Hans-Dieter König
Inhalt
1. Einleitung: Zur Methode und zum Gegenstand
2. Inhaltsangabe der Basissequenz
3. Szenische Rekonstruktion des Interagierens der Lehrerin mit den SchülerInnen
4. Szenische Rekonstruktion des Aufbegehrens der Jugendlichen gegen die Lehrerin
5. Die szenische Erfahrung des Absurden in der Unterrichtsstunde
6. Sozialisationstheoretisches Begreifen der Schulstunde
7. Schluss
Anmerkungen
Literatur
1.Einleitung: Zur Methode und zum Gegenstand
Der vorliegende Aufsatz stellt einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Projekts einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung (1) dar, die über exemplarische Fallrekonstruktionen Einsichten in die Mikrostruktur pädagogischen Handelns zu gewinnen sucht. Interpretiert wird die Unterrichtsstunde mit Hilfe der von Lorenzer (1986) entwickelten Verfahrensweise der Tiefenhermeneutik, eine Methode, die aus der Anwendung der in der psychoanalytischen Therapie praktizierten Verfahrensweise des szenischen Verstehens auf die Kultur- und Sozialwissenschaften entstanden ist (vgl. König 1997 b; 2000; 2001): Es handelt sich ganz im Sinne Adornos um eine Methode kritischer Sozialforschung (vgl. König 1996), die eine Schulstunde nicht theoretisch einordnet und mit Hilfe plausibler Begriffskonstruktionen erklärt, sondern dazu anleitet, sich emotional auf das szenisch entfaltete Unterrichtsgeschehen einzulassen und es voraussetzungslos auf der Basis eigener Alltagserfahrungen zu verstehen. Da tiefenhermeneutische Fallrekonstruktionen die Bedeutung kultureller Sinnangebote über die Wirkung auf das eigene Erleben erschließen, hat es sich als forschungspraktisch sinnvoll erwiesen, solche Analysen auf der Basis von Gruppeninterpretationen durchzuführen (vgl. König 1993, 206 ff.). Dabei werden die SeminarteilnehmerInnen dazu angehalten, über die Wirkung des Unterrichtsgeschehens auf ihr Erleben die Lebensentwürfe zu erschließen, die in der Schulstunde aufgegriffen und arrangiert werden. Es wird dazu aufgefordert, sich dem freien Spiel der eigenen Einfälle zu überlassen und mit Fragen an den im Unterricht auftretenden Ungereimtheiten und Widersprüchen anzusetzen. Die durch inkonsistente szenische Arrangements ausgelösten Irritationen, die Niederschlag der sich zwischen Lehrer und Schülern entfaltenden Interaktionspraxis sind, eröffnen einen Zugang zu ersten Deutungsversuchen, die anhand der in der Unterrichtsstunde entfalteten Szenerie so lange überprüft und korrigiert werden, bis sich die Szenen von den im Umgang mit dem Datenmaterial gewonnenen Leseerfahrungen her verstehen lassen. Hinzu kommt, dass die wechselnden Verstehenszugänge so lange zueinander in Beziehung gesetzt werden, bis sie sich zu einer szenischen Konstellation zusammenschließen, von der her sich schrittweise das "Rätsel" des im Protokoll zutage tretenden Unterrichtsdramas erhellt [/S. 49:].
Dabei wird das Interagieren zwischen Lehrer und Schülern als Ausdruck einer Lebenspraxis begriffen, in der die Akteure ihre Lebensentwürfe im Einklang mit den in der Schule geltenden Regeln artikulieren und zugleich unterdrücken. Denn die Schule stellt als Institution ein komplexes Gefüge von Normen, Regeln und Rollenerwartungen dar, durch das Kinder und Jugendliche auf eine bestimmte Weise sozialisiert werden. Der manifeste Sinn wird durch die bewussten Intentionen bestimmt, die Lehrer und Schüler in ihrem Sprechen und Handeln im Einklang mit den von ihnen in Anspruch genommenen Regeln zum Ausdruck bringen. Der latente Sinn wird hingegen durch jene Lebensentwürfe bestimmt, die aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit eigenen Wertvorstellungen verpönt sind, sich jedoch auf einer verborgenen Bedeutungsebene Geltung verschaffen. Während die im Unterricht zur Sprache gebrachten und daher bewussten Lebensentwürfe ohne Schwierigkeiten entzifferbar sind, werden die von den Akteuren unterdrückten Lebensentwürfe dadurch zugänglich, dass sie hinter dem Rücken ihres Bewusstseins verhaltenswirksam werden. Im Unterricht treten sie als das Interagieren störende Ungereimtheiten, Widersprüche und Brüche zutage, die den aufmerksamen Sozialforscher irritieren. Dadurch, dass Irritationen den Zugang zu einer quer zum manifesten Sinn der Unterrichtspraxis gelegenen zweiten Sinnebene erschließen, wird unter anderem analysierbar, ob der Lehrer dadurch, dass er seine Intentionen im Rückgriff auf noch nicht bewusst gewordene Lebensentwürfe entwickelt, auf eine phantasievolle Weise unterrichtet, oder ob seine Intentionen womöglich aufgrund uneingestandener Lebensentwürfe widerlegt werden, die sich auf eine blindwütig-bewusstlose Weise im Verhalten durchsetzen. Zugleich wird analysierbar, inwieweit der Lehrer aufgreift oder abwehrt, was die Schüler an Alltagswissen, Vorurteilen und Phantasien, an Interessen und Wünschen einbringen. Damit ist die Methode so weit umrissen, dass zur tiefenhermeneutischen Fallrekonstruktion übergegangen werden kann.
Ich habe als Beispiel eine viel diskutierte Sozialkundestunde mit einer 9. Realschulklasse über das Entwicklungsland Brasilien ausgewählt, die eine 27 Jahre alte Lehrerin im Mai 1979 im Didaktischen Zentrum der Frankfurter Universität vor 14-16 Jahre alten Mädchen und Jungen gehalten hat. Koring (1989) hat diese Unterrichtsstunde mit Hilfe der von Oevermann entwickelten objektiven Hermeneutik eingehend analysiert. Obwohl die Lehrerin sich den Ansprüchen einer progressiven Pädagogik verpflichtet fühlt, praktiziert sie einen direktiven Unterrichtsstil. Die Tatsache, dass sie ein didaktischen Regeln folgendes Unterrichtsprogramm abspult, dessen Erfolg davon abhängt, dass die SchülerInnen ihre Intentionen erraten, zeigt Koring zufolge, dass die Lehrerin auf die Unterrichtsplanung fixiert ist.
Grammes (1994) hat Korings hermeneutische Rekonstruktion dieser Schulstunde eingehend kritisiert. Grammes meint, dass "die 'Unsicherheit' der Lehrerin [...] nicht auf fehlende Routine im Umgang mit Schülern zurückzuführen [ist], sondern auf eine eigene Unklarheit in der thematische[n] Gestaltung" (ebd., 378). In Bezug auf die Schüler liege bei der Lehrerin nur [/S.50:] deshalb eine "Defizitperspektive" vor, weil die Unterrichtsstunde fachdidaktisch nicht genügend vorbereitet worden sei (ebd., 380).
Das erkenntnisleitende Interesse, das ich im Unterschied zu Koring und Grammes verfolge, lässt sich folgendermaßen bestimmen:
Koring geht es darum, mit Hilfe einer Sequenzanalyse Professionalisierungsdefizite aufzudecken. Das Misslingen der Unterrichtsstunde führt er darauf zurück, dass der Lehrerin die hermeneutische Kompetenz fehlt, das Thema im Gespräch mit den Schülern mäeutisch zu entfalten.
