Rechtsextremismus im Unterricht: Verstehen vs. Moralisieren – Soziologische Reflexionen im Lernfeld Soziologie der gymnasialen Oberstufe

Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, wie man mit mehr oder weniger rechts affizierten Jugendlichen über Rechtsextremismus sprechen und dabei gleichzeitig im Sinne demokratischer Bildung wirken kann. Dazu wird in einem ersten Schritt eine Arbeitsdefinition von ‚Rechtsextremismus‘ entwickelt und skizziert, welche Ursachenfaktoren das Phänomen begünstigen. Dies ist sinnvoll, weil pädagogische Strategien gegen Rechts nicht umhin können, an den Wurzeln des Phänomens anzusetzen. In einem zweiten Schritt werden verschiedenen Strategiefamilien der pädagogischen Arbeit gegen Rechts erarbeitet und diskutiert. Auf dieser Grundlage kann der Wert der wissensorientiert-aufklärenden, konkret ‚soziologisierenden‘ Strategie gewürdigt werden. In einem letzten Schritt stelle ich schließlich eine entsprechende Unterrichtsreihe vor.

1. Rechte Einstellungen und deren Ursachen in der Rechtsextremismusforschung

1.1 Was ist Rechtsextremismus?

Die begriffliche Fassung des Phänomens „Rechtsextremismus“ ist in den letzten Jahren eng an die Entwicklung empirischer Instrumente geknüpft gewesen, mit denen man rechtsextremistische Einstellungen in der Bevölkerung zu messen beabsichtigte. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts einigten sich Forschende aus einschlägigen Wissenschaftsbereichen auf eine Arbeitsdefinition und fassten Rechtsextremismus als ein „Einstellungsmuster“ (Decker & Brähler 2006: 20), das folgende Einstellungsdimensionen enthalte:

(1) Rechtsextremistische Einstellungen knüpfen vielfach an die Ideologieelemente des Nationalsozialismus an; eine Einstellungsdimension ist somit die Verharmlosung des historischen Nationalsozialismus. (2) Eine weitere Einstellungsdimension ist die Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur. Im Einzelnen geht es hierbei um die Forderung nach einer starken politischen Führerpersönlichkeit, die Ablehnung des Parteienpluralismus und die Betonung der Volksgemeinschaft. Politische Führung solle – im Sinne einer Einheit von Regierenden und Regierten – die verbindenden Interessen des Volkes verkörpern. (3) Eine weitere im engeren Sinne politische Einstellungsdimension ist der übersteigerte Nationalismus (Chauvinismus). Gemeint ist die übermäßige Ausrichtung des Denkens und Handelns an der eigenen Nation. Damit gehen Überlegenheitsgefühle gegenüber anderen Nationen, die Überhöhung der eigenen Nation und die Ansicht, die eigene Nation sei besser, einher. (4) Neben den ersten drei eher politischen Einstellungsdimensionen betont die Konsensdefinition des Rechtsextremismus auch den sozialen Aspekt des Einstellungsmusters. Hier ist zunächst der Antisemitismus zu nennen, also eine feindselige Haltung gegenüber Juden, die Unterstellung verwerflicher Charaktereigenschaften (z.B. Habgier, Hinterhältigkeit) und die Ansicht, dass Juden zur Verfolgung eigener Interessen weltweit einen zu großen Einfluss ausüben. (5) Hieran schließt sich die Einstellungsdimension der Ausländerfeindlichkeit an, also die Vorstellungen, dass Deutschland überfremdet sei, dass Ausländer hauptsächlich nach Deutschland kämen, um den Sozialstaat auszunutzen und dass Ausländer im Zweifel wieder aus Deutschland ausgewiesen werden sollten. (6) Eine letzte Einstellungsdimension ist der Sozialdarwinismus. Dieser kombiniert die Vorstellung von der Ungleichwertigkeit verschiedener Kulturen oder Ethnien mit der Überlegenheitsvorstellung der eigenen. Hinzu kommen Ansichten, wonach unterschiedliche Kulturen oder Ethnien unterschiedlich behandelt werden sollten und sich auch im sozialen Bereich der Stärkere gegen den Schwächeren durchsetzen sollte (Decker & Brähler 2006; zusammenfassend Glaser 2012, Stöss 2010). Es sein an dieser die Stelle die Frage vernachlässigt, wie viele dieser sechs Einstellungsdimensionen in welcher Intensität gegeben sein müssen, um von einem gefestigten rechtsextremistischen Weltbild o. ä. ausgehen zu können (dazu Stöss 2010).

Insbesondere das hier unter Sozialdarwinismus Gefasste nimmt die Arbeitsgruppe um Wilhelm Heitmeyer in den Fokus der eigenen Forschungen. Heitmeyer erkennt in Ungleichwertigkeitsvorstellungen eine zentrale Einstellungsdimension des Rechtsextremismus und entfaltet diese zu einem Einstellungssyndrom, das er als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2002-2012) bezeichnet. Hierbei handelt es sich um einen Komplex, bei dem Menschen aufgrund zugewiesener Gruppenzugehörigkeiten als ‚unnormal‘ oder ‚weniger wert‘ feindselig behandelt, abgewertet oder ausgegrenzt werden sollen. Diese Abwertung kann sich auf ganz unterschiedliche Gruppen beziehen – Juden, Langzeitarbeitslose, Sinti und Roma, Frauen, Homosexuelle, Muslime etc. – wobei es signifikante empirische Korrelationen zwischen den gruppenbezogenen Abwertungen gibt. Gerade deshalb lässt sich im Sinne von Heitmeyer auch von einem gemeinsamen Einstellungskern sprechen, der als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf den Begriff gebracht werden kann (Küpper & Möller 2015).

