Theater: Die ganze Welt ist eine Bühne. Theater in der politischen Bildung

Gottfried Böttger

Frühsommer 1996. Das Staatstheater Stuttgarter führt Heinrich v. Kleists "Hermannsschlacht" auf. In der Inszenierung von Dietrich Hilsdorf tragen die Germanen Uniformen aus der Zeit der Befreiungskriege, die Römer sind eindeutig als Franzosen zu identifizieren. Und gezeigt wird uns weniger ein Stück über den Sieg Hermanns im Teutoburger Wald, als eines, das die Abgründe der deutschen Seele ausleuchtet.

Zuviel historisch-politische Bildung auf der Bühne oder gelungenes Beispiel dafür, wie Theater sich einmischt in die Fragen seiner Zeit?

Theater, wenn es nicht museales Nachspiel klassischer Vorlagen sein will, hat immer nach dem "Zeitbezug" gefragt. Und solches Theater ist auch immer wichtiger geworden bei der Einführung kultureller Elemente in die politische Bildung. [2]

Welche Erwartungen sind daran geknüpft, wenn Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater in Veranstaltungen der politischen Bildung auftauchen, die doch sonst in erster Linie auf rationalen Diskurs setzt? Auf jeden Fall sollte mehr erwartet werden als eine bloße Ergänzung oder ein besonderer Anreiz, der einer manchmal dröge wirkenden "politischen Bildung" ein attraktiveres Aussehen verleihen soll.

1. Praxistest: Festival "Politik im freien Theater"

Einen "Praxistest" hat die Bundeszentrale für politische Bildung in drei Festivals "Politik im freien Theater" gemacht. Als sie im September 1988 zum erstenmal zu einem solchen Festival einlud, wurden als Kriterien für eine Bewerbung und Einladung genannt, daß die Stücke "Themen behandeln, die sich mit der Ausübung politisch-staatlicher Herrschaft befassen und ihre konkreten gesellschaftlichen und individuellen Rückwirkungen kenntlich machen". [3] Beabsichtigt war dabei von Anfang an auch, die Arbeit freier Theatergruppen zu fördern.

Nach einer fünfjährigen Pause fand das 2. Festival 1993 in Dresden statt und dabei wurde an die Zielsetzung der Bremer Veranstaltung angeknüpft: "Das Festival will insbesondere die Theaterarbeit derer ermutigen, die in und mit dem Theater zu politischen Themen der Gegenwart Stellung beziehen und dieses Medium als ein Forum öffentlicher Diskussion begreifen. Vorgesehen ist, Produktionen des Freien Sprechtheaters mit hoher ästhetischer Qualität zu präsentieren, die Einblick in die unterschiedlichen Möglichkeiten geben, sich heute mit politisch relevanten Themen auf der Bühne auseinanderzusetzen. (...)

Besonderes Gewicht soll auch auf die theatrale Umsetzung und Vermittlung von Gegenwartsliteratur gelegt werden." [4]

Auf diese Ausschreibung wurde auch bei der Einladung zum 3. Festival, das vom 15. - 24. November 1996 in Bremen stattfand, zurückgegriffen. [5].

2. Vorrang für die Gegenwartsliteratur

Wie steht es um den Vorrang für die Gegenwartsliteratur, wie er in den Ausschreibungen der drei Festivals angekündigt war?

Von 16 Aufführungen, die 1988 im Wettbewerb gezeigt wurden, gehörten 15 dieser Kategorie an. Die Aufführung von Shakespeares "Othello" war der einzige Griff ins klassische Repertoire.

16 der insgesamt 22 in Dresden gezeigten Stücke waren von Gegenwartsautoren geschrieben. Sechs Aufführungen aber hatten Stücke oder Texte von Autoren von der griechischen Antike bis zur erste Hälfte unseres Jahrhunderts als Vorlage: Aristophanes, Heinrich v. Kleist, Johann Nestroy, Franz Kafka, Isaak Babel und Bertolt Brecht.

1996 gelang es dann nur noch Shakespeare und Tschechow mit drei Inszenierungen ins Festivalprogramm aufgenommen zu werden. Mit "Troilus und Cressida", "Othello" und "Der Kirschgarten".

Alle anderen 15 Produktionen waren auf der Grundlage von Texten von Gegenwartsautoren oder als Eigenproduktion der beteiligten Theatergruppen entstanden.

