Gemeinsam sind wir eine starke Truppe - Begegnungsseminare mit Wehr- und Zivildienstleistenden

Wolfgang Hesse / Walter R.W. Staufer / Michael Wild

1. Am Anfang steht die Neugier

"Zivis sind auch eine starke Truppe" resümiert der Soldat am Ende des Begegnungsseminars und drückt damit nicht nur seine eigene Anerkennung gegenüber den Zivildienstleistenden (ZDL) aus. Auch gesamtgesellschaftlich ist der Zivildienst längst aus dem Schatten des Drückeberger-Vorwurfs herausgetreten. Lange Zeit war dies anders.

Auf die Bestimmung des Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz, daß "niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden (darf)", berufen sich nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1956 zunächst nur wenige junge Männer: 2447 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung werden bis 1958 gezählt. Erst 1960 wird ein ziviler Ersatzdienst eingerichtet, den 1961 die ersten 340 Kriegsdienstverweigerer antreten. Zivildienstleistende (damals: Ersatzdienstleistende) sind und bleiben lange Zeit eine gesellschaftliche Randgruppe. Soldaten dagegen leisten den in der Gesellschaft akzeptierten Dienst, trotz der ursprünglich großen Proteste gegen die Wiederbewaffnung. Aber es ist die Zeit des Kalten Krieges, des Korea-Krieges, der Berlin-Krisen.

Erst ab den ausgehenden 60er Jahren unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges, der Studentenunruhen und des späteren innen- und außenpolitischen Aufbruchs steigen die Verweigererzahlen steil an. Dem Boom der 70er Jahre folgt die gesellschaftliche Anerkennung in den 80er Jahren: " Es geht mir darum, deutlich zu machen, daß Kriegsdienstverweigerer weder Rechtsbrecher noch Drückeberger sind, sondern junge Männer, die ein Grundrecht in Anspruch nehmen (...) Die Zivildienstleistenden haben der Allgemeinheit einen anderen, aber keineswegs geringeren Dienst erwiesen als die Soldaten. Damit haben sie den gleichen Dank der Allgemeinheit verdient wie ihre Kameraden bei der Bundeswehr." [1]

Die Anerkennung der Bundeswehr und des Wehrdienstes sank gleichzeitig beständig ab. Zu Beginn der 80er Jahre waren 23% der westdeutschen Bevölkerung der Auffassung, der Zivildienstleistende erweise der Gesellschaft einen wichtigeren Dienst als der Wehrdienstleistende (WDL). 1986 liegt die Zahl schon bei 36% und 1993 - nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Auflösung alter Feindbilder - bei 50%, in den neuen Bundesländern sogar bei 60%. Nur 32% der Bevölkerung halten beide Dienste für gleichwertig. Mit dem Bewußtsein, daß das Ende des Warschauer Paktes nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Kriegsgefahr ist, kommt es aber in den folgenden Jahren zu einer Trendwende: nur noch 32% der Bevölkerung halten jetzt den Zivildienst für wichtiger, 50% gehen 1995 von einer Gleichwertigkeit der Dienste aus. [2] Die Zahl der ZDL ist inzwischen annähernd so groß wie die der Wehrdienstleistenden (137000:148000 im Juli 1995) und wird 1996 darüber liegen.

Die Größe beider Gruppen läßt zu Recht vermuten, daß ZDL und WDL in ihrem Alltag vielfältige Begegnungsmöglichkeiten haben. Unsere praktischen Erfahrungen zeigen aber, daß die gegenseitige Wahrnehmung durch Stereotype, Vorurteile und lückenhaftes Wissen geprägt ist. Die persönlichen Begegnungen im privaten Rahmen scheinen also Gründe für die eigene Entscheidung und Hintergründe des jeweiligen Dienstes als Gesprächsthema auszuklammern. Mit der wachsenden Anerkennung des Zivildienstes in den 80er Jahren wird eine zunehmende Neugier auf "die Anderen" deutlich. Diese Neugier ist zweifelsohne auch Ergebnis der starken innenpolitischen Polarisierung in der Bundesrepublik ab Ende der 70er Jahre über die Frage der Stationierung von Mittelstreckenraketen (NATO-Doppelbeschluß) und das amerikanische SDI-Projekt zur weltraumgestützten Raketenabwehr. Im Vordergrund des Interesses steht aber nicht in erster Linie der Wunsch nach allgemeinen Informationen über sicherheitspolitische Zusammenhänge, die Bundeswehr oder den Zivildienst sondern die Frage, warum hat mein Klassenkamerad, Bekannter oder Arbeitskollege eine andere Entscheidung getroffen als ich. Welches sind seine Motive und Erfahrungen? Mit welchen Argumenten rechtfertigt der Soldat den potentiellen Gebrauch der Waffe? Wie ließe sich Frieden erreichen oder bewahren, wenn alle jungen Männer verweigerten?

Die persönliche Entscheidung und Glaubwürdigkeit wird von den Teilnehmern besonders hinterfragt, zugespitzt also: Sind Soldaten potentielle Mörder und wie sieht es mit der Verantwortung des Pazifisten aus?

Die Idee von Gemeinschaftsseminaren war schnell geboren. Die gegenseitige Neugier ist bis heute in allen Seminaren zu finden und ein besonders fruchtbares Moment im Dialog. Gerade dem Verhältnis der beiden Gruppen zueinander mit seinen vielfältigen Rückbezügen auf jeden einzelnen - also der Begegnung - kommt neben Sachthemen ein besonderer Stellenwert zu. Unsere Erfahrungen beziehen sich auf Gemeinschaftsseminare, die seit 1985/86 zunächst mit der Zivildienstschule Karlsruhe, später auch mit der Zivildienstschule Bodelshausen durchgeführt wurden. Inhalte und Methoden haben sich im Laufe der Jahre gewandelt und sind den gesellschaftlichen und außenpolitischen Veränderungen, aber auch den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Gruppe gefolgt. Arbeitsformen, die eigene Erfahrungen ermöglichen, haben einen festen Platz im Programm. Die einzelnen Formen der Veranstaltungen haben immer wieder gewechselt, um die Teilnehmer bei ihren jeweiligen Interessen "abzuholen": Seminar, Exkursion/Vororterkundung, Studienreise.

Anfangs, in der ersten Phase der Gemeinschaftsseminare, gingen wir davon aus, daß Wehr- und Zivildienstleistende unterschiedliche Fragestellungen an ihren Lebensalltag hätten, beide Gruppen keinen gemeinsamen Nenner finden könnten, sich gegenseitig auch den Friedenswillen absprechen würden. Dieser erwartete Gegensatz mag für die Zeit zugetroffen haben als die Zivildienstleistenden noch eine gesellschaftliche Randgruppe waren. Soldaten dagegen waren - wenn auch nicht gerade geliebt - aber doch akzeptiert und in der Phase des Kalten Krieges und der Abschreckung Ausdruck einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Werthaltung. Dies hat sich grundlegend geändert. Der Zivildienst ist heute zu einem gesellschaftlich anerkannten und vielerorts als unverzichtbar empfundenen Sozialdienst für die Gesellschaft geworden. Die Institution Militär erfährt nach einem Tiefpunkt zum Ende des Ost-West-Konflikts seit Beginn der 90er Jahre zwar wieder wachsende Zustimmung in der Bevölkerung, aber Umfang der Streitkräfte und die zukünftige Wehrform sind heftig umstritten. [4]

Die Begegnungsseminare offenbaren entgegen unseren Erwartungen von Beginn an sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen, wenn auch die Meinungen nicht selten heftig im (Seminar)Raum aufeinanderstoßen. Kern der Kontroverse bleibt die Frage: Wie geht der einzelne bzw. der Staat mit Gewalt um?