Grammes verfolgt dagegen die klassische fachdidaktische Problemstellung: Die Lehrerin scheitere, weil sie sich nicht genügend vorbereitet und sich nicht kritisch mit dem Unterrichtsmaterial auseinandergesetzt habe.
Im Unterschied dazu analysiere ich die im Interagieren zwischen Lehrerin und SchülerInnen zum Ausdruck kommenden bewussten und unbewussten Lebensentwürfe, um die sozialisationstheoretische Fragestellung zu beantworten, wie die Lehrerin über ihren Unterricht auf das Denken und Erleben der SchülerInnen einwirkt und wie umgekehrt die SchülerInnen auf die Lehrerin Einfluss zu nehmen versuchen.
Wie gehe ich nun konkret vor? Ich unterziehe die Basissequenz einer Sekundäranalyse, die Korings sequenzanalytischer Rekonstruktion der Schulstunde zugrunde liegt. Dabei ist zu beachten, dass meine Ausführungen im Rahmen dieses Beitrags zwangsläufig bruchstückhaft bleiben. Um einen ersten Eindruck von der Unterrichtsstunde zu vermitteln, soll die 3 ½- minütige Basissequenz zunächst kurz zusammengefasst werden:
2. Inhaltsangabe der Basissequenz
Die Basissequenz der von Koring untersuchten Schulstunde lässt sich in drei Szenenfolgen zerlegen: Die erste Szenensequenz eröffnet die Lehrerin mit dem innovativen Anspruch, den Schülern die selbständige Erarbeitung eines Comics ermöglichen zu wollen, in dem ein deutsches Mädchen namens Marion einen längeren Urlaub in dem Entwicklungsland Brasilien verbringt. Die Lehrerin weist die Beiträge der SchülerInnen jedoch zurück. Die Szenerie endet mit einer Kritik Joachims, dessen Vorschlag die Lehrerin zurückweist, weil er den Rahmen der Unterrichtsstunde sprenge. Die zweite Szenenfolge beginnt mit der Erklärung der Lehrerin, sie wolle den SchülerInnen "ein bisschen helfen". Um den von ihr verfolgten roten Faden wieder aufzunehmen, fragt sie nach den beiden sozialen Schichten, um die es geht, und lässt Gabi die richtige Antwort geben. Als eine weitere Frage erneut falsch beantwortet wird, kritisiert die Lehrerin die ganze Klasse. Die dritte Szenensequenz wird dadurch bestimmt, dass die Lehrerin ihre Fragen an der Tafel anschreibt. Nachdem mehrere SchülerInnen endlich auf die erwünschte Antwort gekommen sind, lässt die Lehrerin von Ricki und Thomas noch einmal die richtigen Antworten wiederholen. Auf die in dieser Szenenfolge vermehrt auftretenden ironischen Kommentare, das Gemurmel und das Gelächter der Schülerinnen und Schüler geht die Lehrerin nicht ein. [/S. 51:]
3. Szenische Rekonstruktion des Interagierens der Lehrerin mit den SchülerInnen
1. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die erste Szenensequenz, die sich folgendermaßen gestaltet:
„LEHRERIN: Normalerweise erwartet ihr, dass der Lehrer euch sagt, hier, was ihr nun tun sollt, damit, gell.
SCHÜLER: Das erwarten wir.
LEHRERIN: Aha, so seid ihrs gewohnt. Vier Sekunden Pause. Währenddessen Gemurmel, ein Mädchen lacht. Jetzt hier der Auftrag an euch, mal selbst zu überlegen, wie kann ich das anhand dieses Comic hier herausbekommen? Heike.
[...]
HEIKE: Erst mal die Frage stellen, ähm, wer da reich ist, zum Beispiel, äh, das Mädchen, ja, kommt ja aus Deutschland und ihr Onkel ist ja dann sicherlich auch Deutscher. Ja, wer da reich, ob da unten jetzt, ähm, vom anderen Land welche sind, die da was zu sagen haben; oder ob das die die Einwohner dort sind. Vier Sekunden Pause.
LEHRERIN: Das wär ne Möglichkeit.
JOACHIM: Warum also diese, äh, diese Schicht so besteht ..
LEHRERIN: mhm.
JOACHIM: Und zwar, äh, warum also praktisch nur diese total Reichen und warum nur also ne ganze Menge dieser, äh, na sagen wir mal, hm (Er lacht), wie soll ich jetzt sagen?
LEHRERIN: Ärmsten der Armen.
JOACHIM: Ärmsten der Armen, ja ganz genau, und wieso also nichts von den Leuten, die da das große Geld haben, also nichts getan wird; warum, dass die Leute also etwas mehr Geld bekommen, um die Verbesserung der
LEHRERIN: Ja, und meinst du, das kriegen wir in einer Stunde raus Joachim?
JOACHIM: Nein, natürlich nicht, war ja nur ne Frage“ (Koring 1989, 213).
Mit den Worten "Normalerweise erwartet ihr, dass der Lehrer euch sagt, hier, was ihr nun tun sollt" setzt sich die Lehrerin als eine engagierte Lehrerin in Szene, die den Anspruch erhebt, anders zu unterrichten als ihre Kollegen, die einen direktiven Unterrichtsstil praktizieren. Zwar signalisiert sie damit ein Interesse an selbständiger Arbeit. Jedoch irritiert die Bemerkung der Lehrerin, die SchülerInnen würden ja "normalerweise" erwarten, dass der Lehrer den Ton angibt. Obwohl sie gerade zum Ausdruck gebracht hat, dass sie Eigenaktivität fördern will, nimmt sie den Jugendlichen zugleich die Freiheit, eigene Gedanken zu verfolgen, indem sie unterstellt, sie wisse schon, was sie denken.
Die ironische Zwischenbemerkung eines Schülers „Das erwarten wir!“ ignoriert die Lehrerin und fährt folgendermaßen fort: "Jetzt hier der Auftrag an euch, mal selbst zu überlegen, wie kann ich das anhand dieses Comic hier herausbekommen". Dieser Satz irritiert, weil es paradox ist, [/S. 52:]einen "Auftrag" zu erteilen, damit die SchülerInnen "mal selbst überlegen". Zwar kann man zur Eigenaktivität anregen, jedoch lässt sich das selbständige Arbeiten nicht wie das Still-Sein oder das Tafelputzen anordnen. Die Lehrerin unterläuft daher die Eigenaktivität, indem sie die Jugendlichen durch ihre Aufträge unter Kontrolle hält.
Die daran anschließende Bemerkung der Lehrerin, "jetzt [...] mal selbst [...] überlegen, wie kann ich das anhand dieses Comic hier herausbekommen", lässt völlig offen, was eigentlich getan werden soll. Obschon die Lehrerin nicht expliziert, ob der Comic nun konkret interpretiert oder der methodische Zugang erörtert werden soll, unterbreiten Heike und Joachim Vorschläge zur Vorgehensweise. Auf Heikes Vorschlag, es komme darauf an, "erst mal die Frage [zu] stellen, ähm, wer da reich ist [...] und [...] welche [...] was zu sagen haben", erwidert die Lehrerin "das wär ne Möglichkeit". Zwar akzeptiert die Lehrerin Heikes Beitrag oberflächlich, weil sie auf den Vorschlag nicht eingeht, signalisiert sie ihr jedoch, dass sie nicht die erwünschte Antwort gefunden hat. Auch Joachims Vorschlag zu erörtern, "warum also diese, äh, diese Schicht [der Reichen] besteht [...] und wieso [...] also nichts getan wird" für die Ärmsten der Armen, weist die Lehrerin ab, freilich auf eine sehr viel vehementere Weise. Denn sie stellt ungeduldig die Gegenfrage: "Ja und meinst du, das kriegen wir in einer Stunde raus, Joachim?" Auf diese Maßregelung hin erwidert Joachim: "Nein, natürlich nicht, .. war ja nur ne Frage." Wie überraschend ihn der Angriff der Lehrerin trifft, ist daran ablesbar, dass er sich wie vor Schlägen zu ducken scheint. Zwar verteidigt Joachim sich durch den Hinweis, doch nur einen Vorschlag zur Diskussion gestellt zu haben, den er zur Frage abschwächt. Zugleich reagiert er jedoch auf ihre mit moralischer Entrüstung vorgetragene Frage wie ein schuldbewusster kleiner Junge, der seine Meinung aufgibt, sobald sie unerwünscht ist.