Eine umfassende Definition des Rechtsextremismus darf jedoch nicht auf der Ebene der Einstellungen verharren, sondern muss die Handlungsebene mit einbeziehen. In diesem Sinne müssen bei der Fassung des Phänomens neben Einstellungen auch „Verhaltensweisen und Aktionen“ (Jaschke 2001: 30) berücksichtigt werden. Dazu gehören etwa Protestformen, Wahlverhalten, Partizipation in rechten Organisationszusammenhängen bis hin zu formaler Mitgliedschaft (z.B. in Parteien) oder sogar Terror und Gewalt (Stöss 2010). Diese Ausweitung bedeutet nicht, die Verhaltens- oder Handlungsebene zu verabsolutieren und Rechtsextremismus unter Ausblendung der inhaltlichen Spezifika lediglich als ein gegen die verfassungsmäßige, freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtetes Verhalten zu definieren (so die Kritik am Extremismusbegriff des Verfassungsschutzes) (Stöss 2010). Es wird aber deutlich, dass für die Fassung des komplexen Phänomens Einstellungs- und Verhaltenskomponenten zu berücksichtigen sind.

Für eine pädagogisch interessierte Begriffsdefinition bleiben jedoch die Einstellungsmuster von besonderer Bedeutung. Denn für eine bildnerische Praxis, die sich dem Phänomen in demokratischer Bildungsabsicht stellen will, erscheint es besonders erfolgversprechend, „die rechtsextremistische Persönlichkeit insgesamt (und nicht nur ihre möglicherweise verfassungsfeindliche Praxis) sowie ihr persönliches Umfeld ins Visier zu nehmen“ (Stöss 2010, 21). Auch sind Pädagog(inn)en an allgemeinbildenden Schulen ja häufig nicht mit politischen Aktivitäten konfrontiert – wenngleich dies vorkommen mag und dann weitere Unterstützungsressourcen verlangt –, sondern mit Äußerungen und Weltsichten, in denen sich rechte Einstellungen offenbaren.

1.2 Wie werden rechte Einstellungen erklärt?

Es ist evident, dass Bildungsbemühungen, die sich für die Herausbildung demokratischer Identitäten und gegen die Entwicklung rechtsextremistischer Einstellungen einsetzen, die Ursachen rechtsextremistischer Einstellungen berücksichtigen müssen. Nur wenn bekannt ist, welche Bedingungen die entsprechende Einstellungsentwicklung begünstigen, lassen sich gezielt pädagogische Maßnahmen entwickeln. Es ist darüber hinaus Konsens, dass das Phänomen des Rechtsextremismus nicht monokausal erklärt werden kann und dass auch die Spezifika des jeweiligen Einzelfalls berücksichtigt werden müssen. Dennoch lassen sich folgende Ursachenfaktoren zusammenfassen.

(1) Individuelle Ursachen: In den politikwissenschaftlichen und soziologischen Ursachenforschungen werden individuelle Ursachen oft vernachlässigt. Im Bereich der Vorurteilsforschung – und das Einstellungssyndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist nichts anderes als ein Komplex von Vorurteilen (Küpper & Möller 2015) – wird aber darauf hingewiesen, dass fehlende sozial-kognitive Fähigkeiten mit der Entwicklung von Vorurteilen einhergehen. So zeigt sich, dass eine geringe Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme oder aber eine geringe Fähigkeit, Menschen anders als nur nach wenigen, sichtbaren äußeren Merkmalen klassifizieren zu können, mit einer höheren Vorurteilsneigung korreliert (Raabe & Beelmann 2009).

(2) Soziale und sozialpsychologische Ursachen: Die hier versammelten Erklärungsansätze interessieren sich nicht lediglich für die sozialkognitiven Fähigkeiten und deren Bedeutung für die Vorurteilsentwicklung, sondern für den Zusammenhang zwischen sozialen Bedingungen, individuellen Verarbeitungsleistungen dieser Bedingungen und der Entwicklung rechtsextremistischer Einstellungen. Je nach Theorie werden ganz unterschiedliche soziale Kontexte fokussiert: Im mikrosozialen Bereich wird etwa auf die Bedeutung der Familie hingewiesen. So ist im Bereich der Vorurteilsentwicklung von einem Zusammenhang elterlicher und kindlicher Vorurteile auszugehen (Raabe & Beelmann 2009). Ein klassischer und stabiler Befund ist der erstmals von Adorno und Kolleg(inn)en (Adorno 1996) nachgewiesene Zusammenhang eines auf Kälte, Ablehnung und Autorität beruhenden Erziehungsstils mit der Entwicklung einer sogenannten autoritären Persönlichkeit. Diese ist durch passive und aktive autoritäre Haltungen und ein übertriebenes Machtdenken gekennzeichnet. „Menschen, die bereit sind, sich anderen unterzuordnen, die zugleich Gehorsam und Disziplin von anderen fordern und eine Law-and-Order-Haltung vertreten, neigen signifikant eher dazu, andere abzuwerten“ (Küpper & Möller 2015, 30). Der Autoritarismus weist somit in zweierlei Hinsicht Verbindungen zu rechtsextremistischen Einstellung auf, einerseits in der Befürwortung sozialer Hierarchien (Zick & Küpper 2009) und andererseits in der Abwertung bestimmter Personengruppen.