Können nur gegenwärtige Autorinnen und Autoren etwas zur Klärung von Gegenwartsfragen beitragen? Zunächst ist mit dem Vorrang für die Gegenwartsdramatik die Absicht verbunden, junge Autorinnen und Autoren zu fördern. Sie sollen ermutigt werden, Theaterstücke zu schreiben, die unsere Zeit und ihre Fragen zum Gegenstand haben. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wie manche Aufführungen auch der vergangenen Festivals zeigen, gelingt dabei manchmal nicht mehr als eine platte Abbildung von Wirklichkeit. Dabei wird dann das Niveau des Konkurrenzmediums Fernsehen nicht erreicht, teilweise unterboten. Dies kann auch daran liegen, daß aktuelle Themen in Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen so ausführlich und umfassend behandelt sind, daß Theater keine wirkliche Bereicherung der Debatte mehr leisten kann. [6]

Festzuhalten bleibt, daß manche Aufführung eines "Klassikers" mehr über unsere Zeit zeigt und zu deren Verständnis beiträgt, als ihre mehr gewollten als gelungenen zeitgenössischen Konkurrenten.

Deshalb sollte in einem Festival, das sich auf die Suche nach dem Politischen im Theater begibt, beides berücksichtigt werden: die Theatertradition, nicht im Sinne musealer Reprisen, und die Gegenwartsdramatik, die allerdings hohen Qualitätsansprüchen genügen muß.

3. Und immer wieder Shakespeare?

Peter Brook, einer der bedeutendsten Theatermacher unserer Tage, beschreibt, wie er bei der Suche nach einem Stück, das "die Schauspieler inspirieren und zugleich dem Publikum etwas Wertvolles vermitteln würde, das zu den Bedürfnissen und Wirklichkeiten unserer Zeit in Bezug" steht, immer wieder auf Shakespeare kommt. "Shakespeare ist und bleibt das Vorbild, das keiner je übertroffen hat, sein Werk ist immer relevant und immer zeitgemäß." [7]

Immer wieder kommt man also auf Shakespeare zurück und stellt fest, wie viel er auch heute noch zu sagen hat. Dies gilt vor allem, wenn es um Fragen der Politik, um Macht und um Herrschaft geht. Manche aus der Zunft professioneller Literaturwissenschaft mag es überrascht haben, daß ein Politikwissenschaftler sich mit Shakespeare beschäftigt. Ekkehart Krippendorf hat dies in einer Vorlesungsreihe getan und ist bei der Suche nach der Politik in dessen Dramen zu höchst interessanten Ergebnissen gekommen. [8]

Was er ebenfalls aufdeckt, ist die Modernität Shakespeares im Blick auf die Begründung richtiger Politik.

"Die Menschenfreundlichkeit als Kompaß der politischen Moral, als Maßstab der Legitimität von Regierung und Regierungshandeln und sie selbst begründet in einer (durch leichtsinniges - "unökologisches" - Handeln der Menschen immer potentiell gefährdeten) kosmischen Ordnung: in solchen Kontexten bewegt sich der politische Shakespeare, Lichtjahre entfernt vom politischen Diskurs der Gegenwart und doch, so möchte es scheinen, näher an der Erfahrungswirklichkeit als so vieles, was uns heute an Orientierungshilfen angeboten wird. Politik ist moralisches Handeln - oder es ist keine bzw. zerstörerische Politik, zerstörerisches Handeln." [9]

Es kann deshalb nicht verwundern, daß Shakespeare bei allen drei Theaterfestivals der Bundeszentrale vertreten war. Nicht als Entmutigung für Autorinnen und Autoren, Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler. Sondern als Vorbild und Anreiz.

Das Theater und auch ein Theaterfestival sind also der Ort, an dem Neues, auch neue Texte ausprobiert werden. Aber genauso sollten beispielhafte Aufführungen, in denen die Aktualität von Theaterstücken aus vergangenen Zeiten sichtbar wird, nicht davon ausgeschlossen sein.

