder Lernergebnis wichtiger wird als die kreative Aktivität der Spieler, leidet darunter nicht nur das Spielgeschehen, sondern ebenso der Erkenntnisprozess, der maßgeblich durch Spielhandeln in Gang gesetzt wird.

Ss erweisen sich vor allem dann als produktiv und erkenntnisfördernd, wenn es den Spielern gestattet ist, das vorgegebene Problem aus ihrer Sicht und mit ihren Mitteln zu lösen. Dies verlangt vom Spielleiter, dass er sich auf eine offene Lernsituation einstellt. Ss eröffnen eine eigengesetzliche Erfahrungswelt, die sich abhebt von der Alltagswirklichkeit. Die Diskrepanzen zwischen Spiel- und Alltagswelt können sich als produktive Erkenntnisquelle erweisen, wenn Spiel- und Realsituation im Rahmen der Spielauswertung miteinander verglichen werden. Findet eine solche didaktische Rückbindung des Spielgeschehens an konkrete Lebenssituationen nicht statt, besteht die Gefahr, dass die Spieler sich illusionäre Scheinwelten schaffen, die von ihnen als gesellschaftliche Realität interpretiert werden.

3. Zum Modellcharakter von Simulationsspielen

Gelegentlich wird behauptet, dass der Inhalt von Ss "genauso wie in der Wirklichkeit" dargestellt wird. Damit wird ein didaktischer Anspruch erhoben, der nicht einlösbar ist und die produktiven Möglichkeiten verkennt, die das Ss als Modell bietet (W. Buddensiek 1979, 109ff.). Modelle sind keine "realitätsgerechten Abbildungen". die für beliebige Zwecke verwendbar sind, sondern lediglich Hilfskonstruktionen für die Erkenntnisgewinnung, die immer nur für eine bestimmte Zeitdauer, für spezielle Zwecke und für bestimmte Benutzer entwickelt werden, während sie für andere Intentionen oder Benutzer durchaus untauglich sein können. Modellmerkmale und -funktionen lassen sich am Beispiel der Straßenkarte veranschaulichen: Straßenkarten geben u. a. Straßenverbindungen zwischen den Ortschaften einer bestimmten Region wieder (Repräsentation). Sie verzichten dabei auf die Darstellung all jener geographischen Aspekte, die für den Autofahrer keine unmittelbare Bedeutung besitzen (Reduktion). Dagegen heben sie Straßen besonders hervor und unterscheiden zwischen Autobahnen, Bundesstraßen usw. (Akzentuierung). Durch Reduktion und Akzentuierung wird die repräsentierte Region für den Autofahrer durchschaubar (Transparenz); denn Straßenkarten sind auf seine speziellen Zwecke zugeschnitten (Instrumentalität, Subjektivität). Für diese Zwecke wurden sie planmäßig entwickelt (Intentionalität). Für andere Zwecke wird man unter Umständen zu anderen Karten greifen müssen, welche die geographische Realität unter anderer Perspektive repräsentieren (z. B. Klima, Vegetation, Bodenschätze oder Wirtschaftsstruktur).

Modelle besitzen eine produktive und erkenntnisfördernde Funktion aufgrund ihrer Transparenz. Diese gewinnen sie einerseits durch das bewusste Auslassen von Faktoren (Reduktion), die für den jeweiligen Erkenntniszweck als nebensächlich erachtet werden, andererseits durch die Hervorhebung der jeweils interessierenden Teilaspekte (Akzentuierung). Nur wenn die Lernenden das jeweilige Modell als Hilfskonstruktion begreifen, in der ein bestimmtes Original für bestimmte Zwecke perspektivisch, akzentuiert und reduziert wiedergegeben wird, lässt sich die Gefahr vermeiden, dass "Modell" und "Wirklichkeit" gleichgesetzt werden oder dass sich Modelle/Ss in den Köpfen der Lernenden zu einer eigenen "Wirklichkeit" verselbständigen.

4. Simulationsspiele als Synthese aus den Elementen "Spiel" und "Modell"

Im Unterschied zur (nicht-spielerischen) Simulation einerseits und zum (nicht-modellhaften) Spiel andererseits besitzt das Ss einen spezifisch ambivalenten Charakter. Es verbindet ein Modell, das mit eindeutigen didaktischen Absichten entwickelt wurde, mit einem Spiel, das seinem Wesen nach frei ist von spielexternen Zwecken. Durch Mängel bei der Konstruktion des Ss besteht allerdings die Gefahr, dass entweder das Spielen oder aber das Lernen in der Modellsituation zu kurz kommt. Entscheidend für die Qualität von Ss ist die inhaltliche und formale Ausgestaltung des jeweiligen Spielrahmens. Gängige Elemente sind:

  • offene Rollenhinweise, welche die Spieler zur selbständigen Ausgestaltung der übernommenen Rolle anregen oder aber geschlossene Rollenvorgaben, die die Aktionen der Spieler begrenzen, auf ein spezielles Ziel ausrichten und manchmal bereits den Wortlaut der Argumente vorgeben;
  • offene Hinweise oder aber feste Vorgaben für die Spielleitung:
  • Spielregeln, die entweder einen festen Handlungsrahmen vorgeben oder aber offen sind für Veränderungen durch die Spieler und die Spielleitung;[/S.372:]
  • ein Spielbrett mit verschiedenem Zubehör, das in den meisten Fällen vorproduziert ist und von den Spielteilnehmern entweder gar nicht oder nur geringfügig verändert werden kann;
  • sonstige Spielmaterialien, z. B. Spielgeld, Chips oder andere Symbole für Besitz und Macht;
  • Spielprotokolle oder -auswertungsformulare. in denen die wichtigsten Ereignisse des Spielverlaufs oder die Spielergebnisse festgehalten werden.