Im mesosozialen Bereich wird auf die Bedeutung der Gruppe hingewiesen. „Der meso-soziale Kontext umfasst Ursachen, die sich aus den Beziehungen zu und zwischen Gruppen ergeben. Rechtsextreme Orientierungen sind primär durch diesen Kontext definiert, weil der Rechtsextremismus ein Gruppenphänomen ist“ (Zick & Küpper 2009). Gruppenzugehörigkeiten und die Teilnahme an Gruppenpraktiken erfüllen dabei die Funktion, ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren und zur Identitätsfindung beizutragen. Dies ist besonders dann wahrscheinlich, wenn eigene Misserfolgs- und Abwertungserfahrungen gemacht wurden. Rechtsextreme Gruppen bieten Orientierung für prekäre Identitäten. Um den Zusammenhalt der Gruppe und eine positive soziale Identität zu erreichen, bietet sich dabei die Abwertung anderer Gruppen an (z. B. durch Schimpfwörter) (Küpper & Möller 2015).

Auch im makrosozialen Bereich sind Bedingungen anzutreffen, die die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen fördern können. Besonders prominent ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Desintegrations-Verunsicherungs-Theorem von Wilhelm Heitmeyer. Zunehmende Freiheitsspielräume der Individuen werden demnach nicht als Zugewinn für die eigene Persönlichkeitsentwicklung aufgefasst, sondern als verunsichernde Belastung. Im Kern geht es bei dieser Theorie um einen Zusammenhang von objektiven und subjektiven Desintegrationserfahrungen (fehlende gesellschaftliche Teilhabe in ganz unterschiedlichen Bereichen wie Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Heiratsmarkt, Politik), individueller Verunsicherung und einer Flucht in Sicherheiten versprechendes rechtsextremistisches Gedankengut. Desintegrationsängste werden bearbeitet, indem schwächeren Statusgruppen Verantwortung für die eigene prekäre Lage zugeschrieben wird (Küpper & Möller 2015, Zick & Küpper 2009). An dieser Stelle fügen sich deprivationstheoretische Ansätze in das Desintegrations-Verunsicherungs-Theorem ein. Relative Deprivation meint das subjektive Gefühl, im Vergleich zu einer als relevant erachteten Vergleichsgruppe (Arbeitslose, Ausländer etc.) zu kurz zu kommen. Ein Ausweg wird dann in der moralischen und materiellen Abwertung der Vergleichsgruppe gesehen (Fuchs, Lamnek & Wiederer 2003).

(3) Politische Kultur: Ein letzter Erklärungsansatz fragt vornehmlich nach den gesellschaftlichen Ressourcen rechtsextremistischer Einstellungen. Mit dem Ziel, die eigene soziale Dominanzposition zu stabilisieren und Ungleichheiten zu legitimieren, definieren – so die Annahme – gesellschaftliche Eliten Normalitätsvorstellungen. Das zieht nach sich, „dass die großen Volksparteien, die Gewerkschaften, die Regierungen und die Massenmedien durch ihre Definitionen des ‚Normalen‘ und durch die von ihnen vertretenen Problemlösungen – etwa: Vorrang für Deutsche auf dem Arbeitsmarkt, Inländerprimat bei der Arbeitsvermittlung – dem Rechtsextremismus Anknüpfungspunkte bieten und daher verstärkend wirken können“ (Stöss 2010, 52; auch Küpper & Möller 2015). Der Fokus auf die politische Kultur macht darauf aufmerksam, dass sozialpsychologische Mechanismen zwar gleichsam die soziale Bedarfsstruktur abbilden, aber keine Antworten darauf geben, woher das Angebot an spezifisch rechtsextremistischen ‚Antworten‘ kommt.

2. Pädagogische Strategien

2.1 Überblick

Strategien stellen verschiedene Wege des Umgangs mit dem Phänomen dar. Sie beinhalten eine Wirkungsannahme, bei der es darum geht, Schülerinnen und Schüler von unerwünschten Einstellungen abzubringen sowie erwünschte Einstellungen zu entwickeln oder zu festigen. In der Literatur gibt es eine nicht zu überblickende Fülle von Vorschlägen zum Umgang mit menschenabwertenden und rechtsextremen Einstellungen. Oftmals folgen diese nicht streng einer bestimmten Strategie, sondern kombinieren verschiedene Elemente. Versuche der Klassifizierung sind deshalb schwierig. Die hier vorgeschlagene Klassifizierung wurde inspiriert von Beelmann, Heinemann & Saur (2009), Rieker (2009) und Schubarth (2000). Kriterium der Klassifizierung sind nicht die Inhalte, auf die sich die Strategien richten (Menschenrechte, Rassismus o.ä.), und auch nicht die Zielgruppen, die damit angesprochen werden sollen. Kriterium sind vielmehr die unterscheidbaren didaktisch-methodischen Vorgehensweisen, die Art des methodischen Hebels, der eine Wirkung erzielen soll.

Da Rechtsextremismus – wie gezeigt – ein komplexes Phänomen ist, ist auch von pädagogischen Ansätzen nicht so etwas wie eine Generalstrategie zu erwarten. Zu fragen ist deshalb immer, worauf reagiert eine bestimmte pädagogische Strategie und wo liegen möglicherweise Probleme. Im Folgenden sollen vier Strategiefamilien vorgestellt und in Ansätzen diskutiert werden.