2. Gemeinsam lernen

Während ihrer Dienstzeit haben Zivildienstleistende und Wehrdienstleistende Anspruch auf politische Bildung, deren Durchführung sich an den Grundsätzen des "Beutelsbacher Konsenses" orientiert. Für die Soldaten wird dieser Anspruch im Soldatengesetz geregelt: "Die Soldaten erhalten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht. Der für den Unterricht verantwortliche Vorgesetzte darf die Behandlung politischer Fragen nicht auf die Darlegung einer einseitigen Meinung beschränken. Das Gesamtbild des Unterrichts ist so zu gestalten, daß die Soldaten nicht zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten politischen Richtung beeinflußt werden."(§33 SG) Grundlagen, Grundsätze, Ziele und Inhalte der politischen Bildung werden durch die Zentrale Dienstvorschrift ZDv 12/1 festgelegt. Politische Bildung ist und bleibt danach "eine Kernaufgabe von Führung, Ausbildung und Erziehung", denn "der Auftrag der Bundeswehr erfordert bei den Soldaten ein ausgeprägtes Bewußtsein für die politische Dimension militärischen Urteilens und Handelns." [5] Da der Zivildienst nicht aus eigener Begründung besteht, sondern der Ableistung der Wehrpflicht ohne Waffe dient, sind grundlegende Regelungen übernommen. Der §36a des Zivildienstgesetzes begründet einen spiegelbildlichen Anspruch der ZDL auf politische Bildung, die jedoch in beiden Diensten unterschiedlich organisiert ist. Da der Soldat kaserniert ist, erhält der WDL politische Bildung in Form des "Staatsbürgerlichen Unterrichts" und der "Aktuellen Information" in der Regel innerhalb der Kaserne. Der Unterricht wird von Vorgesetzten durchgeführt. Die Rahmenbedingungen hierfür sind sehr uneinheitlich. Zivile Träger der politischen Bildung, so auch die Landeszentrale, leisten hierbei in gewissem Umfang Unterstützung und helfen, Seminare auch in ziviler Umgebung zu ermöglichen.

Zivildienstleistende müssen von ihren Dienststellen mindestens zweimal während ihrer Dienstzeit freigestellt werden, damit sie an Bildungsveranstaltungen teilnehmen können, die das Bundesamt für den Zivildienst anbietet. Auf Veranstaltungen dieser Art treffen nur Freiwillige zusammen. Dagegen sind diejenigen politischen Bildungsangebote, die im Rahmen von Einführungskursen für ZDL an Zivildienstschulen angeboten werden, verpflichtend, nur das Thema kann ausgewählt werden. Hier findet sich dann auch der eine oder andere ZDL "halbfreiwillig" zum Seminar ein, dessen eigentlicher Lieblingskurs schon überfüllt ist.

Bei der Bundeswehr hängt alles von den Vorgesetzten ab, die sich in aller Regel aber als aufgeschlossen erwiesen haben, auch als Begegnungsseminare Mitte der 80er Jahre noch nicht üblich waren: "Es ist doch ermutigend, wenn man Ihren Bericht liest, daß zwischen zwei jugendlichen Gruppen, von denen man meint, daß ein Konsens nicht möglich sei, soviel gegenseitiges Verständnis und Achtung aufgebracht wird. Um etwas polemisch zu sein: Das sollten sich die Politiker der Demokratie vielleicht einmal abschauen. Ihr Angebot, in dieser Richtung weiterzumachen, wird auch von (...) unserem Kommandeur unterstützt" - so der Brief des stellvertretenden Kommandeurs eines Fernmeldebataillons, mit dem die ersten Veranstaltungen zusammen durchgeführt wurden. Die WDL kommen heute überwiegend aufgrund freiwilliger Anmeldung, aber gelegentlich werden einzelne auch einfach abkommandiert. Diese Unfreiwilligen gilt es - bei aller gebotenen Zurückhaltung - dafür zu gewinnen, sich auf die Begegnung einzulassen. In aller Regel ist das Eis während der ersten Stunden völlig gebrochen, manchmal schon während der Kennenlernrunde. Anfangs noch bestehende Reserviertheit wird schnell durch den gemeinsamen Umgang miteinander überwunden: "Ich bin zwar von meiner Kompanie hierher geschickt worden, aber jetzt würde ich auch freiwillig mitmachen" - so die Stimme eines Teilnehmers stellvertretend für viele. Hervorzuheben ist, daß gerade dieser gemeinsame Umgang miteinander, das gemeinsame Lernen, bestehende Ressentiments auflöst. Die Seminarleitung muß sich hier zurückhalten. Wirkliche Begegnung ist immer freiwillig.

Die Tatsache, daß beide Dienste stark aufeinander bezogen und zugleich völlig verschieden in ihrer Ausprägung sind, bietet eine besondere Chance für politische Bildung im allgemeinen und Begegnung im besonderen. Gespräche und Auseinandersetzung über die persönliche Entscheidung, Hinterfragen der Gewissensgründe, ethische Fragestellungen, persönliche Erlebnisse und Alltagserfahrungen bilden den Kern der Begegnung, die hier weit mehr als nur ein Mittel der politischen Bildung, nämlich auch Ziel des Bildungsprozesses selbst ist. [6]

Von den Teilnehmern wird dann auch sehr häufig begrüßt, daß hier Raum und Zeit für solche Fragen vorhanden ist, denen man ansonsten unter welchen Gründen auch immer aus dem Wege geht. Ressentiments und Vorurteile werden klarer, ein "Aufeinanderzugehen" wird möglich. Die bestehenden Gegensätzlichkeiten behindern nicht das Interesse und die Neugier am Kennenlernen unterschiedlicher Meinungen. Der Seminarverlauf ist stark von den Teilnehmern abhängig und hat in gewissem Sinne einen "Selbstläufercharakter". Das ist eine Besonderheit in der Bildungssituation mit jungen Erwachsenen. Die Seminarleitung kann sich in Teilen der Veranstaltung zwar stark zurücknehmen, das heißt aber nicht, daß die Veranstaltung von alleine läuft. Neben dem Fachwissen ist ein viel höheres Maß an Vorbereitung, Einfühlung und Konzentration nötig als bei "normalen" Seminaren. Es entsteht so ein zivil-militärischer Dialog, der weit über das hinausgeht, was Podiumsdiskussionen und Referate zu vermitteln imstande sind.

Besonders vorteilhaft haben sich Exkursionen erwiesen, die uns in Einrichtungen des Zivildienstes oder auch in Standorte der Bundeswehr geführt haben. Für Soldaten bedeutet dies einen ersten Einblick in Tagesablauf und Arbeitsbedingungen der Zivildienstleistenden, hier die Pflege und Betreuung von Schwerstbehinderten, dort die Arbeit in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen. Die Anerkennung für die Arbeit in sozialen Einrichtungen war unverkennbar (Soldat: "Dies würde ich nie durchhalten!"). Gleichzeitig konnte die Problematik des Einsatzes von Zivildienstleistenden als "billige Arbeitskräfte" - und noch akzentuierter - als Jobkiller verdeutlicht werden.

Auch die Informationsbesuche in verschiedenen Kasernen der Region zeigten wiederum die Widersprüchlichkeit des Dienstalltags: Befehl und Gehorsam, Disziplin, körperliche Härte während der Grundausbildung, häufiger Leerlauf danach und in der Freizeit, aber auch Fragen nach Sinn und Zweck militärischer Verteidigung. Das Bild des Soldaten wurde differenzierter, plakatives Schwarz-Weiß löste sich in feinere Schattierungen auf. Stereotype Wahrnehmungsmuster, die überwiegend durch Stammtischerzählungen und alte Kriegsfilme geprägt sind, konnten abgebaut werden (ZDL halb anerkennend, halb kritisch: "Wie kannst Du das nur aushalten?" oder "Ich dachte hier wird nur rumgebrüllt."). In den Seminarauswertungen wird deutlich, daß die Exkursionen in den jeweils anderen Bereich (ob Zivildienststelle oder Kaserne) nicht nur Einblicke in den Alltag des anderen ermöglichen, sondern die Reflexion über das eigene Tun verstärken.

So gelingt es, den persönlichen Erfahrungsraum in den gesellschaftlich-politischen und internationalen Raum zu weiten und gleichzeitig an den einzelnen und seine Entscheidung zurückzubinden. Unsere Erfahrungen decken sich mit denen von Gugel und Jäger, die feststellen, daß sie als Seminarleiter "...in diesen Gemeinschaftsseminaren eine so konzentrierte und bewußte Arbeitsatmosphäre empfunden (haben), wie sie in anderen Bildungssituationen nur selten anzutreffen ist." [7] Emotionale und rationale Dimension des Seminars ergänzen sich so, daß politische Themen und Fragestellung behandelbar werden, für die keinerlei originäre Motivation bestand und die im Programm auch nicht ausgedruckt sind: "Nach diesem Seminar hat sich meine negative Stellung gegenüber dem Staat geändert" so ein Teilnehmer, oder "Ich bin politisch bewußter geworden", ein anderer.

Dieser offene Umgang mit anderen, aber auch mit sich selbst, kann nur in einem Seminarklima wachsen, das durch viele informelle Begegnungen, kreativ-offene Arbeits- und Freiräume und spielerische Aktivitäten, einschließlich Rollen und Planspiel, auch die psycho-soziale Ebene mit einbeziehen. Thematisch haben wir uns immer an solchen Fragen orientiert, die einen besonderen Bezug zur Gewissensentscheidung haben und damit im Interesse beider Gruppen liegen. Vor allem war dies die Frage der Friedenssicherung und Friedensgestaltung. Später trat die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Nationalsozialismus hinzu. Der Umgang mit Gewaltherrschaft, Krieg, Widerstand, Zivilcourage waren schwierige Themenfelder, die neue Erkenntnisse und Erfahrungen brachten - auch in der Begegnung mit sich selbst.