Auf diese Weise verstrickt die Lehrerin die SchülerInnen in eine paradoxe Handlungssituation, deren Doppelbödigkeit sich folgendermaßen bestimmen lässt: Während die Lehrerin auf der manifesten Bedeutungsebene ihr Interesse an der Eigenaktivität der SchülerInnen betont, stellt sie auf der latenten Bedeutungsebene ein beträchtliches Autoritätsgefälle her, indem sie zu den SchülerInnen eine kühle Distanz einhält, über alles schon Bescheid weiß, Aufträge erteilt und Fragen stellt, die gefälligst richtig zu beantworten sind. Manifest ist, dass die Lehrerin die SchülerInnen durch ihre reformpädagogische Gesinnung für sich einzunehmen versucht, latent hingegen, dass sie die SchülerInnen für die Schwierigkeiten, die sie mit ihnen hat, zur Rechenschaft zieht.
2. Um die Frage zu beantworten, ob die anhand der ersten Szenenfolge aufgedeckte Interaktionssstruktur durch die folgenden Szenensequenzen bestätigt oder widerlegt wird, wenden wir uns nun der zweiten Szenenfolge zu: Sie wird dadurch eröffnet, dass die Lehrerin einen neuen Anlauf unternimmt, um die SchülerInnen zur aktiven Teilnahme am Unterricht zu bewegen: [/S. 53:]
"LEHRERIN: Also jetzt mal der direkte Ansatz, wie ihr herangeht, um Informationen aus dem Heftchen herauszubekommen. Ich will euch mal en bisschen helfen, [...]"(ebd., 213).
Und dann fährt die Lehrerin fort:
"LEHRERIN: [...] ja, es handelt von zwei Schichten, habt ihr festgestellt, von welcher noch mal, von dem?
GABI leise: Slums.
LEHRERIN: Von den Slums, den Favellas und
GABI leise: Von den Reichen.
EIN MITSCHÜLER leise: Von der high society.
LEHRERIN: Gabi, sags doch laut!
GABI: Von den Reichen.
EIN MITSCHÜLER mit tiefer gepresster Stimme: Von den Reichen, hä, hä. Mehrere lachen" (ebd., 213).
Welche Intention verfolgt die Lehrerin? Da die SchülerInnen sich mit der Lösung der Aufgabenstellung schwer tun, will die Lehrerin ihnen zeigen, wie sie sich die Sache selbständig erarbeiten können ("Ich will euch mal ein bisschen helfen"). Aber dann erläutert sie nicht, wie man das bewerkstelligen kann, sondern wechselt das Thema. Nunmehr will sie den "roten Faden" der Unterrichtsstunde wieder aufnehmen, indem sie auf die Beiträge von Heike und Joachim zurückkommt. Irritierend ist, dass sie das Gesagte nicht noch einmal selbst zusammenfasst, sondern es durch neue Fragen an die SchülerInnen wiederholen lässt. Damit fängt die Unterrichtsstunde an, sich auf eine die SchülerInnen nervös machende Weise im Kreis zu drehen.
Unter welchen Druck die Lehrerin die SchülerInnen damit setzt, lässt sich am Verhalten von Gabi ablesen: Im Zuge der folgsamen Beantwortung der von der Lehrerin gestellten Frage verwandelt sich Gabi in ein kleines Mädchen, dessen Unsicherheit an der leisen Stimme erkennbar ist. Die für Gabi beschämende Situation verschärft die Lehrerin noch dadurch, dass sie ihre leise Stimme bemängelt und sie dazu auffordert, noch einmal laut zu wiederholen, was alle wissen.
Sodann fährt die Lehrerin folgendermaßen fort:
„LEHRERIN: Von den Reichen, gell, so gut; und wodurch erfahrt ihr etwas, sowohl über Slums als auch über das reiche Brasilien? Wodurch? Währenddessen Gemurmel.
SCHÜLERIN: Durch dieses Mädchen da, durch diese Marion.
SCHÜLER: Marion.
LEHRERIN: Durch Marion, ja, aber wenn ihr euch das anschaut, wenn ihr jetzt sagen müsst, wodurch erfahr ich das (Gemurmel) konkret (die Lehrerin geht leicht in die Hocke)?
JOACHIM: Durch die Handlung ...
Sieben Sekunden Gelächter und Gemurmel; Lehrerin lacht mit.
LEHRERIN: Ihr seid es nicht gewohnt, mal selbst herauszubekommen, wie geh ich also da ran, hm. Acht Sekunden Pause, währenddessen Gemurmel“ (ebd., 213 f.). [/S. 54].
Nachdem die Lehrerin den roten Faden wieder aufgenommen hat, stellt sie die Frage, wodurch denn die SchülerInnen etwas über die Slums und das reiche Brasilien erfahren. Eine Schülerin und ein Schüler geben nicht die richtige Antwort, und auch Joachim tippt falsch (vgl. ebd., 214). Im Lachen der MitschülerInnen über Joachim entlädt sich eine nervöse Spannung, die aufgrund der vielen Fragen der Lehrerin ständig ansteigt. Vermutlich geht in das Lachen über Joachim auch Schadenfreude darüber mit ein, dass sich der Klassenkamerad blamiert, der sich so eifrig am Unterricht beteiligt. Und im Übrigen ist man ja selbst noch mal davongekommen. Irritierend ist freilich, dass auch die Lehrerin lacht. Auf diese Weise wechselt sie von einem Moment zum anderen die Fronten: Während sie eben noch die Lehrerin war, die Joachim um eine Antwort bat, schlägt sie sich nun auf die Seite der lachenden SchülerInnen. Wie groß auch die Spannung zwischen der Lehrerin und den SchülerInnen ist, sie finden wieder zusammen durch das gemeinsame Lachen über einen Schüler, der in die jämmerliche Rolle eines Sündenbocks gerät, ein dummer Esel, der durch das Gelächter gleichsam Prügel bezieht.
Nachdem die Lehrerin sich durch das Lachen mit der Klasse entspannt hat, stellt sie ihre Autorität dadurch wieder her, dass sie die ganze Klasse ermahnt: "Ihr seid es nicht gewohnt, mal selbst .. herauszubekommen, wie geh ich also .. da ran" (ebd., 214). Die Lehrerin ist enttäuscht darüber, dass die Klasse sich so dumm anstellt. Obwohl sie sich durch viele Fragen darum bemüht hat, die Jugendlichen zur selbständigen Arbeit anzuleiten, ist ihr Engagement zum Scheitern verurteilt, weil die Klasse einfach nicht gelernt hat, Eigenaktivität zu entwickeln.