(1) Wissensbezogene Strategien: Hierzu können zwei Grundformen unterschieden werden: Eine erste Variante beschäftigt sich mit der Vermittlung von Wissen zu historischen und aktuellen Entstehungsbedingungen, Formen und Auswirkungen menschenverachtender Ideologien und Einstellungskomplexen. Auch informationsbasierte Zugänge zum Fremden, zu kultureller Vielfalt usw. sind hiermit angesprochen. Angewandt wird diese Strategie u. a. in der schulischen politischen und politisch-historischen Bildung, aber auch Ansätze der Menschenrechtsbildung, antirassistischer Bildung und interkultureller Bildung sind hier zu verorten (z.B. Ahlheim/Heger 1999). Bei einer zweiten Variante geht es nicht in erster Linie um den systematischen Aufbau von immunisierendem Wissen, sondern um die Verwendung von Argumenten gegenüber einschlägig orientierten Jugendlichen. Diese Strategie ist eher situativ orientiert, weniger aufklärend, dafür stärker konfrontativ. Beispiele sind das Argumentationstraining von Klaus Peter Hufer (2008) oder der Ansatz des subversiven Argumentierens von Hubert Schleichert (1999). Gemeinsam haben die Strategien, dass sie auf die Überzeugungskraft, Rationalität und logischer Konsistenz setzen. Dies scheint kaum an die oben skizzierten Ursachen des Rechtsextremismus anknüpfen zu können. Die wissensorientierte Strategie scheint deshalb vor allem zur Festigung demokratischer Einstellungen von Jugendlichen ohne Tendenzen zum Rechtsextremismus geeignet zu sein. Argumentative und konfrontative Ansätze können bei rechtsaffinen Jugendlichen vermutlich aber dann hilfreich sein, wenn gleichzeitig gefestigte Anerkennungsbeziehungen zwischen Jugendlichen und Pädagog(inn)en etabliert sind (Wirksamkeitsforschung ist in diesem Feld äußerst rar, Beelmann, Heinemann & Saur 2009).

(2) Kompetenzbezogene Strategien: Nach Beelmann, Heinemann & Saur (2009) richtet sich diese Strategie auf Fähigkeiten, die sich mittelbar „als förderlich für die Toleranz gegenüber der Andersartigkeit von Menschen erwiesen haben“ (441), wie zum Beispiel die Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme, zur Empathie, zum Umgang mit Konflikten. Wilfried Schubarth (2000) nennt noch Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz und kommunikative Kompetenz. Durch bestimmte unterrichtliche Arrangements und Übungen können solche Fähigkeiten angebahnt werden, wie z. B. durch Rollenspiele, Planspiele, Streitschlichter-Programme, Kontroversverfahren oder Gründungssimulationen (z.B. Detzner & Mai 2012). Angenommen wird, dass mit der Förderung dieser Kompetenz auch menschenabwertende und rechtsextreme Einstellungen zurückgedrängt werden können. Solche Strategien knüpfen insbesondere an die sozialkognitiv orientierten Ursachentheorien an, da sie die Verbesserung sozialkognitiver Fähigkeiten anstreben und damit auf die Reduktion von etwa Vorurteilen hinwirken wollen (vgl. zur Wirksamkeit Beelmann, Heinemann & Saur 2009).

(3) Authentisch-erfahrungsorientierte Strategien: Unter dieser Bezeichnung versammle ich alle Ansätze, die den Schülerinnen und Schülern authentische Erfahrungen ermöglichen, die dazu geeignet sind, menschenverachtende und rechtsextreme Einstellungen zurückzudrängen. Unterscheiden lassen sich hier (mindestens) zwei Varianten: Zum einen diejenigen, die Abwertung und Vorurteile abbauen wollen durch echte Begegnung und Kontakt (zuerst Allport 1954). Zu solchen Kontaktinterventionen zählt im Schulbereich z. B. der Schüleraustausch mit ausländischen Schulen. Darüber hinaus können Schulen in der Einwanderungsgesellschaft und unter dem Zeichen der Inklusion zunehmend ohne Partnerschulen im Ausland Kontakte verschiedener Gruppen pädagogisch organisieren und begleiten. Formen kooperativen Lernens und Lernpatenschaften sind Beispiele für diese Möglichkeiten (vgl. zur Wirksamkeit Beelmann, Heinemann & Saur 2009). Zum anderen sind hier Strategien zu verorten, die in Unterricht und Schulleben Formen der demokratischen Beteiligung für Schülerinnen und Schüler stärken wollen. Die Erfahrung gelebter Demokratie sowie die Möglichkeit der Mitbestimmung sollen dazu beitragen, dass Jugendliche sich erst gar nicht rechten Ideologien zuwenden. Angesprochen ist hier v. a. der demokratiepädagogische Ansatz von Peter Fauser (Beutel & Fauser 2007). Dieser Ansatz knüpft v. a. an sozialpsychologische Ursachentheorien an, da hier durch die demokratische Einbindung Misserfolgs- und Desintegrationserfahrungen vermieden werden sollen, die zu einem kompensatorischen Abgleiten in rechtsextremistisches Gedankengut führen könnten. Inwiefern demokratische Erfahrungen, die ja auch mit Niederlagen verbunden sein können, umstandslos gegen Rechtsextremismus wirken, ist empirisch nicht erforscht, allerdings scheint die mit einer solchen demokratischen Praxis verbundenen Anerkennungskultur hilfreich zu sein (s. u.).