Begegnung, gemeinsames Lernen in diesem Sinne kann individuelle Motive, Interessen und Bestrebungen deutlich hervortreten lassen, zugleich aber auch verbinden und gemeinsame Berührungspunkt im Denken und Handeln aufzeigen.

3. Einsatz für den Frieden

"Zivis sind auch eine starke Truppe", sagte ein Soldat und "früher dachte ich, der Bund ist ein Sch.... -Verein, jetzt habe ich meinen Horizont erweitert", resümiert ein Zivi am Ende des Begegnungsseminars.

Drei Tage trafen sich Zivildienstleistende aus dem Einführungslehrgang der Zivildienstschule Karlsruhe und Soldaten der Luftwaffe im Rahmen der politischen Bildung. Mit dem Bundeswehrbus wurden die Zivis abgeholt zur 4. Grundausbildungskompanie nach Germersheim. "Ausbilden für den Frieden" steht am Eingangstor, und dann begann ein unvergeßlicher Tag mit einem Gang durch drei Monate "Grundi", die 6-Mann-Zimmer, über die Hindernisbahn, Waffenschau und Leben im Felde: Nach Marsch mit Gesang mußten die Soldaten mit Ausrüstung Holzwände, Fensteröffnungen, Gräben, Tunnel, Drahtverhau überwinden. Zwei Minuten, zwölf Sekunden ist der Rekord auf der Hindernisbahn, den an diesem heißen Tag jedoch keiner brach.

Auch für die Soldaten war der Besuch der Zivis ein Höhepunkt der dreimonatigen Ausbildung. Einige haben sich extra Schminkfarbe gekauft, um die Vorführung für die Zivis besonders eindrucksvoll zu gestalten. Sie führten vor, was sie gelernt hatten: Leben im Feld, Stellung bauen, Sichern, Zelt tarnen und natürlich Essen und Trinken mit den EPAs (Einmann-Paket). Die Zivis kosteten neugierig, und so mancher nahm sich fürs "zivile" Camping Dauerkekse, Marmelade oder einen Hamburger (noch 2 Jahre haltbar!) mit. Am nächsten Tag bildeten sich sechs gemischte Arbeitsgruppen zu den Themen: "Was ist Frieden?", "Auslandseinsätze der Bundeswehr", UNO - die überforderte Weltpolizei?", "Wehrdienst - Zivildienst - Allgemeine Dienstpflicht". Wenn auch die weltpolitischen Schauplätze fern liegen, sie sind doch immer eng verknüpft mit den Gewissensgründen für die Verweigerung und der eigenen Entscheidung für oder gegen Formen der militärischen Friedenssicherung, für oder gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Einsatz für den Frieden? Darüber wurde auch in den Pausen heiß diskutiert.

"Einsatz für den Frieden" so lautet der Titel einer Seminarreihe, die seit 1986 mehrmals im Jahr Zivildienstleistende und Wehrdienstleistende an einen Tisch bringt. Seitdem hat sich vieles gewandelt. 1986 hatte die Bundeswehr 495.000 Soldaten, davon 300.000 WDL. Auf der anderen Seite verrichteten 60.000 ZDL ihren Dienst im sozialen Bereich. 1984 waren es gar erst 38.000 ZDL. Die Ableistung des Wehrdienstes war der Regelfall. Die Wehrpflichtigen und auch die jungen Zeitsoldaten mit kürzeren Verpflichtungszeiten spiegelten in ihrer Zusammensetzung im großen und ganzen die Generation der 20-30jährigen wider, die Zivildienstleistenden dagegen nicht. Hier fanden sich überwiegend Abiturienten, Studenten, fertig ausgebildete Ärzte, Architekten und andere Akademiker bis zum 28. Lebensjahr in den Begegnungsseminaren ein. Heute ist nicht nur das Durchschnittsalter unter 20 Jahre gesunken, sondern auch die Bildungsabschlüsse haben sich angeglichen: Hauptschulabgänger, viele Realschulabgänger und angehende Handwerker sitzen neben Abiturienten, allenfalls Studenten im 1. oder 2. Semester sind noch anzutreffen. Die Absenkung des Einberufungshöchstalters hat zudem eine vom Alter her noch politisch unerfahrene Klientel erbracht. Viele der Teilnehmer haben z. B. noch bei keiner Bundestags- oder Landtagswahl ihre Stimme abgeben können.

"Das Grundgesetz verlangt, daß der Wehrpflichtige grundsätzlich Wehrdienst leistet" - so das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Urteil zur Landesverteidigung und Kriegsdienstverweigerung 1978. Kriegsdienstverweigerung (KDV) bleibt auch zunächst Grundrecht mit Ausnahmecharakter. Verstärkt wird dies noch dadurch, daß die bis 1984 übliche mündliche Anhörung zur Gewissensprüfung vor den Ausschüssen Durchfallquoten von über 50% der Antragsteller bringt. [9] 1996 werden dagegen ca. 200.000 Anträge auf KDV erwartet bei nur 130.000 WDL. Der Wehrdienst wird inzwischen zum "Ersatz" für den nicht geleisteten Zivildienst. Deutlicher lassen sich das Ende des Kalten Krieges, gewandelte gesellschaftliche Wertschätzungen und geänderte individuelle Verhaltensmuster nicht darstellen. In der Diskussion um die Zukunft der Wehrpflicht wird daher die Sorge laut, daß mit einer Abschaffung der Wehrpflicht auch der Zivildienst verschwinden würde, und der erfüllt inzwischen eine unverzichtbar scheinende Funktion im Sozialsystem. Die Situation ist in der Tat prekär: Stiegen die Verweigererzahlen noch stärker, wäre die Wehrpflicht gefährdet, umgekehrt aber auch. Denn würden die Zahlen stark sinken, gäbe es mehr WDL als die Bundeswehr bei sinkenden Streitkräftezahlen aufnehmen kann.

Kriegsdienstverweigerung - so formuliert eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, hat inzwischen den Status eines "Massenphänomens sozialer Normalität" [10] erreicht. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die Seminararbeit gehabt. Die veränderten Bildungsabschlüsse unserer Teilnehmer sind dabei nur die eine Seite. Neben Gewissensgründen kommen auch Überlegungen zum Tragen, die in stärkerem Maße den allgemeinen Werthaltungen der eigenen Generation verbunden sind. Beruflicher Erfolg, Selbstverwirklichung auch im Beruf, der Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit rücken in den Prioritäten nach vorne. Neben die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man im Ernstfall Gewalt anwenden, d.h. unter Umständen auch töten kann, treten mit der de-facto-Wahlfreiheit des Dienstes nach dem geänderten Anerkennungsverfahren auch nutzenorientierte Überlegungen. Pragmatische Gründe hinsichtlich des persönlichen Lebensentwurfs bestimmen bei einem Teil der jungen Generation die Entscheidung, ob sie zur Bundeswehr oder in den Zivildienst gehen. Mehrheitlich möchte man die Aufgaben der Streitkräfte Profis, also Berufsoldaten, überlassen. Wehrdienst und Zivildienst werden als alternative Wahlmöglichkeiten verstanden. Der Grad der "Politisierung" ist stark zurückgegangen. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist dann auch noch die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Abschreckungspolitik und schließlich mit internationalen Themen überhaupt verschwunden. Für uns hat dies bedeutet, die Teilnehmer noch stärker in die praktische Seminararbeit einzubinden und in teilnehmerorientierten Arbeitsformen Denkprozesse anzustoßen.

Trotz großer Wissensdefizite der Teilnehmer steht die Informationsvermittlung dennoch im Hintergrund. Mit diesem Spannungsverhältnis ist nicht immer leicht umzugehen, denn viele Fragen erfordern doch einen unverzichtbaren Sachverstand. Besonders in Rollen- und Planspielen können die Teilnehmer in die Rolle eines Politikers oder Militärs schlüpfen, erfahren Handlungsspielräume und -zwänge, formulieren eigene Vorstellungen und setzen sie durch. Die ferne und unübersichtlich scheinende Welt rückt dadurch ein Stück näher und wird verständlicher. Hilfreich waren vor allem auch Exkursionen zum Arbeitsplatz der ZDL/WDL. Mit unseren Fahrten nach Buchenwald haben wir schließlich eine Möglichkeit gefunden, gerade das Gewaltproblem in einem intensiv-persönlichen Kontext erfahren zu können.