So reproduziert sich in der zweiten Szenensequenz die in der ersten Szenenfolge hergestellte paradoxe Handlungssituation: Manifest ist, dass die Lehrerin die SchülerInnen ermahnt, damit sie aktiv werden und mehr Einsatz zeigen. Latent ist hingegen, dass sie die Jugendlichen auf eine moralisierende Weise zurechtweist: Indem die Lehrerin die SchülerInnen wie Grundschüler behandelt, denen sie einfachste Fragen stellt, deren Beantwortung sich leicht erraten lässt, verletzt sie das labile Selbstgefühl der Jugendlichen, die aufgrund der Entwicklungsanforderungen der Adoleszenz ihrer Identität ohnehin unsicher sind. Denn indem sie die SchülerInnen wie Kinder behandelt, setzt sie sich darüber hinweg, dass sie mit Jugendlichen umgeht, die darum kämpfen, erwachsen zu werden.. Kritisierbar ist das entmündigende Verhalten der Lehrerin nicht, weil es auf der manifesten Bedeutungsebene dadurch verleugnet wird, dass die Lehrerin darauf insistiert, eine der progressiven Pädagogik verpflichtete Lehrerin zu sein, die sich durch ihre viele Fragen und Hilfestellungen sehr um die SchülerInnen bemüht und mit Toleranz und Geduld deren Schwächen zur Kenntnis nimmt.
3. Zu fragen ist, ob sich die in den ersten beiden Szenenfolgen zutage tretende Interaktionsstruktur auch in der dritten Szenensequenz wiederholt: Tatsächlich sieht die Lehrerin sich erneut gezwungen, helfend zu intervenieren, weil auch ihr zweiter Versuch gescheitert ist, das Thema gemeinsam mit den SchülerInnen zu entwickeln:[/S. 55]
"[...] Lehrerin geht zur Tafel und beginnt mit einer Tafelanschrift.
[...]
LEHRERIN: Na, aus was besteht denn en Comic? Aus?
Während der Pausen Gemurmel.
Bisherige Tafelanschrift der Lehrerin: Warum ist Brasilien ein Entwicklungsland? Darunter: Was erfahren wir über das reiche Brasilien
durch a)
MEHRERE SCHÜLER: Bildern. Lachen.
LEHRERIN: Und ...
MEHRERE SCHÜLER: Sprechblasen. Lachen.
Bei den Worten "Bildern" und "Sprechblasen" geht die Lehrerin leicht in die Hocke und hat die Arme in Richtung der Klasse vorgestreckt. Sie steht vor der Tafel zur Klasse gewandt.
LEHRERIN: Aha. Also ah, na Ricki.
RICKI spricht auffällig gedehnt: Bildern. Kurzes lautes Gelächter.
LEHRERIN: Oder Thomas, komm!
THOMAS spricht ernst und genau: Bildern.
EINE MITSCHÜLERIN: Klasse, Thomas.
EIN ANDERER MITSCHÜLER: Hä, hä, hä..
LEHRERIN: B.
THOMAS UND ANDERE SCHÜLER: Sprechblasen
EIN MITSCHÜLER auffällig gedehnt und akzentuiert: Sprechinformationen.
Lautes Gelächter und Getuschel.
[...]
LEHRERIN: Blasen hätt ich geschrieben, ne, da ham wir Sprechblasen"
(ebd., S. 214).
Da sich nach Auffassung der Lehrerin gezeigt hat, dass die SchülerInnen nicht selbständig arbeiten können, greift sie auf eine Tafelanschrift zurück. Der manifeste Sinn dieses Interagierens ist, dass die Lehrerin den "begriffsstutzigen" SchülerInnen eine weitere Eselsbrücke zur Beantwortung ihrer Fragen baut. Der latente Sinn dieser Interaktion besteht wiederum darin, dass sie die SchülerInnen erneut beschämt, indem sie die Jugendlichen wie Grundschüler behandelt, für die sie ganz einfache Fragen an die Tafel schreibt, als wollte sie ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Diese Infantilisierung der Jugendlichen setzt sich fort, als die Lehrerin das triviale Ergebnis, dass sich die Bedeutung eines Comic über Bilder und Sprechblasen erschließt, von Ricky und Thomas noch einmal wiederholen lässt.
So wiederholt sich auch in der dritten Szenensequenz die in den ersten beiden Szenenfolgen aufgedeckte Struktur eines paradoxen Interagierens: Während die Lehrerin auf der manifesten Bedeutungsebene als eine Pädagogin glänzt, die nie die Geduld verliert, gängelt sie die beiden Schüler auf der latenten Bedeutungsebene auf zweifache Weise. Einerseits entmündigt sie Ricky und Thomas dadurch, dass sie die SchülerInnen wie Kinder behandelt, die das Gelernte noch einmal aufsagen müssen, damit sie die richtige Antwort auch wirklich nicht vergessen. Andererseits überprüft die Lehrerin die Aufmerksamkeit der Schüler. Das Aufrufen von Ricky und Thomas dient auch dazu, sie zur Ordnung zu rufen. [/S. 56]
4. Szenische Rekonstruktion des Aufbegehrens der Jugendlichen gegen die Lehrerin
Nachdem die szenische Rekonstruktion der Basissequenz gezeigt hat, dass die Lehrerin die SchülerInnen maßregelt und kränkt, indem sie die Jugendlichen wie Kinder behandelt, stellt sich die Frage, wie die Heranwachsenden darauf reagieren. Betrachten wir zunächst die erste Szenenfolge: Die einleitenden Worte der Lehrerin, die SchülerInnen würden normalerweise erwarten, dass der Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen, werden nämlich sogleich ironisch kommentiert. Todernst wirft ein Schüler ein: "Das erwarten wir" (ebd., 213). Der manifeste Sinn dieses Zwischenrufs besteht darin, dass der Schüler der Lehrerin zustimmt. Doch der latente Sinn dieses Kommentars erschließt sich durch die Übertriebenheit, mit welcher der Schüler in der Rolle eines dummen Jungen aufgeht, der nachplappert, was die Lehrerin sagt. Auf diese Weise bringt er seinen Ärger darüber zum Ausdruck, dass die Lehrerin sich einbildet, alles über die SchülerInnen zu wissen. Die Entgegnung der Lehrerin "aha, so seid ihrs gewohnt" (ebd., 213), offenbart, dass sie mit der Kritik, die der Schüler durch den ironischen Kommentar zum Ausdruck bringt, nichts zu tun haben will. Deshalb versucht sie den Schüler auf den manifesten Sinn seiner Bemerkung festzulegen und ihm das Gefühl zu vermitteln, er sei tatsächlich ein dummer Junge. Das Gemurmel der Jugendlichen und das Lachen eines Mädchens sprechen dafür, dass die MitschülerInnen sich über den ironischen Kommentar freuen. Während die Lehrerin die durch die witzige Bemerkung des Schülers zum Ausdruck gebrachte Kritik zurückweist, verständigt er sich mit seinen MitschülerInnen darüber, dass er sich über ihre Worte aufregt, mit denen sie sich als eine ganze besondere Lehrerin in Szene setzt, die sich von ihren Kollegen unterscheide.
In der zweiten Szenenfolge erträgt ein Schüler es nicht, dass Gabi brav wiederholt, was die Lehrerin ihr abverlangt. Mit tief gepresster Stimme äfft er Gabis Worte "von den Reichen" nach und fügt ein hämisches "hä, hä" hinzu. So wirft er ihr vor, wie sie es nur fertig bringt, einfach das von der Lehrerin Erwartete nachzuplappern.