(4) Anerkennungspädagogische Strategien: Diese Strategien können gewissermaßen auch innerhalb der anderen genannten Strategien verwirklicht werden. Es geht hierbei um zweierlei, einerseits darum, Abwertungen und Demütigung von Schülerinnen und Schülern zu vermeiden und andererseits personale Wertschätzung in allen Situationen von Unterricht und Schulleben zu realisieren. Es geht um die Abkehr von überhöhtem Leistungsdruck, eine angstfreie Lernkultur und das authentische Interesse der Lehrpersonen an den Weltzugängen der Schülerinnen und Schüler: „Man muss ansetzen an den Problemen die diese Jugendlichen haben, nicht an den Problemen die sie machen“ (Krafeld 2012, 55). Solche Ansätze finden sich in der gerade erwähnten Demokratiepädagogik (Beutel & Fauser 2006) wie auch in der Anerkennungspädagogik (Hafeneger, Henkenborg & Scherr 2013) oder – in veränderter Form im außerschulischen Bereich – in der akzeptierenden Jugendarbeit (Krafeld 2012). Sie gehen davon aus, dass Anerkennung und Wertschätzung dazu führen, dass Verunsicherung vermieden und Identität gestärkt werden können. Starke Identitäten, so die Annahme, seien nicht anfällig für rechtsextremistische Ideologie. In der Tat kann auch empirisch ein Zusammenhang von rechtsextremistischen Einstellungen und einer mangelhaft wahrgenommenen Anerkennungskultur an Schulen identifiziert werden (Sandring 2006).

Die vorgestellten Strategien haben sich in der Praxis bewährt, auch wenn empirische Erkenntnisse zur Wirksamkeit sehr ungleich verteilt sind. Ein deutliches Desiderat besteht in diesem Zusammenhang auch darin, dass die Eignung der Strategien kaum unter zielgruppenspezifischen Aspekten diskutiert wird (Beelmann, Heinemann & Saur 2009). Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die Strategien bei nicht oder kaum belasteten Jugendlichen probate Wege der Prävention darstellen, bei verfestigteren rechtsextremistischen Einstellungen jedoch schnell an ihre Grenzen stoßen.

2.2 Diskussion

Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass wissensbezogene Ansätze kaum an den Einstellungen der Jugendlichen rühren können. Dies wird vor allem von der historisch-politischen Gedenkstättenarbeit, die sich etwa mit den Bedingungen und Konsequenzen des Nationalsozialismus beschäftigt, immer wieder betont. So schreibt Helmut Rook von der Gedenkstätte Buchenwald: „Gedenkstätten sind weder ein Therapeutikum gegen rechte Gesinnung, noch sind sie ein Durchlauferhitzen für demokratische Positionen und Handlungen“ (Rook 2003). Aufklärung und Wissensvermittlung reichen nicht aus, weil – wie oben gezeigt – die Entwicklung rechtsextremistischer Einstellungen ja gar kein Wissensproblem, sondern ein Kompetenz- und/oder sozialpsychologisches Problem darstellt. In der auf Argumentation ausgerichteten Variante des wissensbezogenen Ansatzes entsteht schnell die Gefahr der Belehrung, die zu Verhärtungen und Kommunikationsabbrüchen führen kann.

Die Gefahr, dass die pädagogische Intervention als Gesinnungsbildung, Moralisierung und Belehrung wahrgenommen wird, besteht durchaus auch bei den kompetenzorientierten und authentisch-erfahrungsorientierten Strategien (Kontaktinterventionen setzen ausdrücklich auf Freiwilligkeit der Teilnahme). Wenn jemand faktisch und deutlich im Strudel der Ablehnung der Demokratie, Pluralität, Toleranz etc. steckt, wird er kaum die Fähigkeit besitzen, sich durch die Aufforderung, Demokrat zu werden, herauszuziehen. Jemandem, der aus Gründen erfahrener Desintegration, Ohnmacht und Schwäche nicht zur Perspektivenübernahme oder zur Anwendung demokratischer Arten der Konfliktregelung fähig ist, ist mit der bloßen Forderung, die Perspektive zu wechseln und demokratisch zu sein, schwer beizukommen. So berichtet der Journalist Andreas Montag über ein Interview mit rechten Jugendlichen: „Auf das Gedankenspiel, selbst in Afrika geboren worden zu sein, mögen sie nicht eingehen. Weil es nun mal nicht so ist. Basta.“ (Montag 2001, 84).

Die moralisierende, den anderen in seiner Weltsicht nicht anerkennende Argumentation im Unterricht ist eventuell sogar dazu angetan, die prekären Anerkennungsbeziehungen weiter zu destabilisieren, die Erfahrung von Schwäche und Ohnmacht im Unterricht zu reproduzieren und somit die Entwicklung rechter Einstellungen zu fördern. Im Unterricht wird dies dann durch Abblocken oder Zynismus deutlich. „Je höher die Moralisierung, desto niedriger die Kommunikationschancen“ (Heitmeyer 1995, 192).