Wir haben ein Programmbeispiel wiedergegeben, das sich je nach individuellen Bedürfnissen auch variieren und anders gewichten oder auf andere Gruppen übertragen läßt. Jeweils 15 Soldaten aus verschiedenen Standorten und 15 Zivildienstleistende kommen für drei Tage - und zwei Nächte - zusammen: die Soldaten auf Einladung und unter Begleitung eines Jugendoffiziers, die Zivildienstleistenden im Rahmen eines zweiwöchigen Einführungslehrgangs an der Zivildienstschule mit einem Dozenten. "Befreit" von den Zwängen des Alltages mit Dienstplänen, Vorgesetzten etc. ist man gespannt auf die Anderen.

Zur Seminareröffnung stellen zunächst die Teilnehmer sich und ihre Tätigkeit vor. "Wer den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden (Art. 12 a, Abs. 2 GG)". Das jeweilige Dienstverhältnis sieht ähnliche Rechte und Pflichten für Wehr- und Zivildienstleistende vor. Diesen Rechtsgrundlagen steht ein Bündel an Klischees und Vorurteilen gegenüber: Soldaten gammeln nach der Grundausbildung nur monatelang herum, Zivis verdienen mehr, "Killer auf Zeit" die einen (ein Argument aus den früheren Zeiten der Begegnungsseminare), "Drückeberger" und "Egoisten" die anderen. In der Regel bleibt der von den Teilnehmern erwartete Schlagabtausch aber aus.

Bei einigen wird deutlich, daß in beiden Gruppen eine Entscheidung Zivildienst/Wehrdienst aus persönlich-pragmatischen Gründen getroffen wurde - eine Haltung, die in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Mitte der 80er Jahre wurden die Argumente in diesem Punkt schärfer reflektiert und überzeugt-pointiert vorgebracht. Die Teilnehmer waren von vornherein für politische Kernfragen sensibilisiert, heute kommt es dazu erst während des Seminars. Eine Polarisierung findet überwiegend nicht statt, vielmehr sind die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe mindestens so groß wie zwischen den Gruppen. Im Gegenteil, die Meinungsdifferenzen unter den Soldaten und unter den Zivildienstleistenden waren oft sogar beeindruckend größer. Dies führt gelegentlich auch zu verkehrten "Fronten", so etwa, wenn in einer Arbeitsgruppe die ZDL für einen friedenserhaltenden Einsatz der Bundeswehr, die Soldaten jedoch dagegen eintreten.

Konkrete Fälle wie Kambodscha, Ruanda, Somalia oder das ehemalige Jugoslawien lassen den Dilemma-Charakter der Entscheidung sowohl für wie auch gegen den Einsatz militärischer Mittel für beide Gruppen spürbar werden - und machen betroffen, besonders wenn es um die eigene Haltung zu humanitärer Unterstützung bzw. Menschenrechtsverletzungen geht. Auch unter den ZDL wird die Gewissensentscheidung kontrovers diskutiert. Etwas überspitzt könnte man sagen, daß der Slogan aus der früheren Friedensdiskussion "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin" für die heutigen Begegnungsseminare abgewandelt formuliert werden müßte: "Stell Dir, vor es ist Krieg und keiner hilft (z.B. der Zivilbevölkerung)" Aber wer soll helfen und wie? Darüber bleiben die Meinungen kontrovers. Die Berechtigung der Bundeswehr einzugreifen, wenn sie den parlamentarischen Auftrag dazu erhalten hat, wird dabei vielfach nicht bestritten, wenn auch die eigene Entscheidung anders getroffen worden ist.

Die allmähliche Verschiebung der Arbeitsschwerpunkte folgte einerseits der politischen Großwetterlage, andererseits einer veränderten Werthaltung bei den jungen Teilnehmern. Die Diskussionen entzündeten sich zunächst bevorzugt entlang der Ost-West-Konfrontation, Strategiedebatten standen stark im Vordergrund. Außerdem ist der Themenkomplex Feindbilder, gegenseitige Wahrnehmung und Gewissensfrage ein zentraler Bereich, der von außen von den Teilnehmern selbst in das Seminar "mitgebracht" wurde. Seit den 90er Jahren ist die Verunsicherung stärker geworden. Die feste Struktur des Ost-West-Konfliktes ist verschwunden. Was wird die Zukunft bringen? Die eigenen Überlegungen beziehen sich jetzt nicht mehr auf die Potentialität etwa eines Nuklearkrieges, sondern auf die Widersprüche wirklicher Konflikte und Kriege - mitunter vor der eigenen Haustüre. Zugleich muß die Gewissensfrage heute tendentiell stärker von der Seminarleitung eingebracht werden.

Arbeitsschwerpunkte 1986 - 1996

80er Jahre 90er Jahre
Strategiediskussion:
NATO - Warschauer Pakt / Defensive Verteidigung /
Soziale Verteidigung / Bundesrepublik ohne Armee
Krieg als Mittel der Politik heute:
z.B. Irak/ehemaliges Jugoslawien
Alternativen?
SDI (Strateg. Verteidigungsinitiative) Nach dem Kalten Krieg -Wer sorgt für den Frieden?
Perestroika:
Die zweite russische Revolution und die Folgen
UNO - die überforderte Weltpolizei
Rüstungsexporte:
Tod mit deutschen Waffen
Auslandseinsätze: Deutsche Soldaten in
Krisengebiete (Somalia/Bosnien)?
Meine Entscheidung:
Wehrdienst aus Gewissensgründen
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
Meine Entscheidung:
Warum Wehrdienst?
Warum Zivildienst?
Feindbilder
Aufrüsten - Abrüsten:
Suche nach dem Weg zum Frieden
"Soldaten sind Mörder"
ZDL sind "Egoisten"
Christen verweigern -
Christen verteidigen
Zukunft:
Wehrpflicht - Zivildienst - Berufsarmee -
Allgemeines Pflichtjahr - Ziviler Friedensdienst

Die Versöhnung "verfeindeter" Gruppen - wenn sie überhaupt nötig war -, findet sehr schnell statt. "Kampflust" wird zur Neugier auf die Arbeit, die Motive, die Entscheidung des anderen. Hierzu tragen natürlich auch die Rahmenbedingungen entscheidend bei. Politische Bildung, vor allem Begegnung, lebt vom Vertrauen, von der geschützten Atmosphäre eines Seminars. Ein neutraler Ort, an dem sich beide Gruppen treffen, bietet dazu den idealen Rahmen. Wenn es dann auch noch gelingt, zwangloses gegenseitiges Kennenlernen und Miteinanderarbeiten zu organisieren, kann aus der kurzfristigen Begegnung ein langfristiger Bildungs- und Bewußtseinsprozeß werden. Methodisch kann dies u.a. durch Exkursionen erreicht werden, um den Arbeitsplatz des ZDL und WDL kennenzulernen. Diese Exkursionen, die wir aber nicht in jedem Seminar durchgeführt haben, fanden jeweils am 2. Tag statt. Mehr als eine Exkursion läßt sich in einem etwa 3-tägigen Seminar nicht unterbringen, da sonst kein Raum für die Verarbeitung der Themen bleibt. Eine Ausdehnung auf einen vierten Tag war in dieser Seminarreihe organisatorisch nicht möglich. Es versteht sich von selbst, daß im Falle einer eingeplanten Exkursion, andere Programmteile etwas gestrafft werden mußten oder entfallen sind.

Dennoch haben auch dann, wenn Kürzungen notwendig waren, alle kommunikativen Arbeitsformen breiten Raum eingenommen. Innerhalb des eigentlichen Seminars bieten spielerische Zugänge eine Möglichkeit, das Eis zu brechen. Die Teilnehmer können sich in vielen kurzen Phasen unter unterschiedlichen Bedingungen beobachten, "beschnuppern "und schließlich selbst einbringen:

Entscheidungsspiel, Kooperationsspiel, Rollenspiel, Simulation, Spontanplakat "Die Welt im Jahr 2010", Weltpuzzle [11] und viele andere mehr. [12] Daneben bietet die Gruppenarbeit, insbesondere die Zukunftswerkstatt, die Möglichkeit zu intensiver Zusammenarbeit. Jeder wählt dabei seine Gruppe und sein Thema selbst aus und entscheidet, wo er sich einbringt. Einzige Bedingung ist, daß die Gruppen jeweils gemischt zusammengesetzt sein müssen. Die Arbeit mit den Materialien ist ergebnisoffen. Die notwendigen Informationsphasen durch die Seminarleiter werden kurz gehalten und ebenfalls mit Kleingruppenarbeit kombiniert. Die Form der Ergebnis-Präsentation kann frei gewählt werden. Arbeitsmethode, Ergebnis und Darstellungsform werden von den Teilnehmern selbst bestimmt. Die eigene Betroffenheit kann so immer wieder der Motivation dienen [13], jeder kann seine Interessen einbringen und eigene Schwerpunkte setzen. Daher haben wir Seminarthemen ausgewählt, die sich in einen Bezug zur Gewissensentscheidung setzen lassen.