In der dritten Szenensequenz häufen sich die Schülerproteste: Nachdem die Lehrerin ihren Text an die Tafel geschrieben hat, wird jede ihrer Bemerkungen mit einem Lachen oder einer ironischen Bemerkung quittiert. Zweifellos kann das Lachen eine Erleichterung darüber ausdrücken dass endlich die Lösung gefunden worden ist. Das Lachen verrät freilich auch, dass sich die Jugendlichen über die Trivialität der Ergebnisse amüsieren, zu denen die Lehrerin sie mit so großem Aufwand geführt hat. Schließlich wird über die Scherze der Klassenkameraden gelacht. Als die Lehrerin Ricky zur Wiederholung der richtigen Antwort anhält, spricht er auffällig gedehnt "Bilder". Auch dieses Spiel erweist sich als doppelbödig: Während der Schüler der Lehrerin auf der manifesten Bedeutungsebene gehorcht, widersetzt er sich auf einer latenten Bedeutungsebene, indem er einen kleinen Jungen spielt, der sich dabei schwer tut, das gewünschte Wort auszusprechen. Wie in der ersten Szenenfolge geht es auch hier darum, sich über das Verhalten der Lehrerin mit den Klassenkameraden zu [/S. 57:] verständigen, die seinem spielerisch zum Ausdruck gebrachten Protest gegen die Lehrerin durch lebhaftes Gelächter beipflichten. Ein weiterer Schüler mokiert sich über die richtige Antwort "Sprechblasen", indem er auffällig gedehnt und akzentuiert das Wort "Sprechinformationen" als Alternative vorschlägt. Auch die Einlage dieses Schülers ist witzig. Manifest ist, dass der Schüler einen aufmerksamen Schüler spielt, der sich Gedanken darüber macht, wie man das noch besser ausdrücken könnte, wovon die Lehrerin spricht. Der latente Sinn dieser Interaktion besteht dagegen darin, die Lehrerin als blasierte Pädagogin zu karikieren, deren Vorliebe für ein pädagogisch-technisches Vokabular erhellt, wie fremd ihr das Erleben und Denken der Jugendlichen ist. Zudem bringt der Schüler auf der latenten Bedeutungsebene der Interaktion zum Ausdruck, dass er sich darüber aufregt, wie die Lehrerin über die Köpfe der SchülerInnen hinweg unterrichtet. Zweifellos verwahrt sich die Lehrerin gegen diese unterschwellige Kritik, indem sie kühl erwidert, dass sie schlicht und einfach "Sprechblasen" schreiben würde. Wie gleichgültig den Schüler auch diese Reaktion der Lehrerin lässt, wichtig ist für ihn die Antwort seiner MitschülerInnen, denen er auf diese Weise seinen Ärger über die Lehrerin mitteilt. Durch ein „lautes Gelächter und Getuschel“ lassen die Mitschüler den Schüler wissen, dass sie ihn gut verstehen und ganz seiner Meinung sind.
Auffällig ist zudem, dass nun schon zum vierten Mal ein Junge den Unterricht ironisch kommentiert. Nur ein einziges Mal ist es ein Mädchen, das durch die Bemerkung "Klasse, Thomas!" die Lehrerin als eine Pädagogin karikiert, die sichtlich davon beeindruckt ist, dass ein Jugendlicher so gut wiederkäuen kann, was Andere schon gesagt haben. Bezieht man mit ein, dass die Jungen 18mal, die Mädchen dagegen nur 7mal zu Wort kommen, dann ist es unübersehbar, dass die Jungen das Unterrichtsgeschehen dominieren. Den herrschenden Geschlechterstereotypen entsprechend wirken die Mädchen eher zurückhaltend und gut angepasst, während die Jungen sich mehr beteiligen und öfters dazwischen reden. Wie es häufig geschieht, werden die Jungen für die Störungen dadurch belohnt, dass die Lehrerin ihnen mehr Aufmerksamkeit widmet. Während die Folgsamkeit der Mädchen auch damit zusammenhängt, dass sie sich im Einklang mit ihrer Geschlechtsidentität eher mit der Lehrerin identifizieren und deren behütendes Verhalten nachsichtiger betrachten, stößt die Jungen die weibliche Fürsorglichkeit ab. Wie man in Anschluss an Parsons (1947) und Chodorow (1978) zeigen könnte, treten die Jungen auch deshalb aggressiver auf, weil sie ihre Männlichkeit beweisen wollen, indem sie der Lehrerin, den Klassenkameraden und sich selbst vorführen, dass sie nicht mehr brave "Mamasöhnchen" sind, zu denen die Lehrerin sie durch ihr entmündigendes Verhalten macht.
Die über die Betrachtung des Geschlechterverhältnisses hinausgehende Frage, wie es den Jugendlichen überhaupt gelingt, sich der Bevormundung durch die Lehrerin zu entziehen, lässt sich beantworten, sobald man sich vergegenwärtigt, wie unterschiedlich die Akteure mit Sprache umgehen. Korings (1989) Beobachtung, dass die Lehrerin "ein zuvor festge[/S. 58]legtes Programm in festgelegten Schritten" exekutiert (ebd., 320), die auch noch durch die Suche nach passenden "Schlagwörtern" und "Oberbegriffen" übersichtlich gegliedert werden (ebd., 319), offenbart, dass die Lehrerin sich der Sprache auf eine instrumentell-strategische Weise bedient. Die Jugendlichen benutzen die Sprache dagegen auf eine sehr emotionale Weise und spielen die Möglichkeiten einer nonverbalen Kommunikation aus, die auf Mimik, Gestik und Tonfall setzt. Mit Susanne Langer (1942) kann man davon sprechen, dass die Lehrerin einen diskursiven Sprachgebrauch in der Absicht instrumentalisiert, sich gegen Einwände der Vernunft und gegen Irritationen des Unbewussten zu immunisieren. Die Jugendlichen schöpfen dagegen einen bildhaft-präsentativen Umgang mit der Sprache aus, indem sie durch Witz und Ironie, durch Karikatur und Possenspiel einen Diskurs konstruieren, der auf der manifesten Bedeutungsebene eine soziale Anpassung an die Lehrerin, auf der latenten Bedeutungsebene dagegen ein von den Jugendlichen geteiltes Aufbegehren, Protest und Kritik zum Ausdruck bringt.
Indem die Schüler den Unterricht durch einen sinnlich-symbolischen Umgang mit der Sprache den Unterricht immer wieder unterbrechen und für Augenblicke in eine Farce verwandeln, ein Possenspiel, mit dem sie sich selbst und die in Gelächter ausbrechenden Klassenkameraden gut unterhalten, spiegeln sie der Lehrerin und den die Vorführstunde beobachtenden Professoren und Mitarbeitern zurück, wie grotesk das ist, was hier mit ihnen veranstaltet wird. So gelingt es den SchülerInnen, die Unterrichtsstunde, in der es um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Medium Comic gehen soll, in die Bühne für einen Comic zu verwandeln, in dem ein Gag dem nächsten folgt.
5. Die szenische Erfahrung des Absurden in der Unterrichtsstunde
Wie sehr sich die Jugendlichen auch widersetzen, es darf nicht übersehen werden, dass ihr Aufbegehren auch etwas Verzweifeltes an sich hat. Da die Lehrerin ihre Beiträge nicht aufgreift, haben die SchülerInnen praktisch keinen Einfluss auf den Stundenverlauf. Wenn sie aufbegehren, indem sie witzeln und die Lehrerin karikieren, dann geht es dabei auch um einen verzweifelten Protest dagegen, einem Schulunterricht ausgeliefert zu sein, der sich in mehrfacher Hinsicht als absurd erweist:
Obwohl die Lehrerin Autonomie und Eigenaktivität fördern will, behandelt sie die SchülerInnen absurderweise wie Kinder, die triviale Fragen ernsthaft beantworten sollen.
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Wenn die Lehrerin ein Problem erörtert, dann will sie von den SchülerInnen sogleich einen "Oberbegriff" hören (Koring 1989, 220). Dementsprechend geht es in der Basissequenz auf der Inhaltsebene um die Oberbegriffe "Arm" und "Reich" und auf der methodischen Ebene um die Signalwörter "Bilder" und "Sprechblasen". Wie Koring herausgearbeitet hat, entwickelt die Lehrerin ein "Bedürfnis nach Schlagworten, Oberbegriffen, Signalworten", weil sie nicht über die soziale Kompetenz verfügt, das Thema auf der Basis der Schülerbeiträge sinnverstehend zu bearbeiten. So überdeckt die Lehrerin die Unfä-[/S. 59]higkeit, das Thema durch das Gespräch mit den SchülerInnen mäeutisch zu entfalten, auf eine absurde Weise durch das Beschwören trivial-unsinniger Sprechblasen.