Für Jugendliche mit ausgeprägten rechtsextremistischen Einstellungen ist jedoch auch die anerkennungstheoretische Strategie nicht ohne Weiteres zu empfehlen. Sicher scheint, dass die Etablierung von stabilen Anerkennungsbeziehungen in der Schule eine sinnvolle Präventionsstrategie darstellt. Schule soll in diesem Sinne ein Erfahrungsraum für Schüler werden, in dem sie ohne übertriebenen Leistungsdruck in ihren Talenten, Fehlern und Eigenheiten akzeptiert werden. Anerkennung fungiert hier als zentrales Instrument für Integration und Bildung fester Identitäten, die gegen Rechtsextremismus zu immunisieren helfen. Bei rechtsextremistisch eingestellten Jugendlichen scheint Anerkennung allein jedoch keineswegs dazu geeignet, die Einstellungen zu irritieren. Die Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit lautet entsprechend, dass zur pädagogischen Partnerschaft noch die politische Gegnerschaft treten muss (Gloel/Gützlaff 2010), dass Verstehen nicht zu Einverständnis werden darf (Kuhlmann 2001).

An dieser Stelle soll noch einmal auf die Möglichkeiten des wissensorientierten Ansatzes eingegangen werden. Dies geschieht nicht, weil davon auszugehen ist, dass es sich hierbei doch um einen besonderen, den anderen Ansätzen überlegenen Zugang handelt. Allerdings ist davon auszugehen, dass es in der schulischen und außerschulischen politischen Bildung immer wieder zu Situationen kommt, in denen über Rechtsextremismus gesprochen wird. Die anderen hier vorgestellten Strategien kommen dagegen ohne die explizite Thematisierung des Phänomens aus. Die Frage, die hier gestellt werden soll, ist: Wie kann man mit zu rechtsextremistischen Einstellungen tendierenden Jugendlichen über Rechtsextremismus sprechen? Ich schlage vor, auf das Phänomen mit den Jugendlichen einen soziologisierenden Blick zu werfen, d. h. nach den Ursachen des Phänomens Rechtsextremismus zu suchen. Dazu drei Thesen:

(1) Die durch eine Soziologisierung geleistete Vermeidung eines moralisierenden oder politisch-kontroversen Umgangs mit dem Thema bringt die Schüler und den Lehrer tendenziell nicht in die Verlegenheit, rechte Schüler moralisch herabzusetzen. Eine Flucht ins Abblocken oder in den Zynismus wird somit umgangen.

(2) Eine soziologisierende Thematisierung rechter Einstellungen erleichtert die Etablierung stabiler Anerkennungsverhältnisse. Das gemeinsame Bemühen von Lehrer und Schülern, das Phänomen rechter Einstellungen zu erklären, ermöglicht einen gleichberechtigten Umgang miteinander. Auch (mehr oder weniger) rechts eingestellte Jugendliche können an einem solchen Unterricht teilnehmen, ohne befürchten zu müssen, moralisch desavouiert zu werden. Im Idealfall können Anerkennungsbeziehungen etabliert oder aufrechterhalten werden, die Ich-Stärke entwickeln helfen und einem Abdriften in rechtes Gedankengut entgegenwirken.

(3) Eine soziologisierende Thematisierung rechter Einstellungen ermöglicht ein sozialwissenschaftlich-fachliches Verstehen moderner Gesellschaften. Die Diagnose der gesellschaftlichen Situation und, damit verbunden, der gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum ermöglicht eine reflexive Verortung des Individuums in dieser Gesellschaft. Nur wenn die Schüler die faktischen Anforderungen und Spezifika ihrer modernen Gesellschaft verstehen, können sie planvoll darauf reagieren; zu verstehen, was Pluralisierung und Individualisierung abverlangen, ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass Situationen der Angst, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit bewältigt werden können.

3. Umsetzung der Strategie „Soziologisierung rechter Einstellungen“ in der gymnasialen Oberstufe

3.1 Inhalt, Thema und Lernziel der Unterrichtsreihe

Zentraler Inhalt der geplanten Unterrichtsreihe sollen also rechte Einstellungen sein, wie sie oben skizziert wurden. Thema soll aber die Frage nach den Ursachen dieses gesellschaftlichen Phänomens sein. Die Bearbeitung des Themas erfolgt, indem sich die Schüler zunächst mit den oben skizzierten Ideologieelementen rechter Einstellungen auseinandersetzen und diese dann – theoretisierend – als eine von Desintegrations-, Gefährdungs-, und Ohnmachtserfahrungen gespeiste individuelle Verarbeitung der Merkmale moderner Gesellschaften erklären. Konkret: Die Elemente rechten Gedankengutes sollen erkannt werden als individuelle Reaktionen (Suche nach Gewissheit, Sicherheit, Klarheit etc.) auf Wertewandel (vgl. Klages 1995, 1998, 2001), Flexibilisierung (vgl. Sennett 2000) und Individualisierung (vgl. Beck 1986). Das Lernziel der Unterrichtsreihe besteht darin, makrosoziologische Erklärungen des Phänomens zu finden. Dabei soll die Verstehensleistung von den makrosozialen Zuständen hin zu der Entwicklung rechtsextremistischer Einstellungen – ganz im Sinne von Wilhelm Heitmeyer (s. o.) – selbst vollzogen werden. Die Schüler erhalten deshalb nicht lediglich einen Text von Heitmeyer, sondern befassen sich mit makrosozialen Entwicklungen und überlegen, inwiefern diese rechtsextremistische Einstellungen begünstigen können.