Jedes dieser formalen Elemente bietet vielfältige inhaltliche Ausgestaltungsmöglichkeiten. Die genannten Elemente lassen sich auf verschiedene Weise miteinander kombinieren und zu den unterschiedlichsten Ss-Konzepten zusammenfügen.

Die genannten Elemente des Ss-Rahmens werden zunehmend durch reaktionsschnelle PC-Programme ergänzt oder ersetzt. Dadurch gelingt es einerseits, eine komplexere, realitätsnähere Modellsituation zu schaffen, andererseits wächst aber auch die Gefahr, dass das Computermodell den Spielteilnehmern als eine "black box" erscheint, deren abstrakte Reaktionen für die Spieler undurchschaubar bleiben.

Bei unkritischer Verwendung didaktisch mangelhafter Produkte können Ss zum Transportmittel für fragwürdige Ideologien werden. Deshalb ist vor ihrer Verwendung eine Spielanalyse notwendig. Einige Kriterien sollen dazu Hilfen bieten:

Inhalt und Intention: Welcher Inhalt soll mit welcher Intention simuliert werden? Inwieweit wird dies vom Verfasser offen gelegt? Ist das Ss die geeignete Methode, um Intention und Inhalt mit Lernenden aufzuarbeiten? Welche anderen Lernverfahren wären denkbar? Welche angegebenen/nicht angegebenen Ziele werden mit dem Ss erreicht? Stimmen diese Ziele mit den eigenen Zielvorstellungen überein?

Spielmodell: Welche Aspekte werden im Ss akzentuiert, welche reduziert und welche Perspektivität resultiert daraus? Deckt sich diese mit den eigenen Zielvorstellungen? Inwieweit werden qualitative Probleme qualitativ oder lediglich quantitativ wiedergegeben? Wird der Modellcharakter des Ss offen gelegt und ist er erkennbar? Können die Spieler das Modell mitgestalten oder verändern?

Spiel, Spieler, Rollen: Inwieweit ist der Handlungsrahmen durch PC-Programme, Regeln oder Rollenkarten festgelegt, welcher Handlungsspielraum bleibt den Spielern? Können sie PC-Programme, Rollenvorgaben u. a. mitgestalten? Wie und durch wen wird der Spielverlauf gesteuert? Inwieweit hängt der Ausgang des Spiels von den Spielern und deren Spielstrategie oder vielmehr vom Spielmaterial oder von Zufallsfaktoren ab? Welche Vorkenntnisse und Fähigkeiten benötigen die Spieler für das Ss? Sind die vorgesehenen Rollen für sie spielbar? Welche Emotionen werden durch das Spiel hervorgerufen? Tangieren diese Emotionen allgemeine oder fachspezifische Lernziele oder laufen diesen zuwider? Welche Art von Kommunikation ist im Spiel zugelassen oder wird gefördert (schriftlich, frei, reglementiert)?

Didaktisches Gesamtkonzept: Ist das Ss in ein didaktisches Gesamtkonzept (Unterrichtseinheit, Unterrichtsmodell) eingebunden? Welche Stellung wird ihm darin zuteil (Einstieg, Abschluss)?

5. Literatur

Buddensiek, W. (1979): Pädagogische Simulationsspiele im sozioökonomischen Unterricht der Sekundarstufe 1, Bad Heilbrunn.

Coburn-Staege, U. (1977): Lernen durch Rollenspiel - Theorie und Praxis für die Schule, Frankfurt/M..

Kaiser, F.-J.(1976): Entscheidungstraining. Die Methoden der Entscheidungsfindung: Fallstudie-Simulation-Planspiel. Bad Heilbrunn.

Ders./ Kaminski, H.(1994): Methodik des Ökonomie-Unterrichts. Grundlagen eines handlungsorientierten Lernkonzepts mit Beispielen. Bad Heilbrunn.

Keim, H. (Hrsg.) (1992): Planspiel. Rollenspiel. Fallstudie. Zur Praxis und Theorie lernaktiver Methoden. Köln.

Klippert, H. (1984): Wirtschaft und Politik erleben. Planspiele für Schule und Lehrerbildung. Weinheim/Basel.

Kochan, B. (Hrsg.) (1981): Rollenspiel als Methode sozialen Lernens. Ein Reader. Königstein/Ts..

Scheuerl, H. (1979): Das Spiel, Weinheim Basel.

Stachowiak, H. (Hrsg.) (1980): Modelle und Modelldenken im Unterricht. Anwendung der allgemeinen Modelltheorie auf die Unterrichtspraxis, Bad Heilbrunn.

Dieser Text ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Wolfgang W. Mickel (Hg.). 1999. Handbuch zur politischen Bildung, Bonn, S. 369-373.
© 1999 Wilfried Buddensiek, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
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