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Vergegenwärtigt man sich die Szenenfolge, in der Gabi dazu aufgefordert wird, längst Bekanntes zu wiederholen, oder die Szenensequenz, in der Ricky und Thomas die bereits gefundene Antwort noch einmal aufsagen müssen, dann wird deutlich, dass sich immer wieder das Gleiche wiederholt. Immer wieder reihen sich auf eine absurde Weise die gleichen unsinnigen Szenen aneinander, ohne dass sich in der Unterrichtsstunde ein Sinnzusammenhang entfaltet: Wenn in der Basissequenz der Gegensatz von Arm und Reich erörtert wird, dann wird nur wiederholt, was Heike schon zu Beginn der Schulstunde gesagt hat, dass nämlich in dem Comic der Kontrast von Arm und Reich thematisiert wird (Koring 1989, 220). Und wenn die Lehrerin als Haupterarbeitungsfrage für die folgende Stunde resümiert: "Warum gibt es ein reiches und ein armes Brasilien?" (ebd., 228), dann gelangt sie ganz am Ende der Unterrichtsstunde absurderweise dorthin, wo sie schon am Anfang war.
Was es bedeutet, als SchülerInnen einem solchen Unterricht hilflos ausgeliefert zu sein, wird leichter nachvollziehbar, wenn man die Erfahrung des Absurden hinzuzieht, die Ionesco in dem Theaterstück "Die Unterrichtsstunde" szenisch entfaltet hat: In diesem Drama gibt ein alter Professor einem Schulmädchen eine Privatstunde. Er gewinnt Macht über die Schülerin, weil er sie durch sein Reden in ein unsicheres und ängstliches Mädchen verwandelt, das sich ihm in ihrer Verwirrung zusehends ausliefert.
Wichtiger als die Unterschiede zwischen dem Protokoll der Realschulstunde und der literarischen Verarbeitung einer fiktiven Privatstunde (2) sind die Gemeinsamkeiten: Wie der Professor die Achtzehnjährige durch einfachste Fragen so lange gängelt, bis sie so verwirrt ist wie ein kleines Mädchen, das nicht mehr weiß, wie viel vier weniger drei ist, so zwingt die Lehrerin die Jugendlichen in die Rolle kleiner Kinder, die brav aufsagen, was alle schon wissen. Wie der Professor darüber schwätzt, dass erfolgreiches Sprechen davon abhängt, dass die Worte sich vom Ballast der Bedeutung befreien und zum Flug in die Luft abheben (Ionesco 1950, 28 f.), so traktiert die Lehrerin die SchülerInnen mit der unsinnigen Suche nach Oberbegriffen, deren Aneinanderreihung für eine sinnvolle Auseinandersetzung der Klasse mit dem Thema entschädigen soll. Und wie Ionescos Drama sich im Kreis dreht, weil am Ende wie zu Beginn eine neue Schülerin an der Haustür klingelt, so dreht sich auch die Schulstunde auf eine absurde Weise im Kreis, weil am Ende wie zu Beginn darüber geredet wird, dass es in den Entwicklungsländern eben um den Gegensatz von Arm und Reich geht.[/S. 60]
Das heißt aber, dass Ionesco auf der manifesten Bedeutungsebene eines Theaterstücks ein Erleben in Szene setzt, das in der Realschulstunde auf die latente Bedeutungsebene des Interagierens verbannt wird: Wenn die Lehrerin die SchülerInnen zur Beantwortung trivialer Fragen zwingt, dann ist zwar fassbar, dass sie deren Selbstgefühl untergräbt. Was in dieser Situation zwischen Lehrerin und SchülerInnen zum größten Teil unsichtbar bleibt, stellt Ionesco dagegen sinnlich-anschaulich dar: Weil das Schulmädchen nicht subtrahieren kann, versucht der Professor, es dazu zu zwingen, indem er dessen Ängste durch sadistische Beispiele weckt: Wie viele Nasen würden ihr bleiben, wenn er ihr eine von den beiden Nasen aus dem Gesicht risse? Wie viele Ohren würde sie noch besitzen, wenn er eins davon essen würde? Ja, wie viele Finger würden ihr noch bleiben, wenn er fünf von den zehn Fingern wegnähme? (vgl. ebd., 19 f.). Das Prüfen von Leistungen wird auf diese Weise zu einem sadistischen Initiationsritual, im Zuge dessen durch das Wecken infantiler Kastrationsängste die bedingungslose Unterwerfung der Schülerin erzwungen wird. Eben weil der Professor in dem Schulmädchen Verstümmelungsängste weckt, kapituliert sie mit folgenden Worten: "Ja, Herr Professor. Gut, Herr Professor. Danke, Herr Professor" (ebd., 21). Die Tatsache, dass die SchülerInnen sich in der Schulstunde in einer vergleichbaren Weise unterordnen, ist nur daran ablesbar, dass Gabi mit leiser Mädchenstimme wiederholt, was die Lehrerin ihr abverlangt, dass Joachim auf die Maßregelung der Lehrerin schuldbewusst reagiert oder aber verstummt, weil die Mitschüler und die Lehrerin ihn lauthals auslachen. Auch die Tatsache, dass die SchülerInnen mit ihrer Angst auf eine Aggressivität reagieren, die sich hinter der freundlichen Fürsorglichkeit der Lehrerin verbirgt, bleibt in der Schulstunde im Unterschied zu den entsprechenden Szenen im Drama relativ unsichtbar. Allein im Theaterstück vermag die einer strengen Prüfung unterzogene Schülerin daher in Worte zu fassen, worunter sie leidet: "Sie quälen mich, Herr Professor!" (ebd., 35)
Was es bedeutet, dass solche Quälspiele, wie sie die junge Lehrerin und der alte Professor veranstalten, kränken, wird im Drama ebenfalls sinnlich-anschaulich dargestellt. Die Tatsache, dass das Schulmädchen unter dem Druck der auf ihr lastenden Prüfungen Zahnweh bekommt, bevor ihr schließlich auch die Ohren, die Augen, der Kopf, die Schultern und Arme, ja, der ganze Körper weh tun, dokumentiert, dass sie die Kränkungen, die ihr der Professur im Zuge eines sadistischen Prüfungsrituals zufügt, krank machen. Ein noch grausameres Bild für die Kränkung, die pädagogische Quälspiele zufügen, realisiert Ionesco auf dem Höhepunkt des Theaterstücks, der dadurch bestimmt wird, dass der Professor dem Schulmädchen mit einem einzigen Messerstich eine tödliche Verletzung zufügt. Dass es dabei um die Macht des Wortes geht, die tödlich verletzt, drückt das Drama dadurch aus, dass der Mord am Ende einer Sprechübung steht, bei welcher der Professor immer wieder das Wort "Messer" vorspricht und die Schülerin die Worte aufsagen muss: "Schneide, Messer, schneide!"
Ionescos Drama erhellt, wie SchülerInnen durch einen Unterricht sozialisiert werden können, in dem die durch die Lehrerin zugefügten Kränkun-[/S. 61]gen dadurch unbewusst gemacht werden, dass sie sich als fortschrittliche Pädagogin inszeniert: Auf der Bühne wird nämlich ein Seelenmord in Szene gesetzt, der infolge der inneren Verletzungen eintritt, die eine Lehrerin ihren SchülerInnen allein durch messerscharfe Worte zuzufügen vermag.