Die Arbeitsergebnisse demonstrieren Offenheit in mehrfacher Hinsicht:

  • Die Gruppe stellt als Ergebnis ihre Sicht zu einem Thema dar
  • Ergebnisse müssen gemeinsam erarbeitet werden, abweichende Meinungen sollen dargestellt werden
  • Gemeinsame Ergebnisse einer Gruppe werden im Plenum diskutiert und auch mit Widerspruch konfrontiert
  • Der Inhalt und die Gruppen bestimmen die Form: Thesenpapier, Collage, Zeichnung, Folien, Karikatur, Plakat, Texte etc.
  • Individuelle und zugleich gemeinsame Leistungen werden erbracht, kommunikative Fähigkeiten und demokratische Spielregeln eingeübt.

Dem Kennenlernen des anderen folgt positive Neugierde. Politik und politische Bildung werden als Kommunikation erlebt [14]. Die angebotenen Inhalte sind oft nur das Feld, liefern den Anlaß zum Gespräch, das bald ganz andere Themenbereiche aufgreift. Die Phasen der informellen Begegnung - oft bis in den nächsten Morgen - sind bisweilen sogar tiefer und intensiver als der inhaltliche Teil. Ein Teilnehmer hat seinen Eindruck so zusammengefaßt: "Was haben ein Panzerfahrer und ein Zivi im Altenheim gemeinsam? - Drei Tage Begegnungsseminar im Haus auf der Alb"!

4. "Damit kein Gras darüber wächst..."Geschichte bearbeitet vor Ort

Angesichts der jüngsten internationalen Konflikte - etwa Bosnien-Herzegowina - bleibt eine Stellungnahme zu Gewalt und Gewaltausübung unausweichlich. Soldaten und Kriegsdienstverweigerer, die eine klar umrissene Vorstellung von Pazifismus und Humanität besitzen (sollten), sind von einer Stellungnahme hierzu nicht befreit. Es war nur ein kleiner Schritt, in die Seminare über das Selbstverständnis von Wehr- und Zivildienstleistenden auch Fragen der eigenen Verantwortung und der Zivilcourage im gesellschaftlichen Zusammenleben aufzunehmen. Gerade angesichts des wachsenden Rechtsextremismus und der zunehmenden Gewaltausschreitungen in Deutschland haben wir uns die Frage gestellt, wie wir dieses Thema verbunden mit der Forderung nach "Zivilcourage" für unsere Gemeinschaftsseminare umsetzen können. Wir haben uns entschlossen, das Thema Rechtsextremismus nicht nur vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte aufzugreifen, sondern auch einen Ort zu wählen, der mit dieser Geschichte besonders verbunden ist: Buchenwald und Auschwitz. Was bedeutet uns heute die deutsche Vergangenheit und welche Verantwortlichkeiten entstehen daraus auch für junge Staatsbürger, die diese Phase nicht einmal mehr aus Erzählungen kennen, sondern nur aus Geschichtsbüchern? Es ging also in keiner Weise nur um die Auseinandersetzung mit Vergangenem, "...sondern um den Umgang mit dessen Nachwirkungen in der Gegenwart." [15] Vergangenheit kann nicht bewältigt werden, nur der Versuch kann unternommen werden, Vergangenheit besser zu verstehen und Erfahrungen für die Gegenwart zu nutzen, so Richard von Weizsäcker: "Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren." [16]

Wir haben in den bisherigen Seminaren in Buchenwald und Auschwitz immer wieder auch Zeitzeugen gebeten, über Ihre Erfahrungen zu berichten: Hier die Grausamkeiten des einzelnen wie des (Konzentrationslager-)Systems, dort Schilderungen über Zivilcourage, Kameradschaft im Leid solidarische Überlebensstrategien, Widerstand und Opferbereitschaft. Mehrere Seminare mit Wehr- und Zivildienstleistenden haben uns Erkenntnisse und Erfahrungen vermittelt und eine andere Dimension der Begegnung erschlossen, die nur dort, vor Ort, erlebt und aufgearbeitet werden kann:

"Es ist so schwer für mich, meine Gefühle auszudrücken oder aufzuschreiben. Warum? ich sitze hier vor diesem Blatt Papier und würde gerne so viele Gedanken aufschreiben. Warum kann ich das nicht? Meine Gefühle scheinen mir wie ein großer Schwarm Fische, von dem ich aber keinen fangen kann. Warum bin ich so verschlossen? Hat es möglicherweise etwas mit meiner Erziehung und meiner Umgebung zu tun?
Heute war ein schwerer, aber wichtiger Tag für mich. Als ich noch einmal das Krematorium besichtigt habe, konnte ich das erste Mal meinen Schock ein kleines bißchen verarbeiten und über die Dinge, die hier passiert sind richtig weinen." [17]

Diese Aufzeichnungen einer Schülerin im Flur der Jugendbegegnungsstätte Buchenwald, die unmittelbar auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald liegt, wurden von unseren Teilnehmern intensiv nachempfunden: Schon am ersten Tag der Weg zum ehemaligen Bahnhofsgelände. Dann der sogenannte Karachoweg. Jeder Häftling mußte im Laufschritt den Weg vom Bahnhofsgelände zum Lager zurücklegen, egal in welchem gesundheitlichen und psychischen Zustand er war. Die Quälereien der SS-Leute, die Erniedrigungen, nur nicht auffallen! Der Appellplatz zeigt das gigantische Ausmaß der Inhaftierung. Nur sehr schwer konnte man sich das Leben im Lager vorstellen . Eine Filmvorführung und das Lager im Modell verdeutlichten die Ausweglosigkeit, in der sich die Inhaftierten befanden. Die Lagerbeschreibung mit dem Krematorium und der sogenannten Genickschußanlage, dem Sezierraum und dem Bärengehege machte betroffen. Die Teilnehmer suchten Abstand, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

Die Sachinformation über die Konzentrationslager im System des NS-Staates und ein erster Rundgang im Lager vermittelten die Greueltaten, die "von den eigenen Leuten" verübt wurden. Zudem entsteht große Betroffenheit, als bekannt wird, daß man in ehemaligen SS-Unterkünften übernachtete. Gibt es moralische Grenzen der politischen Konfrontation? "Es ist sehr schwer zu wissen, daß man in diesen SS-Kasernen wohnt, wo diese Quäler schon gewohnt haben, dort zu lachen oder Musik zu hören oder ganz normale Dinge zu tun. Man hat ein schlechtes Gewissen, wenn man sie tut, aber gleichzeitig kann man zum Beispiel aufs Musikhören nicht verzichten." [18]

Die Ruinen von heute verwandeln sich immer mehr zu Bildern von damals: Einfahrende Züge, endlose Häftlingskolonnen, brüllende Aufseher und gehetzte und ausgemergelte Gestalten sehen wir vor unserem geistigen Auge." [19] Die Torinschrift "Jedem das Seine" läßt uns zusammenzucken.

Zorn, Wut und Trauer waren Stimmungen, die von den Teilnehmern immer wieder beschrieben wurden. Der Ort, an dem früher die Häftlingsbaracken standen, ist heute mit Gedenksteinen versehen. Die Häftlingsbaracken, eigentlich als transportable Ställe für 48 Pferde konzipiert, faßten bis zu 1000 Inhaftierte und besaßen lediglich einen Abort. Die Krankenbaracke mit einer gewissen Selbstverwaltung der Häftlinge war etwas abgelegen und bedeutete ein Stück Freiheit in Haft. Ein steinernes Gebäude faßt die Zellen für die Einzelhaft, 2qm "groß", teilweise verdunkelte Zellen, aus denen die Häftlinge nicht wieder lebend herauskamen. Besonders der nahegelegene Steinbruch, in dem die Häftlinge bis zu 12 Stunden täglich knochenharte Arbeit leisten mußten, wird durch die Dokumentation mit Fotos und Berichten im neuen Museum sehr anschaulich. Buchenwald, 1937 entstanden, entwickelte sich in der NS-Zeit zu einem der berüchtigsten Arbeitslager. Bis zum März 1945 waren hier etwa 239 000 Menschen inhaftiert, mehr als 56 5oo Menschen aus 32 Ländern sind durch Ermordung, Erschöpfung oder Hunger umgekommen. Ab 1941 waren auch die Deutschen Ausrüstungswerke (DAW), später seit 1943 die Gustloff-Werke auf dem Ettersberg in Betrieb. Sie produzierten durch die Zwangsarbeit der Häftlinge. Insgesamt waren 136 Außenkommandos und Außenlager in Rüstungsbetrieben wie Junkers, Krupp, BMW und Rheinmetall-Borsig eingelagert. [20]

Die Konzeption der Gemeinschaftsseminare in Buchenwald beinhaltete zum einen detaillierte Informationen über das Leben im Lager, die ausführliche Begehung des Lagers, wie auch die Bearbeitung von Dokumenten und Berichten im neuen Museum und Archiv der Gedenkstätte. Zum anderen wurden Themen wie das NS-System, die Judenverfolgung, die Ausschaltung der politischen Gegner, ideologische, politische und ökonomische Entwicklungslinien diskutiert. Die Konzeption der Begegnungsstätte sieht auch praktische Arbeiten zur Rekonstruktion des Lagers vor. So sinnvoll dieser Verarbeitungsansatz auch ist (siehe hierzu den Bericht über eine Begegnung in Auschwitz weiter unten), er war bisher in einer sinnvollen Form zeitlich nicht in die Seminare einzubinden. Schülerberichte über bearbeitete Projekte in Buchenwald zeigen aber sehr klar den Sinn und die Notwendigkeit dieser Seminarform.