4. Den Stärken des Theaters vertrauen

Jenseits dieser Frage haben die Festivals eine hervorragende Möglichkeit geboten, zu sehen, welche Möglichkeiten Theater für politische Bildung bietet. Der Versuch, die Ernte sozusagen direkt einzufahren, indem nach den Aufführungen eine Diskussion stattfand, hat sich als vielleicht zu "bildungsbeflissen" erwiesen. Beim 3. Festival in Bremen wurde deshalb auch darauf verzichtet. Und es vertraute auch zu wenig auf die Kraft des Theaters, die gerade darin liegt, nicht nur "rational" zu sein. Ein Text wird mit szenischen Aktionen, Bildern, Musik, Licht zur Anschauung gebracht. Wodurch eben nicht nur der Verstand, sondern auch emotionale Schichten angesprochen werden. Wird nun direkt an die Aufführung ein Gespräch angeschlossen, vielleicht sogar in der Absicht, rasch den "politischen Kern" einer Aufführung offenzulegen, werden die Chancen verspielt, die Theater eröffnen kann. Die Handlungen von Menschen sind niemals allein rational geleitet. Theater richtet den Blick gerade auch auf die Emotionen und unbewußten Antriebe der Handelnden. Und es löst im Zuschauenden Gefühle aus, die nicht restlos auszudeuten sind. Soll also Theater in der politischen Bildung eine Rolle spielen, muß gerade diese Stärke, im Sinn einer ganzheitlichen Sicht menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Wirklichkeit genützt werden.

Wie Theater - auch wenn es Stücke des historischen Repertoires spielt, etwas für das Verstehen der Gegenwart beitragen kann, soll an zwei Beispielen dargestellt werden: "Philotas" von Gotthold E. Lessing und "Polenweiher" von Thomas Strittmatter.

"Ein Held sei ein Mann, der höhere Güter kenne, als das Leben" [10]

Gotthold Ehpraim Lessings 1758 geschriebenes Trauerspiel "Philotas" steht hier für viele andere Beispiele, mit denen sich zeigen läßt, daß es nicht der aktuelle Vorfall, das Tagesereignis sein muß, mit dem Theater einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leistet. Philotas wird, als er zum erstenmal für seinen Vater in den Kampf zieht, gefangengenommen. Er befürchtet, daß dieser, um ihn zu befreien, seinem Gegner, Aridäus, Zugeständnisse machen muß. Um das zu verhindern, will er sich das Leben nehmen. Er erfährt, daß auch der Sohn des Aridäus, Polytimet, gefangen ist. Doch ein wechselseitiger Gefangenenaustausch ist ihm nicht genug, die Schande der Gefangennahme zu tilgen. "Ich kann meinen Zweck erfüllen, ich kann zum Besten des Staates sterben." [11] Philotas nimmt sich vor den Augen des Aridäus und dessen Feldherrn Strato das Leben. Aridäus ruft dem Sterbenden nach, daß auch er seinen Sohn "zum Besten seines Vaters" [12] sterben lasse. Zum Schluß aber gelangt er doch zur Vernunft und will seinen Sohn um jeden Preis wiederhaben.

Lessings Stück hat widersprüchliche Interpretationen erfahren. So wurde der "selbst noch adoleszente Held des Dramas vielen Schülergenerationen als willkommenes Identifikationsmuster angeboten; Philotas galt als heroisches Exempel für einen vom Enthusiasmus getragenen Patriotismus". [13] Doch schon genaues Lesen des Dramas belehrt eines anderen. Lessing teilt den Heroismus seines Philotas nicht, der "versponnen in seinen Enthusiasmus (...) eine vorwiegend monologische Existenz" lebt. [14]

Und auch Christoph Biermeier, der 1995 Lessings Trauerspiel für das Tübinger Zimmertheater inszenierte, hat etwas anderes in den Blick genommen. Bei ihm endet das Drama auch nicht mit dem zur Einsicht gekommenen Vater, sondern damit, daß Aridäus den Tod seines Sohnes ankündigt. Der Krieg der beiden Väter wird also, über den Gräbern der Söhne, fortgeführt. Nicht die Vernunft siegt, wie Lessing dies vorgezeigt und mit aufklärerischem Impuls gehofft hatte. Der sinnlose Krieg und das Morden werden weitergehen.

Das Bühnenbild und die Kostüme der Tübinger Aufführung [15] verlegen die Handlung nicht in die Antike, sondern haben etwas zeitlos Militärisches. Die Bühneninstallation, die aus verschiedenfarbigen Leuchtkörpern besteht, weist eher auf die Moderne.