6. Sozialisationstheoretisches Begreifen der Schulstunde
Die tiefenhermeneutische Fallrekonstruktion der Unterrichtsstunde zeigt, wie die Lehrerin die SchülerInnen in paradoxe Handlungssituationen verstrickt: Obwohl sie den SchülerInnen sagt, dass sie an der Entwicklung ihrer Eigenaktivität interessiert ist, behandelt die Lehrerin sie wie Kinder. Dass sich Gabi in ein unsicheres Mädchen verwandelt, das mit leiser Stimme die erwartete Antwort gibt, dass aus Joachim ein kleiner dummer Junge wird, über den alle lachen, dass Ricci und Thomas wie Grundschüler noch einmal aufsagen müssen, was die ganze Klasse erraten hat, spricht dafür, dass die Lehrerin durch ihr Auftreten als eine überprotektive Mutter Regressionen auf infantile Verhaltensmuster provoziert: Eben da, wo die Lehrerin selbständige Arbeit fördern will, müssen sich die Jugendlichen ihrem strikten Willen unterwerfen. Wie auch immer die SchülerInnen auf die Interaktionsangebote der Lehrerin eingehen, sie verhalten sich falsch, weil sie in dieser Beziehungsfalle mit einander widersprechenden Verhaltensanweisungen konfrontiert werden: Wenn die Jugendlichen die Fragen der Lehrerin selbständig beantworten, dann werden sie gemaßregelt, weil sie nicht die erwartete Antwort geben. Und wenn sie die erwartete Antwort zu erraten versuchen, dann maßregelt die Lehrerin sie, weil sie nicht selbständig arbeiten.
Dabei reguliert die Lehrerin die mit den SchülerInnen auftretenden Konflikte und die dadurch in der Klasse auftretenden Spannungen mit Hilfe des von Adorno (1950) beschriebenen Modus einer autoritären Konfliktverarbeitung: Indem die Lehrerin die Rolle einer moralisierenden Erzieherin übernimmt, welche die Jugendlichen durch Maßregelungen gängelt und verletzt, hält sie zu einer starren Orientierung an konventionellen Werten an. Wie sie von ihren SchülerInnen eine bedingungslose Unterwerfung unter ihre Autorität verlangt, so fordert sie die Jugendlichen implizit dazu auf, ihre aggressiven Impulse gegen einen Sündenbock zu verschieben. Die Jugendlichen dürfen ja den durch das autoritäre Verhalten der Lehrerin geweckten aggressiven Impulsen durch das gemeinsame Gelächter über Joachim einen Ausdruck verschaffen. Dessen soziale Ausgrenzung wird durch das Vorurteil gerechtfertigt, dass er ja ein Dummkopf ist, der falsche Antworten gibt.
Die tiefenhermeneutische Fallrekonstruktion illustriert beispielhaft, dass es sich bei dieser Schulstunde um eine ritualisierte Form des Unterrichts handelt, wie ihn Wellendorf (1979) aus sozialisationstheoretischer Sicht beschrieben hat: Zwar entspricht die Lehrerin auf der manifesten Bedeutungsebene ihres Interagierens den in der Schule institutionalisierten universalen Normen, denen die SchülerInnen die in der Familie entwickelten partikularen Bedürfnisse unterwerfen müssen. Aber auf der latenten Be-[/S. 62]deutungsebene unterläuft die Lehrerin schulische Rollendefinitionen, indem sie die universalen Normen im Dienste eigener partikularer Bedürfnisse funktionalisiert. Sie familialisiert nämlich schulische Interaktionszusammenhänge, indem sie als eine überprotektive Mutter agiert, die sich die SchülerInnen auf eine autoritätsgebundene Weise unterwirft und sie im Dienste ihrer narzisstischen Bedürftigkeit instrumentalisiert.
Damit wird zugleich deutlich, dass ein solcher Unterricht die Sozialisationsaufgabe der Schule unterläuft, den SchülerInnen bei der Bewältigung des psychosozialen Moratoriums der Adoleszenz zu helfen. Mit Erdheim (1984) kann man davon sprechen, dass Unterricht der konservativen Neigung von Jugendlichen entgegenwirken sollte, die durch die Familie überlieferten Traditionen so kritiklos zu übernehmen, wie es in schriftlosen Kulturen der Fall ist. Schule soll die Heranwachsenden dazu motivieren, ihre expandierenden Fähigkeiten durch eine lebendige Auseinandersetzung mit den kulturellen Angeboten einer sich fortwährend wandelnden Gesellschaft zu entwickeln. Diese Sozialisationsleistung kann Schule aber nur dann erfüllen, wenn die Lehrer sich an das Bewusstsein und die Vernunft der Jugendlichen wenden. Denn nur vernunftgeleitete Individuen, die über Autonomie und Initiative verfügen, sind den gesellschaftlichen Aufgaben gewachsen, die ihnen in modernen Gesellschaften entgegentreten. Die Lehrerin der vorliegenden Schulstunde wendet sich jedoch durch die Familialisierung schulischen Interagierens an das Unbewusste der Jugendlichen. In Anschluss an Erdheim kann man davon reden, dass sie im Unterricht einen initiationsähnlichen Prozess zelebriert, der die heißen Gefühlen der Jugendlichen wie in schriftlosen Kulturen "abkühlt", so dass sie sich bereitwillig der Gewalt unterwerfen, welche die Lehrerin ihnen gegenüber exekutiert.
In dieser Schulstunde tritt damit zutage, was Adorno (1965) in einem bildungssoziologischen Beitrag als das Archaische am Lehrberuf beschrieben hat: Dem Lehrer gehe es nicht nur um "Geist", "Leistung" und "Noten" (ebd., 79), vielmehr wolle er auch den Schülern die "ungeformte Natur austreiben" (ebd., 78). Auf einer latenten Bedeutungsebene sei der Lehrer nämlich auch ein "Agent" des Zivilisationsprozesses, der dem Schüler "Versagungen" zumute (ebd., 80). Der Schüler solle die Triebnatur unterdrücken, die der Lehrer schon vor Jahrzehnten gebändigt habe und deren Unterwerfung sich in seinen persönlichen "Eigenheiten, Sprechmanierismen, Erstarrungssymptomen, Verkrampfungen und Ungeschicklichkeiten" ausdrücke (ebd., 78 f.). Was Adornos sozialphilosophischer Kommentar bedeuten kann, dass "der Lehrberuf selbst archaisch zurückgeblieben ist hinter der Zivilisation, die er vertritt" (ebd., 80), lässt sich anhand der szenischen Fallrekonstruktion zeigen: Die Bemühungen der Lehrerin, zu Autonomie und Eigenaktivität zu erziehen, scheitern, weil sie die SchülerInnen durch ihr direktives Verhalten auf eine autoritäre Weise sozialisiert.
In seinem Aufsatz Tabus über den Lehrberuf hat Adorno auch eine Antwort auf die Frage gegeben, wie sich diese `déformation professionelle´ beheben lasse. Damit Schüler nicht länger unter autoritären Erziehungs-[/S. 63]praktiken leiden, sei es unumgänglich, dass die Lehrenden in ihrer "objektiven Arbeit" - die ja eine mit "lebendigen Menschen" sei - mit ihren "persönlichen Affekten" umzugehen lernen (ebd., 80). Eine "psychoanalytische Schulung und Selbstbesinnung im Beruf der Lehrer", wie sie eine professionelle Supervision ermöglichen könnte, hält Adorno daher für unerlässlich (ebd., 81).