Auch Weimar sollte zumindest an einem Tage im Mittelpunkt stehen. Nur 10 km von Buchenwald entfernt liegt Weimar als Wiege der deutschen Klassik und Humanität. Die politisch-historische Stadtführung verdeutlichte: nicht ohne symbolische Bedeutung ist Weimar eine der ersten deutschen NS Städte geworden. Hier ist der Ursprung der von den Nazis zum Scheitern verurteilten Weimarer Republik. Hier wurden die inhaftierten Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, "Zigeuner", Kriminelle und Christlich-Oppositionelle zunächst vom Bahnhof in Weimar durch die Stadt auf den Ettersberg getrieben. Hat "man" nichts gesehen? Fragen der jungen Generation an die Großeltern. Ignoranz, Verdrängung, sogar Haß gegen die da oben auf dem Ettersberg, die sogenannten Gegner und Feinde des Nazi-Systems verhinderten mehr Zivilcourage und Opposition.

Und heute? Mölln, Rostock und Hoyerswerda sind uns in beunruhigender Erinnerung. Der jeweiligen Fahrt nach Buchenwald ging mit der gleichen Gruppe ein Seminar zum Thema Rechtsextremismus voraus. Lehren aus der Vergangenheit können Erkenntnisse für die Zukunft sein. Wie lassen sich da die ewig "Gestrigen" und ihre Nachfolger einordnen? Behandelt wurden u.a. das nazistische Weltbild mit Naturrechtslehre, Rassenideologie und Führerkult. Gibt es eine Kontinuität von nationalsozialistischer Programmatik und neuen rechtsextremen und rechtsradikalen Zielsetzungen? Wie hat sich der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren entwickelt und als Frage an die parlamentarische Demokratie unter dem Selbstverständnis als wehrhafte Demokratie: was kann gegen die Herausforderung getan werden, ohne daß sich die Demokratie zu Tode schützt? Ist mit der Entnazifizierung und dem Relikt nationalsozialistischer Gedanken eine "zweite Schuld" entstanden ? [21]

Der neue Streit um die sogenannte Kollektivschuld ("Hitlers willige Mordgesellen") [22] war für die Teilnehmer Herausforderung und Suche nach dem eigenen Standort: nicht nur die Erinnerung an den Widerstand im Dritten Reich mit dem 20. Juli 1944 bleibt ein zu bewahrendes Ziel, Zivilcourage auch im Alltag, Mut sich einzumischen, ist für die Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft einzufordern. Der neue Rechtsextremismus war so für unsere jungen Wehr- und Zivildienstleistenden Modellfall der Verarbeitung des Naziregimes und Prüfstein eigenen Verhaltens:

Eine Episode am Rande unserer Stadtführung in Weimar macht Hoffnung. Einige Teilnehmer bemerkten wie ein Rollstuhlfahrer von Jugendlichen mit schlimmen Ausdrücken bedrängt wurde, die an die Zeit des Dritten Reiches erinnerten. Die Teilnehmer griffen ein, stellten sich vor den Rollstuhlfahrer und drängten die randalierenden Jugendlichen ab. "Zivilcourage ist die größte Tugend", so Richard von Weizsäcker, und sie bedarf der ständigen Übung.

"Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist allererste Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen." [23] Es war daher naheliegend, auch mit Wehr- und Zivildienstleistenden die Spuren des Dritten Reiches in Auschwitz und Birkenau nachzuzeichnen, wie auch die Geschichte und die Perspektiven der deutsch-polnischen Beziehungen zu begreifen. Letztlich sollte dies auch ein (kleiner) Mosaikstein in der Aussöhnung mit Polen sein.

"Warum müßt ihr ausgerechnet nach Polen fahren? In Frankreich, Spanien oder Italien wäre es doch jetzt viel schöner!" So empfing der Busfahrer eine Gruppe von Wehr- und Zivildienstleistenden, die (1990) eine Studienfahrt nach Auschwitz unternahm. [24] Vergangenheit bedeutete für uns alle zunächst auch Auschwitz.

Auch hier - wie in Buchenwald - die Information über das Stammlager (Auschwitz I ), eine ehemalige österreichische Kaserne mit roten Backsteinbauten, gras- und pappelumsäumten Wegen. Diese scheinbare Idylle und der Gedenkstättenrummel mit vielen Reisebussen und Sight-seeing-Atmosphäre decken die Grausamkeiten der Vernichtung zunächst zu. Polnische Schulklassen werden in geschlossener Formation durch die Ausstellung geführt, auch eine Art der Versöhnung? Zögernd ein Teilnehmer: er hätte sich dies viel schlimmer vorgestellt. Die Archivarbeit und biographische Nachforschungen über einzelne Schicksale und das Leben im Lager mit Erschießungswand und Einzelzellen lassen dann ein anderes Bild erscheinen.

Der praktische Einsatz der Wehr- und Zivildienstleistenden in der Rekonstruktion von Wegen und Anlagen - "damit kein Gras darüber wächst" - ermöglicht viele Gespräche und Eindrücke, die tiefer liegen und Emotionen hervorbringen.

"Viel ruhiger ist es am nächsten Tag im Lager Birkenau (Auschwitz II). Hierher verirren sich nur wenige. Liegt es daran, daß es vier Kilometer vom Stammlager entfernt liegt? Oder liegt es daran, daß man sich die Perversität einer ehemaligen Fabrik zur industriellen Menschenausrottung nicht zumuten möchte? Der Gegensatz zum Stammlager ist augenfällig. Allein die Größe des Areals umfaßt ein vielfaches von Auschwitz I. Vom Todestor schweift das fassungslose Auge über ein riesenhaftes Gelände. Linker Hand stehen noch an die 40 Baracken des einstigen Frauenlagers, darin Aufschriften wie "Sauber sein, ist Deine Pflicht" oder "Verhalte Dich ruhig". Sauberkeit, Ruhe und Ordnung - die Tugenden der Massenmörder.

Rechter Hand ganz im Vordergrund noch etwa 20 Baracken des ehemaligen Quarantänelagers. Im rechten Hintergrund ragen nur noch die Kamine der früheren Lagergebäude mahnend in den Himmel. Hierher geht man nicht in großen, geschwätzigen Gruppen. Den Schmerz eines Rundganges (auf den Tafeln steht Sight-seeing) sollte man sich ganz alleine zumuten." [25]

Hoffnung macht ein Gespräch mit einem ehemaligen Häftling. Neben den Schilderungen seiner Erlebnisse im Lager, dem Bericht über die "bösen" und die "guten" SS-Leute, von Sadisten und Lebensrettern, weist er den Weg Richtung Gegenwart und Zukunft: Die Menschenverachtung totalitärer Systeme (auch nach 1945), die Grausamkeiten des Krieges, die gemeinsame Zukunft eines neuen Europa. Er bezeichnet Auschwitz als Mahnmal für die menschliche Gegenwart und Zukunft. Mit Angst und Beklemmung sind wir nach Auschwitz gekommen, mit Hoffnung und Zuversicht verlassen wir diesen Ort. Aber es bleiben auch Zweifel: "Die Verhältnisse von damals sind untergegangen. Sind sie es wirklich in allen ihren Ansätzen?