Ohne den Zuschauer mit irgendwelchen Zeichen darauf zu stoßen, sind im Raum die von den Medien tagtäglich gezeigten Kriegssituationen präsent. Ohne Sarajewo, Srebrenica, Tuzla zu erwähnen oder auch nur anzudeuten, sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer in Philotas einen jener jungen Männer, die dort den Krieg tagtäglich weiterführen bis zum bitteren Ende. Philotas ist kein Jüngling aus grauer Vorzeit, sondern einer der "Helden", die den Krieg brauchen, weil es ihnen an Lebenssinn mangelt. "Das abgewirtschaftete männliche Denken: wer will kann das im "Philotas" haben. Die ungeheure Destruktivität der Vernunft." [16] Und dabei ist die Hoffnung Lessings, daß der Vernunft gegen die Irrationalität zum Durchbruch verholfen werden kann, aus heutiger Sicht kaum mehr angebracht.

Der "klassische" Text Lessings in einer Inszenierung, die nicht auf Historisierung, aber auch nicht auf krude Aktualisierung setzt, hilft besser als viele Versuche, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien direkter auf die Bühne zu bringen, etwas von den Motiven, auch den unbewußten Antrieben derjenigen zu verstehen, die diesen Krieg brauchen und ohne die ein solcher Krieg nicht geführt werden könnte.

6. "Tote soll ma' tot sei lau" [17]

"Anna, eine in den Schwarzwald dienstverpflichtete polnische Mag, wird tot in einem Weiher gefunden. Ganz besonders nimmt der Vorfall Rot mit, einen ehemaligen Landstreicher und Korbflechter. Rot findet recht bald heraus, daß Hungerbühler, der Bauer, bei dem er als "Schlafgänger" wohnt, für Annas Tod verantwortlich ist. Auch der Kommissar, der in dem Fall ermittelt, ist recht bald im Bild; zum einen aber findet er Gefallen an Hungerbühlers Frau Antonia, zum anderen sieht er den nahenden Zusammenbruch voraus und braucht einen Unterschlupf, den er in dem abgelegenen Schwarzwaldhof zu finden hofft. Außerdem wäre es peinlich, wenn von dem Fall etwas an die Öffentlichkeit käme, denn es widerspräche der Nazipropaganda über die Lage der Ostarbeiter. Rot reagiert mit einem körperlichen Zusammenbruch profaner Art: Darmverschluß.

Da bald das ganze Dorf über Hungerbühlers Tat Bescheid weiß, da er auch mit seinen Gewissenskonflikten zwischen Nazi-Ideologie und Menschlichkeit nicht mehr zurecht kommt, meldet er sich freiwillig an die Front. Er fällt bald. Rot stirbt an seiner Krankheit. Der Plan des Kommissars gelingt, er kann bei Antonia Unterschlupf finden.

In einem Nachspiel erhält der Kommissar vom CIC - der Organisation, die die Nazi-Verbrechen ahndet - den begehrten "Persil-Schein". Danach ist er nicht mehr an Antonia interessiert. Seiner weiteren Laufbahn als Polizeibeamter steht nichts mehr im Wege, da durch einen Brand kompromittierende Akten vernichtet wurden." [18]

Das Stadttheater Konstanz brachte 1984 Thomas Strittmatters Volksstück "Polenweiher", von dem hier die Rede ist, zur Uraufführung. Strittmatter, 1961 in St. Georgen im Schwarzwald geboren und 1995 früh gestorben, schrieb das Stück in der Sprache seiner Schwarzwälder Heimat, in Alemannisch. Danach wurde es in Freiburg und Esslingen gespielt, auch als Fernsehspiel und Hörspiel bearbeitet.

Das Theater Lindenhof in Melchingen, einem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb, führte 1988 zum erstenmal eine schwäbische Fassung des Stücks auf. [19] Ort der Handlung war nun die Schwäbische Alb. Anna, die polnische Fremdarbeiterin, die in Strittmatters Vorlage als Person nicht vorkam, ist auf der Bühne präsent. Die Reintegration des Kommissars in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft gibt es in dieser Fassung nicht. Wie schon der Anfang, ist auch das Ende als Musik- und Textcollage gestaltet. Während die Überlebenden langsam zu sich kommen, hören wir den berühmten Ruf: "Toor, Toor". Helmut Rahn hat die Helden von Bern zur Fußballweltmeisterschaft geschossen und Deutschland "ist wieder wer". Die drei Toten - Anna, Hungerbühler und Rot - treffen sich inmitten des Siegestaumels.