3.2 Didaktisch-methodischer Gang

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Die zentrale methodische Entscheidung der Unterrichtsreihe ist der Dreischritt bzw. die Problemstudie. Der Dreischritt geht teilweise mit der Logik soziologischer Forschung konform und ermöglicht so die angestrebte Soziologisierung des Phänomens. Die Vorgehensweise ist für den Sozialkundeunterricht von Wolfgang Hilligen entwickelt worden. Ein Problem verlangt Lösungen und deshalb – zuvor – nach einer inhaltlichen Analyse des Problems. Daraus entstand der Dreischritt Sehen, Beurteilen, Handeln. Oder: (1) Um welches Problem handelt es sich? (2) Wie ist das Problem entstanden? (3) Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es und welche Konsequenzen haben diese für die Betroffenen (vgl. Hilligen 1985: 204)? Auf den Unterricht bezogen: Das Phänomen rechter Einstellungen muss (1) zunächst in den Fragehorizont der Schüler gerückt werden, um es dann (2) mit Hilfe soziologischer Theorien erklären zu können. Diese Vorgehensweise wird anschließend (3) durch eine Phase der Lösungssuche ergänzt, in der die Schüler gewissermaßen gedanklich tätig werden.

Phase I - Aufriss des Phänomens: Der thematische Schwerpunkt der ersten Stunde ist die Beantwortung der Frage „Was ist Rechtsextremismus?“. Wie oben ausgeführt, soll gerade die Konfrontation mit Argumenten gegen rechte Organisationen vermieden werden, um ein Abblocken von Jugendlichen mit rechten Orientierungen zu vermeiden. Das Phänomen sollte deshalb eher sachlich und anschaulich, auch durchaus mit moralischem Unterton, aber nicht moralisierend dargestellt werden. Bewährt hat sich der Einsatz eines Films zum Thema (hier müssen aktuelle Beiträge gesucht werden; brauchbar erscheint momentan der Film „Rechtsextremismus heute: Zwischen Schnuller und Springerstiefel“ von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen). Ein möglicher Arbeitsauftrag ist: „Nenne und erläutere knapp Vorstellungen der Organisation von Staat und Gesellschaft rechtsextrem gesinnter junger Menschen!“

Danach sollen die Schüler reflektieren, weshalb das Thema „Rechtsextremismus“ im Lernfeld „Soziologie“ aufgegriffen wird bzw. inwiefern es hier thematisiert werden könnte. Es muss vorausgesetzt werden, dass die Schüler schon aus vorangegangenen Stunden wissen, dass die Soziologie bestrebt ist, menschliches Handeln in und durch soziale(n) Kontexte(n) zu erklären. Es folgen nun erste hypothetische Erklärungsversuche des Rechtsextremismus. Wir gehen davon aus, dass die Schüler(innen) auf soziologische Erklärungen, die schon im Unterricht in anderen Kontexten besprochen wurden, abheben (etwa Sozialisation, Gruppenzwang). Die Hypothesen der Schüler(innen) werden festgehalten.

Phase II - Erklärung des Phänomens: Diese Phase besteht aus drei Unterrichtsstunden, die jeweils für die Erarbeitung eine der oben aufgeführten Gegenwartsdiagnosen und mögliche Erklärungen des Phänomens rechter Einstellungen genutzt werden. Der Schwerpunkt der ersten Stunde dieser Phase ist der von Helmut Klages untersuchte Wertewandel sowie der Zusammenhang zwischen dem Wertewandel und den dadurch ausgelösten Bedürfnissen nach Sicherheit und einem starken Staat. Die Einsicht in den erwähnten Zusammenhang ist durch Schüler(innen) vermutlich nicht unmittelbar möglich. Die Dialektik – gesellschaftliche Situation einerseits (Offenheit, Pluralität) und entgegengesetzte Reaktion einiger Mitglieder der Gesellschaft andererseits (Sicherheitssuche, feste Orientierungen) – soll durch die Schüler(innen) jedoch selbst erkannt werden. Um die schwierige Einsicht vorzubereiten, sie den Schüler(innen) zu veranschaulichen, soll zunächst mit einer Karikatur (Mat. 1: „Der Schrei“) gearbeitet werden. Die Interpretation macht deutlich, dass mehr Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten, die uns der Wertewandel gewährt, auch mehr Eigenverantwortung implizieren, dass aus dem Gefühl der Eigenständigkeit auch schnell das Gefühl des Alleingelassenseins und der Überforderung, der Sehnsucht nach Orientierung und Sicherheit werden kann.

Zur Vertiefung dieser Erkenntnis bearbeiten die Schüler(innen) ein Arbeitsblatt (Mat. 3) zum Wertewandel nach Klages mit drei Arbeitsaufträgen. Dies erfolgt in Gruppen, um so den schwierigen Erkenntnisprozess durch Diskussionen zu erleichtern: Zunächst entwickeln die Schüler(innen) in Auseinandersetzung mit einer Reihe von Werten der Pflicht und Akzeptanz und einer Reihe von Werten der Selbstentfaltung (zusätzlich Mat. 2) mögliche Oberbegriffe für diese Wertetypen (die Bezeichnungen Pflicht- und Akzeptanzwerte bzw. Selbstentfaltungswerte kennen sie vorher nicht). Weiterhin sollen die Schüler(innen) mit Hilfe einer Statistik von Emnid den Wertewandel als historischen Prozess beschreiben. Danach soll die zentrale Frage aufgegriffen werden, was der Wertewandel mit rechten Einstellungen zu tun hat bzw. wie er diese beeinflusst; der Zusammenhang zwischen Wertewandel und rechten Einstellungen soll formuliert werden. Die Auswertung erfolgt, indem die Gruppen ihre Ergebnisse im Plenum vorstellen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ergebnisse werden diskutiert.