Erziehen wir zur Toleranz, zur selbstverständlichen Achtung gegenüber fremden Menschen? Wehren wir uns entschieden genug angesichts neuer Ansätze einer untergegangen geglaubten Gesinnung?" [26] Wir erinnern uns plötzlich auch wieder an die Nachrichten über neue Lager in Bosnien, den Völkermord in Ruanda...Welche Eindrücke haben Wehr- und Zivildienstleistende während dieser praktischen Gedenkstättenarbeit erlebt? Einige unserer Teilnehmer haben ihre Gedanken in einem Bericht niedergeschrieben, der in der Zeitschrift "Der Zivildienst" veröffentlicht wurde. Lassen wir nochmals die Autoren unseres Buchenwald-Berichtes zu Wort kommen.

"Aber gerade wir, die junge Generation, sind für die Taten unserer Väter und Großväter in Haftung genommen, verantwortlich also dafür, was mit der Erinnerung, was mit der Vergangenheit in der Gegenwart geschieht. Zweifelsohne ist es auch für viele von uns nicht leicht, die Erinnerung zu leben und Versöhnung aus der Erinnerung heraus zu praktizieren. Anzeichen dafür sind auch das Desinteresse an der Politik, Verdrängung des Gestern und Heute und schließlich der brutale Protest durch Gewalt an Schwächeren. Auch wir tun uns schwer mit der Vergangenheit. Aufklärung tut vielerorts dringend not. Gerade aber auch bei jenen, die sich nicht erinnern wollen. (...) Wir müssen an uns selbst und an anderen arbeiten, Vorurteile, Feindschaft und Haß abbauen. Wir müssen uns erinnern können und zur Versöhnung bereit sein. Miteinander leben, nicht gegeneinander. Ein großer Teil dieser Aufgabe liegt noch vor uns. Die Erinnerung an Buchenwald kann nur ein Anfang sein, aber immerhin ein Anfang." [27]

Die Begegnungen der Wehr- und Zivildienstleistenden in Buchenwald und Auschwitz trugen ein wenig dazu bei, daß "kein Gras des Vergessens über diese Zeit wächst". Vielleicht wird auch irgendwann niemand mehr die Frage stellen: "Warum denn ausgerechnet nach Polen?"

5. Weitermachen lohnt sich...

Natürlich haben wir auch innegehalten, haben gefragt, ob sich unser Begegnungsgedanke für diese Gruppe nicht vielleicht im Laufe der Jahre überlebt hat. Die Entscheidungsgründe, warum der eine zum Wehrdienst, der andere zum Zivildienst geht, haben sich in dieser Zeit zum Teil gewandelt. Viele Gemeinsamkeiten in den Einstellungen der WDL und ZDL sind deutlich geworden. Mit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation haben sich schließlich auch die internationalen Rahmenbedingungen entscheidend verändert. Sind die Begegnungsseminare mit Zivil- und Wehrdienstleistenden also noch zeitgemäß?

Unsere Erfahrungen und viele Teilnehmerstimmen ermutigen uns eindeutig weiterzumachen. Gerade der Begegnungsaspekt hat sich als eine besondere Chance für politische Bildung erwiesen, führt er doch an Themen heran und ermöglicht Erfahrungen, die außerhalb der Begegnungssituation nicht möglich wären. Die Bereitschaft, sich auf andere Sichtweisen und Argumente einzulassen, bedeutet auch, sich selbst zu verändern und den eigenen Horizont zu erweitern.

Am weitesten geht eine Veränderung sicherlich, wenn der junge Wehr- oder Zivildienstleistende sich der jeweiligen anderen Argumentation anschließt. Er kann aber auch an Sicherheit in seiner Argumentation gewinnen, seine Position wird klarer oder er lernt überhaupt erst, seine Meinung zu vertreten. Dieser WDL oder ZDL begegnet im Seminar nicht nur den anderen, sondern sehr stark auch sich selbst, den eigenen Denk- und Verhaltensweisen, Motiven und Entscheidungskriterien. Seine Argumente reifen erst im Seminar und er gewinnt Klarheit über seine eigene Position im Begegnungsgespräch. Vielleicht kommt es auch in Teilen zu einer Überprüfung und Angleichung der Argumente, vielleicht bleibt aber jeder bei seiner Sicht, lernt jedoch die Argumente des anderen zu verstehen. Es kommt möglicherweise erst jetzt zum Verständnis dafür, wie man überhaupt eine andere Position begründet vertreten kann. Häufig hat unser ZDL oder WDL seine Entscheidung noch nie richtig zur Diskussion oder gar Disposition gestellt. Hier erfährt der Teilnehmer nicht nur die Gemeinsamkeiten, die in der Gruppe bestehen, sondern er lernt auch das Andere, das Trennende kennen, und er lernt es zu akzeptieren ("Ich bin jetzt mehr Zivi als vorher"), ohne daß damit die Wertschätzung des anderen sinkt. Solche möglichen Veränderungen vollziehen sich auch in der Auseinandersetzung mit dem behandelten Thema, sie bleiben aber in besonderem Maße an die Person gebunden, vollziehen sich im persönlichen (Begegnungs)Gespräch - und darin liegt eine besondere Chance: "Ob dem anderen mein Argument einleuchtet, hängt nicht nur davon ab, welche Gründe er für richtig oder falsch hält, sondern auch davon, was er überhaupt von mir hält, in welcher emotional imprägnierter Beziehung er im Augenblick zu mir steht." [28]

Teilnehmerstimmen zum Begegnungsseminar

  • "Kein Kampf Bundis - Zivis": "Bundeswehr sehe ich jetzt anders, keine Rambos." "Gut, die Meinung der Zivis zu hören."
  • "Ich bin jetzt mehr Zivi als vorher."
  • "Ich bin politisch bewußter geworden."
  • "Erweiterung des Erfahrungshorizonts"
  • "Ich habe mich bisher nicht für Politik interessiert. Die UNO gab's halt. Ich habe erfahren, daß es mich persönlich betrifft. Ich werde mich mit Politik beschäftigen, Zeitung lesen .... "
  • "Ich kann jetzt viel darüber nachdenken."
  • "Die Soldaten sind fit und überzeugend."
  • "Ich hatte mir vor dem Zivildienst nichts überlegt. Die Bundeswehr hat auch ihre Berechtigung. Ich will mir noch meine Gedanken machen."
  • "Viele Gespräche - auch über ganz andere Themen."
  • "Beindruckend war, wie die Themen bis in die Nacht weitergesponnen wurden."
  • "Gute Atmosphäre." "Rahmenprogramm O.K."; "gemütlich"; "einfach geil".
  • "Ich bin zwangsabgeordnet, deshalb kann es nichts bringen."
  • "Ich hatte einen Ringkampf erwartet, aber viele sind gar nicht weit weg voneinander."
  • "Ich will hoffen, daß heute abend nicht jeder alles in die Schublade steckt."
  • "Ich bin froh, daß ich den Hauptteil meines Zivildienstes noch vor mir habe, weil ich von dem, was ich hier gelernt habe, einiges umsetzen möchte."
  • "Ich bin zwar von meiner Kompanie hierher geschickt worden, aber jetzt würde ich auch freiwillig mitmachen."
  • "Es war gut, andere Meinungen zu hören." "Ich habe vieles über Bord geworfen."
  • "Wir sind gut miteinander ausgekommen." "Soldaten haben Hirn."
  • "Hier mußte man kopflastig arbeiten, was bei der Bundeswehr nicht so gegeben ist."
  • "Früher dachte ich, der Bund ist ein Scheißverein, jetzt habe ich meinen Horizont erweitert."
  • "Tolles Zeichen der Demokratie."
  • "Nach diesem Seminar hat sich meine negative Stellung gegenüber dem Staat geändert.
  • "Ich bin froh, daß ich hier war."
  • "Das sollte man öfter machen - wir sind doch im Prinzip für die gleiche Sache da."
  • "Zivis sind auch eine starke Truppe."

Diese persönlich-emotionale Beziehung hat grundsätzlich zwar einen ambivalenten Charakter, kann also auch zur Blockade führen. In der Seminarbegegnung mit vielfältigen Kontaktmöglichkeiten tritt aber in der Regel keine hemmende Wirkung auf. Das emotionale Klima im Seminar und die persönlichen Beziehungen der Teilnehmer bieten somit eine besondere Chance, andere Lebensbereiche kennenzulernen und Vorurteile abzubauen. Gerade der geschützte Seminarrahmen und die Arbeitsatmosphäre der Tagungsstätte sind bei Begegnungen noch wichtiger als bei anderen Veranstaltungen. Hierzu gehören unbedingt auch die informellen Teile des Programms. Viele Teilnehmer haben noch nie an einem Seminar teilgenommen und verbinden mit "Staat" oder "politischer Bildung" nur unangenehme Assoziationen. Die Erfahrung, daß Lernen auch Spaß machen kann, ist neu ("So einen Unterricht hätten wir in unserer Schulzeit haben sollen!"). Über das Erlebnis der Begegnung werden politische Prozesse persönlich erfahrbar und es entsteht Interesse an Politik ("Ich habe erfahren, daß es mich persönlich betrifft. Ich werde mich mit Politik beschäftigen, Zeitung lesen.").