Im Mikrokosmos eines schwäbischen Dorfs werden Mechanismen der Machtausübung und der Anpassung sichtbar gemacht. Die Alltäglichkeit und Banalität des Bösen. Dies ist - manche haben es beklagt - keine wissenschaftliche Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Das kann Theater nicht leisten und sollte auch nicht von ihm erwartet werden. Die Idylle eines Dorfs, das überall liegen könnte, wird entlarvt. Und sichtbar werden subtile und weniger subtile Mechanismen der Fremdenfeindlichkeit, des gegenseitigen Mißtrauens und des Ausnützens von Schwächen der anderen. "Wir wollten eigentlich eine Menschengeschichte erzählen und die spielt zwar in dieser Zeit und diese Zeit spielt dann auch eine Rolle, nämlich in der Art, wie sie den Konflikt ausformt, aber dieser Konflikt wäre auch in einer anderen Zeit denkbar. Wir fanden das auch viel spannender zu sagen, der Bauer hat die Polin nicht vergewaltigt, sondern das ist eine Liebesgeschichte." [20]

Was Aufführungen wie diese für politische Bildung wichtig macht, ist also nicht, daß sie Ersatz sein könnten für Vorträge oder Diskussionen zum Thema Nationalsozialismus oder Fremdenfeindlichkeit. Sie eröffnen aber die Möglichkeit des Einfühlens in die Vorgänge. Der emotionale Anteil ist es, der hier von großer Bedeutung ist.

Was unterscheidet aber ein Theaterstück wie Strittmatters "Polenweiher" von einem Film wie Steven Spielbergs "Schindlers Liste". Heiner Müller hat Spielberg vorgeworfen: "die Idee, so etwas (wie Auschwitz d.A.) zu rekonstruieren im Film ist obszön. Und die Möglichkeit des Theaters, an so etwas zu erinnern, wäre eigentlich nur Schweigen darüber." [21] Eine Möglichkeit, nicht obszön zu werden, aber auch nicht zu schweigen, ist die von Strittmatter und dem Theater Lindenhof gewählte Form. Das Grauen in seiner Totalität kann nicht auf die Bühne gebracht werden, aber die alltäglichen Grausamkeiten, die seine Grundlage bilden. Was sich im kleinen Dorf im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb ereignet, ist nicht das Morden im industriellen Maßstab. Aber es gibt das Mißtrauen und den Haß gegenüber dem Anderen, Fremden. Das Bewußtsein, Teil des großen Ganzen zu sein und sein zu müssen. Das Quälen der Schwächeren.

Die Toten werden also nicht in Ruhe gelassen, sondern sie kehren zurück, lassen sich nicht so einfach verdrängen. Vergangenheit wird vergegenwärtigt, um Zukunft gestalten zu können.

7. Theater in der politischen Bildung

Was also kann, was soll Theater in der politischen Bildung leisten? Deren wichtigste Zielsetzung, die Qualifikation auf die sie in erster Linie abzielt, ist Rationalität. Bezogen auf das Verstehen historischer, politischer, gesellschaftlicher Prozesse und auf die Fähigkeit zum Diskurs. "Die Frage ist nur, ob diese Zielsetzung ausreicht und ob nicht auch andere Saiten menschlicher Existenz mit zum Klingen gebracht werden müßten." [22] Siegfried Schieles Plädoyer für die Berücksichtigung des Emotionalen in Bildungsprozessen führt direkt zu einer der Stärken von Theater. Theater das "alle Sinne des Menschen ansprechen" und damit mehr leisten kann als manche "abstrakte Erörterung". [23] Historisches und Gegenwärtiges werden so anders erlebbar, als dies in Referaten oder auch schriftlichen oder mündlichen Berichten möglich ist. Und in einer zunehmend enthistorisierten Welt ist eine der herausragenden Aufgaben des Theaters auch die, zu erinnern. [24]

Nun spielt die Frage nach Rationalität und Emotionalität nicht nur in der politische Bildung eine Rolle. Sie ist auch in der Auseinandersetzung um aristotelisches und nicht-aristotelisches Theater, um Katharsis und Verfremdung enthalten. Das epische Theater Bertolt Brechts wollte eine auf die Einfühlung weitgehend verzichtende Darstellung. "Von keiner Seite wurde dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfache Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben. Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus." Denn bei allem "Selbstverständlichen" werde auf das Verstehen verzichtet. [25]