Das Thema der zweiten Stunde dieser Phase ist der von Richard Sennett beschriebene Prozess der Flexibilisierung sowie der Zusammenhang von Flexibilisierung und dem Bedürfnis nach einem starken Staat. Auch in dieser Stunde empfiehlt es sich, nach einer Phase der Einzelarbeit zum Lesen des Textes (Mat. 4) in eine Phase der Gruppenarbeit überzugehen. Der wichtigste Arbeitsauftrag besteht darin zu erklären, inwiefern der Prozess der Flexibilisierung zur Attraktivität rechten Gedankengutes beiträgt. Die Schüler(innen) arbeiten in dieser Stunde eigenständig mit dem Text von Sennett und den Arbeitsaufträgen. Auch hier werden die Ergebnisse im Plenum vorgestellt und Unterschiede und Gemeinsamkeiten diskutiert.

Es folgt in der dritten Stunde dieser Phase der von Ulrich Beck beschriebene Prozess der Individualisierung sowie der Zusammenhang von Individualisierung und dem Bedürfnis nach einem starken Staat, der den Menschen nur bestimmte Möglichkeiten von Lebensentwürfen eröffnet und somit die Entscheidung über den eigenen Lebensweg abnimmt. Bezüglich des Aufbaus gleicht diese Stunde der vorangehenden: nach der Lektüre eines Textes von Ulrich Beck (Mat. 6) erörtern die Schüler(innen) in Gruppenarbeit den Zusammenhang der Individualisierung mit rechtem Gedankengut. Die Auswertung erfolgt wie in den letzten beiden Stunden. – Die Arbeit mit den Texten ist alternativ auch als arbeitsteilige Gruppenarbeit oder als Gruppenpuzzle denkbar.

Phase III – Lösungsversuche: Zentrales Thema der sich anschließenden Stunden sollen mögliche Lösungen für bzw. Maßnahmen gegen das Phänomen Rechtsextremismus sein. Die Suche nach Maßnahmen erscheint besonders für eine konstruktive Einbindung möglicherweise rechts orientierter Schüler(innen) geeignet. Einerseits macht die Suche die moralische Ablehnung des Rechtsextremismus deutlich, andererseits will sie ihn nicht mit moralisierenden Argumenten bekämpfen oder verbieten, sondern sucht sachlich nach Lösungen. Die Schüler(innen) werden hierzu – die Arbeitsgruppen bleiben bestehen – gebeten, Maßnahmen anzudenken, die durch einzelne Individuen, gesellschaftliche Gruppen oder die Politik ergriffen werden können.

4. Fazit

Der Unterricht wurde am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium in Halle (Saale) in einer 12. Klasse im Sozialkundeunterricht (Lernfeld Soziologie) durchgeführt. Im Vorfeld des Unterrichts wurden den Schüler(innen) des Kurses verschiedene Definitionen von Rechtsextremismus vorgelegt, die sich dadurch unterschieden, ob sie Erklärungen des Phänomens enthielten oder nicht („Rechtsextremismus ist eine politische Richtung, die schädlichen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegentritt“ vs. „Rechtsextremismus ist eine Reaktion bestimmter Menschen auf gesellschaftliche und individuelle Bedingungen“). Die Schüler(innen) sollten die Definition ankreuzen, die ihnen am plausibelsten erschien. Vor der Unterrichtseinheit stimmten sechs von vierzehn Schüler(innen) der letztgenannten Definition zu, nach der Unterrichtseinheit dreizehn. Die Wahrnehmung rechten Gedankengutes als ein erklärbares Phänomen moderner Gesellschaften lässt hoffen, dass den rechten Aussagen ihre vermeintliche Dignität genommen wurde und die Schüler(innen) reflektierter mit den Anforderungen moderner Gesellschaften umgehen können.

Auch die im Unterricht durchweg durchgehaltene und auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Kommunikation hat ein Abblocken und eine Flucht in den Zynismus partiell affizierter Schüler(innen) verhindert. Gerade bezüglich dieses Zieles hat sich die Vorgehensweise bewährt.

Die avisierte Ausbildung von Ich-Stärke ist, ohne dass dies hier empirisch belegt werden könnte, durch den Unterricht gefördert, zumindest aber nicht verhindert worden. Insgesamt darf man den Erfolg eines solchen Unterrichts aber auch nicht zu hoch veranschlagen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass durch eine Unterrichtseinheit rechte Orientierungen, die oft tief verankert sind, signifikant abgebaut werden. Entsprechend äußerte sich die Magdeburger Sozialpädagogin Sonja Steinke: „Kein Jugendlicher zieht nach fünf Gesprächen gleich die Bomberjacke aus“ (Hornburg 2001, 86). Dies entbindet die politische Bildung jedoch nicht davon, immer wieder neue Möglichkeiten zu suchen.

Literatur

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Film und Materialien

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  • Geschichte konkret 3. Ein Lern- und Arbeitsbuch. Schroedel. Hannover 1998.