7. Schluss
Ich möchte meinen Vortrag mit einer methodologisch-methodischen Anmerkung zu Koring und mit einer inhaltlichen Bemerkung zu Grammes schließen:
1. Das von der Tiefenhermeneutik praktizierte szenische Interpretieren erhebt einen Verstehensmodus zur Methode, den schon Koring (1989) im Zuge der Analyse dieser Schulstunde durch eine StudentInnengruppe benutzt hat. Um "die Gefühle" der StudentInnen, um ihre "Selbstbetroffenheit" als "Mittel der Erkenntnis" einzusetzen, hat Koring sie nämlich dazu angehalten, unmittelbar nach dem Anschauen des Videobandes "Spontaninterpretationen" abzugeben (ebd., 244). Wie erhellend diese "szenischen Deutungen" sind, die einen "ganzheitlichen Eindruck" von der Unterrichtsstunde in einer "szenischen oder bildhaften" Gestalt zur Sprache bringen (ebd., 244), wird deutlich, sobald die Studentinnen von einer "Sprechfolter" oder auch einem "Dompteursgeschäft" sprechen (ebd., 245). Diese Ansätze eines szenischen Verstehens gibt Koring freilich in dem Augenblick auf, wo er mit dem Übergang zu "Detailinterpretationen" (ebd., 244) die Methode wechselt und Sprechakt für Sprechakt untersucht. Da mit dem Übergang zu einer sequenzanalytischen Verfahrensweise "die wörtliche Bedeutung und die möglichen Motive der Sprecher" fokussiert werden (ebd., 247), verliert Koring die szenischen Zusammenhänge aus dem Blick, die im Rahmen einer tiefenhermeneutischen Analyse auch im Zuge der Detailinterpretationen so bewahrt bleiben wie das Erleben der Schulstunde, von dem her erst verständlich wird, wie die Lehrerin die Jugendlichen über den Zugriff auf ihr Unbewusstes sozialisiert.
2. Nach Grammes spult die Lehrerin ein sich über die Köpfe der SchülerInnen hinwegsetzendes Unterrichtsprogramm nur deshalb ab, weil sie sich nicht genügend fachdidaktisch vorbereitet hat. Da die Lehrerin sich nicht ideologiekritisch mit dem Comic auseinandergesetzt habe, der die dependenztheoretische Botschaft übermittelt, die Reichen müssten den Armen helfen, die sich irgendwie in die Situation gebracht hätten, praktiziere die Lehrerin im Umgang mit den SchülerInnen eine Behütpädagogik, dementsprechend sie ihnen Entwicklungshilfe geben wolle.
Wie zutreffend auch die Einschätzung ist, da die Lehrerin aufgrund mangelnder ideologiekritischer Distanz zu dem Comic eine `Behütpädagogik´ praktiziert, es darf doch nicht übersehen werden, dass die dependenztheoretische Botschaft des Comic dem Selbstverständnis der Lehrerin als aufgeklärter Pädagogin und ihrer moralisierenden Unterrichtspraxis entgegenkommt, dementsprechend sie die Jugendlichen als ungebildete Wil-[/S. 64]de betrachtet, die sich am besten durch einfache Fragen, durch Einwortsätze und Halt gebende Oberbegriffe fördern und domestizieren lassen.
Über den Differenzen zwischen Koring und Grammes sollte freilich die Gemeinsamkeit nicht übersehen werden, dass beide sich in erster Linie für das pädagogische Handeln des Lehrers interessieren: Während Koring die unzureichende Professionalisierung der Lehrerin analysiert, geht es Grammes um den Nachweis der mangelnden didaktischen Unterrichtsvorbereitung. Mir geht es hingegen um die szenische Analyse institutionalisierter Bildungsprozesse, um die Frage zu beantworten, wie Schulunterricht Kinder und Jugendliche sozialisiert. Anhand exemplarischer Fallrekonstruktionen wird untersucht, wie sich soziale Herrschaft in der Schule durch das Interagieren zwischen Lehrenden und SchülerInnen reproduziert (vgl. König 1997a; 1998; 2002). Wo sich eine Lehrerin unter dem unreflektierten Einfluss des Themas der Unterrichtsstunde als eine Entwicklungshelferin in Szene setzt, welche die SchülerInnen durch ihr Auftreten als eine behütende Mutter infantilisiert, da können sich – wie die untersuchte Schulstunde zeigt - die Heranwachsenden ihrer Macht nur dadurch entziehen, dass sie durch Witze und Possenspiele die Unterrichtsstunde, in der sie wie kleine Eingeborene etwas lernen sollen, selbst in einen Comic verwandeln, der von Unterrichtsforschern lange untersucht werden muss, bevor er als ein absurdes Drama entziffert werden kann.
Anmerkungen
(1) Vergleiche hierzu etwa Kokemohr, Marotzki 1985; Koring 1989; Grammes, Weißeno 1993; Combe, Helsper 1994.
(2) Gegen den Versuch, das Protokoll einer realen Schulstunde mit der ästhetischen Verarbeitung einer fiktiven Unterrichtsstunde zu vergleichen, lässt sich etwa einwenden, dass bereits auf der inhaltlichen Ebene ein wichtiger Unterschied zwischen dem im Juni 1950 geschriebenen Theaterstück Ionescos und der im Mai 1979 an der Frankfurter Universität abgehaltenen Schulstunde besteht: Die Schülerin verwandelt sich unter dem Einfluss des sinnlosen Wortschwalls des Professors von einem lebhaften und temperamentvollen Mädchen in eine trübsinnige und nervöse Person, die aufgrund von Zahnschmerzen nicht einmal mehr sprechen kann. Dagegen reagieren die SchülerInnen auf den wachsenden Druck der Lehrerin dadurch, dass sie den Unterricht zusehends durch ironische Kommentare, durch Gemurmel und Gelächter stören. Anders als das Schulmädchen, das dem Professor in seiner Wohnung hilflos ausgeliefert ist, sitzt der Lehrerin eine Klasse von SchülerInnen gegenüber, die sich ihrem autoritären Zugriff ein Stück weit durch eine sinnlich-symbolische Verständigung miteinander entziehen. Während das Schulmädchen unter den Zumutungen des Professor völlig dekompensiert, vermögen die SchülerInnen zu überleben, weil sie sich durch Ironie, Clownerien, Lachen und Gemurmel ein wenig dem widersetzen können, was ihnen in der Unterrichtsstunde zugemutet wird.
Literatur
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Adorno, Theodor W. (1965): Tabus über Lehrberuf. In: Adorno, Theodor W. Stichworte. Frankfurt a. M., 68-84.
Chodorow, Nancy (1978): Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München.
Combe, Arno; Helsper, Werner (1994): Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie. Weinheim.
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Grammes, Tilman (1994): Kommunikative Fachdidaktik. Studien zur didaktischen Transformation gesellschaftlichen Wissens. Band 1. Typoskript. Berlin.
Grammes, Tilman; Weißeno, Georg, Hg. (1993): Sozialkundestunden. Politikdidaktische Auswertungen von Unterrichtsprotokollen. Opladen.
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Kokemohr, Rainer; Marotzki, Winfried. Hg. (1985): Interaktionsanalysen in pädagogischer Absicht. Frankfurt a. M., Bern, New York.
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Wellendorf; Franz (1979): Schulische Sozialisation und Identität. Weinheim, Basel.
Dieser Text, bei dem es sich um die leicht überarbeitete
Fassung eines am 08.04.1997 an der Universität Hamburg gehaltenen Vortrags
handelt, ist unter dem gleichen Titel erschienen in der Zeitschrift der DVPB
NW: Politisches Lernen 20. Jg. 2002 (2).
© 2002 Hans-Dieter König, Frankfurt a.M.; © 2005 sowi-online e.V.,
Bielefeld
sowi-online dankt dem Herausgeber Deutsche
Vereinigung für politische Bildung, Landesverband NW, dem Verlag
Wieland Ulrichs, Göttingen, und dem Verfasser für die freundliche
Genehmigung zur Zweitveröffentlichung des Textes im Internet.
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in eckigen Klammern angegeben, z.B. [/S. 53:].
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