Die gemeinsame Wurzel beider Dienste ist Quelle der Motivation und der Neugier: Neugier auf den anderen, seine Beweggründe und Motive. Die Frage, warum es überhaupt diesen Pflichtdienst gibt und die Einsicht, daß beide Dienste, nicht nur der Wehrdienst, eine bestimmte Funktion im Rahmen der Gesamtverteidigung einnehmen, zwingen zur Auseinandersetzung - auch mit sich selbst. Die Frage nach der eigenen Verantwortung im Umgang mit Gewalt stellt sich immer wieder neu. Wie läßt sich der Gewalt widerstehen? Es wird schnell einsichtig, daß moralische Überlegenheitsgefühle des einen über den anderen - hier "Mörder", dort Drückeberger oder Egoisten - weder Raum noch Berechtigung haben.

Die Gewissensfrage bildet dabei eine Brücke in mehrfacher Hinsicht: einerseits zu den anderen Teilnehmern und andererseits zu den behandelten Themen. Sie ist damit zugleich Brücke zwischen dem emotionalen Empfinden und den Werten des Einzelnen sowie der rationalen Auseinandersetzung mit Argumenten und Informationen. So kann das Verständnis für andere Lebensbereiche wachsen . Der Horizont weitet sich dabei über den persönlichen Erfahrungsraum hinaus in den politisch-gesellschaftlichen Raum und erschließt auch Fragestellungen und Themen, die eher zu den schwierig zu vermittelnden Bereichen politischer Bildung gehören, für die nur schwer eine Motivation herzustellen ist. Zum Thema "Politikverdrossenheit" hätte sich wohl keiner unserer Teilnehmer angemeldet. Der Begegnungscharakter des Seminars dagegen bietet hier eine besondere Chance.

Politische Zusammenhänge bleiben über die Begegnung in ihrem Bezug auf den einzelnen erfahrbar. Dies gilt besonders für historische Prozesse oder das internationale Geschehen, das weit entfernt zum eigenen Alltag ist und - wenn überhaupt - nur über das Fernsehen vermittelt wird. Gerade die KZ-Besuche haben unser Begegnungskonzept wesentlich erweitert. Die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Erfahrungen, mit Tätern und Opfern hat unsere Teilnehmer in besonderem Maße zu einer Begegnung mit sich selbst geführt: Wie würde ich selbst handeln? Die Dichte der Eindrücke, Empfindungen und Gedanken ist groß. Erfahrungen und Erkenntnisse bleiben nachhaltig.

Ein wichtiger Effekt der Begegnung zwischen Zivil- und Wehrdienstleistenden ist außerdem, daß sie den zivil-militärischen Dialog fördert. Am Anfang ging es darum, die Minderheitsposition (Verweigerung) mit der Mehrheitsposition (Dienst in der Bundeswehr) zusammenzubringen. Heute haben sich die Größenordnungen angeglichen. Das heißt auch zugleich, daß ein Großteil der jungen Männer einen Pflichtdienst leistet, der sie in unterschiedliche Richtungen führt und kaum einen gemeinsamen Gedankenaustausch zuläßt. Begegnung ist hier vielleicht sogar noch wichtiger geworden.

Im Begegnungsseminar lernen Zivildienstleistende und Soldaten sich und die anderen kennen, sie befinden sich zugleich in einem Prozeß des gemeinsamen Lernens, der von der flüchtigen Begegnung zum langfristigen Bewußtseinsprozeß führen kann. Ob über Friedenssicherung, Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus diskutiert wird, Seminarrahmen, Arbeitsformen und Inhalte sind zugleich immer auch Werbung für demokratische Spielregeln, Aufforderung sich im politischen Geschehen zu beteiligen, sich einzumischen und zu engagieren.

Begegnung, gemeinsames Lernen in diesem Sinn eröffnet die Möglichkeit, nicht einfach bei der Feststellung stehen zu bleiben, daß wir in einer pluralistisch-segmentierten Gesellschaft mit unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Tätigkeiten leben, sondern neben dem Trennenden auch das Verbindende zu erkennen und zu erfahren.


Anmerkungen:

1) Rita Süßmuth, damals zuständige Ministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, in einer Grundsatzrede zum 25. Zivildienstjubiläum. Vgl. auch: Walter R.W. Staufer: Ich bin Zivi, Reinbek b. Hamburg, 1990, S. 24ff und S. 280ff.
2) Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach 1995. Gleichzeitig steigt die Unterstützung für die Beibehaltung der Wehrpflicht in der Bevölkerung auf 53%. Infas, Bonn 1996
4) Die Diskussion über die Wehrpflicht wird mit wachsender Intensität geführt. Vgl. u.a.: Hilmar Linnenkamp: Wohin mit der Wehrpflicht? In: Vierteljahresschrift für den Frieden, Heft 1/1994. Eckardt Opitz/Frank S. Rödiger (Hrsg.): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte - Probleme - Perspektiven, Bremen 1995. Michael Schleicher/Thomas Straubhaar (Hrsg.): Wehrpflicht oder Berufsarmee? Bern/Stuttgart 1996. Christoph Bertram: Soldat nur noch aus freien Stücken? In: Die Zeit, 5. Juli 1996, S. 3.
5) Bundesministerium der Verteidigung: Weisung zur Durchführung der politischen Bildung in den Streitkräften ab Januar 1996, Bonn 1995.
6) Vgl. Siegfried Schiele (Hrsg.): Politische Bildung als Begegnung, Stuttgart 1988, S.10; siehe darin auch Thomas Broch, S. 48 ff.
7) Günther Gugel/Uli Jäger: Die Gemeinsamkeiten dominieren. Gemeinschaftsseminare mit Zivildienstleistenden und Bundeswehrsoldaten, Tübingen 1991, S.7.
8) Quellen: Bundesamt für Zivildienst (Hg.): Daten und Fakten zur Entwicklung von Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst. Köln 1994 und 1996 sowie eigene Erhebungen.
9) Seit 1984 genügt eine schriftliche Begründung an das Bundesamt für den Zivildienst. Die Anerkennungsquote liegt bei über 90%. Die meisten Ablehnungen erfolgen wegen formaler Mängel. Siehe: Bundesamt für den Zivildienst, a.a.O., S. 10.
10) Hans-Georg Räder: Kriegsdienstverweigerung im neuen Deutschland. Eine empirische Bestandsaufnahme, München 1994 (Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr), S. 4.
11) Das Weltpuzzle wird herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
12) Siehe hierzu auch den sehr hilfreichen Band: Günther Gugel: Praxis der politischen Bildungsarbeit. Methoden und Arbeitshilfen, Tübingen 1993.
13) Vgl.: Bernhard Sutor: Neue Grundlegung der Politischen Bildung, Bd. II, Paderborn, 1984, S. 85
14) Vgl ebenda, S. 87ff.
15) Bert Pampel: "Was bedeutet Aufarbeiten der Vergangenheit"? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament, B1-2/95, S. 30.
16) Richard von Weizsäcker: Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, Bonn 1985, S. 6.
17) Horn, Eva, Es ist schwer, dort zu lachen oder Musik zu hören, in: Frankfurter Rundschau, 23. Dezember 1993, S.6
18) ebenda
19) Jens Alt/Ludwig Jaffé/Rainer Gruhlich: Soldaten und ZDL im Schatten deutscher Vergangenheit, Teilnehmerbericht über unser Seminar in Buchenwald, abgedruckt in: Der Zivildienst, 11-12/1994, S. 21.
20) Ulrike Puvogel: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - eine Dokumentation, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr.245, Bonn 1988, S. 776 ff.
21) Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder: Von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987
22) Siehe hierzu: Daniel J. Goldhagen: Hitler´s Willing Executioners, New York 1996.
23) Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, In: Theodor W. Adorno "Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt 1970, S.88-104, hier: S. 88
24) Werner Fichter: Warum denn ausgerechnet nach Polen? Bericht über eine Begegnungsreise, in: Bürger im Staat, Heft 3/1990, S.196f.
25) Fichter, Werner, a.a.O., S. 197.
26) H. F. Rathenow/N. H. Weber: Erziehung nach Auschwitz, Pfaffenweiler 1989, S. 5
27) Jens Alt/Ludwig Jaffé/Rainer Gruhlich, a.a.O., S. 22
28) Manfred Hättich: Politische Bildung als Begegnung, In: Schiele, Siegfried (Hrsg.), a.a.O., S.27.

Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Praktische politische Bildung. Stuttgart 1997, S. 271 - 298.

(c) 1997 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart

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