Bertolt Brecht, einer der wichtigsten Protagonisten des vornehmlich auf den Verstand setzenden Theaters, auch im Sinne der politischen Beeinflussung, spielt zwar noch immer eine wichtige Rolle auf den Bühnen. Eine angebliche "Brecht-Müdigkeit" ist angesichts von 20 Aufführungen seiner Stücke in der Spielzeit 1994/95 nicht belegbar. [26] Doch sagen diese Zahlen allein noch nichts darüber aus, wie ernst heutige Inszenierungen die Anweisungen des Meisters nehmen. Die Aufführungspraxis hat sich nämlich von den Vorstellungen Brechts ganz offensichtlich um einiges entfernt und betont die emotionalen Seiten, die auch sein Theater enthält, wieder stärker.

Wenn politische Bildung eine Partnerschaft mit dem Theater eingeht, darf dies auf keinen Fall in der Absicht geschehen, Theater als "Belehrungsanstalt" zu sehen. Und ebensowenig darf der Versuch unternommen werden, die Offenheit von Kunst in Eindeutigkeit umzuwandeln. Wenn sich politische Bildung für das Theater entscheidet, dann vor allem auch, weil sie dessen Unentschiedenheit aushält. Weil es ihr darauf ankommt, für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen anzubieten, sondern Kontroversen und Widersprüche deutlich zu machen.

Und Theater ist, Hermann Glaser hat darauf hingewiesen der "Ort der vielen Wahrheiten; Lernort für die Widersprüchlichkeit von Wahrheit; Erlebnisort für Antinomien". "Im Theater gerät Verunsicherung zum Vergnügen, wenn begriffen wird, daß in Verunsicherung, die nicht mit Unsicherheit zu verwechseln ist, eine wichtige humane Leistung liegt. Der Verunsicherte ist dann zur Kommunikation viel bereiter. [27]

In einer weitgehend nur noch medial vermittelten Welt verkümmert die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung, zur direkten Kommunikation. Und wenn der Aufenthalt in virtuellen Welten, die Kommunikation im Cyberspace wirklich immer mehr um sich greifen sollten, werden die Orte, an denen reale Menschen miteinander in Kontakt treten immer wichtiger. Theater ist ein solcher Ort. Es ist, wie George Tabori dies nennt, "die edelste und wahrste Form von Kommunikation". "Denn es geht um eine lebendige Begegnung, zwischen Bühne und Zuschauerraum. Weil das Theater etwas besitzt, das keines der anderen Medien hat. Es ist einmalig! Jede Vorstellung, ob sie schlecht, gut oder indifferent ist, ist zum ersten und zum letzten Mal, darin liegt eine gewisse Wahrheit und ein gewisses Pathos." [28] Auch der politischen Bildung geht es immer wieder darum, Menschen zueinander und miteinander ins Gespräch zu bringen. Da es in einer Gesellschaft, die immer mehr auf das "Erlebnis" oder "Events" aus ist, immer schwieriger wird, solche Begegnungen zu arrangieren, sollte auch in diesem Sinn das Theater als Ort der Kommunikation genutzt werden. Nur muß auch hier davor gewarnt werden, Theateraufführungen sozusagen als "Lockmittel" zu mißbrauchen, um dann, wenn die Menschen gekommen sind, politische Bildung im traditionellen Sinn zu betreiben. Dies gelingt wahrscheinlich nur ein Mal und dann nicht wieder. Und so kann die Suche nach neuen Wegen der politischen Bildung auch nicht aussehen.

Theater setzt auch gegen die Augenblicksorientierung der Medien eine andere Wahrnehmung von Zeit. Interessante Versuche, Zeit selbst zum Thema zu machen, haben in den letzten Jahren Jo Fabian oder Christoph Marthaler unternommen. Die Zuschauenden werden dabei zu einer anderen Zeitwahrnehmung geführt. So dehnt Jo Fabian in seinem Stück "Last World Order" [29] einen Vorgang der nur sieben Sekunden dauert auf eine Länge von einer Stunde und achtundzwanzig Minuten. Und Christoph Marthaler beschwört in Stücken wie "Faust Wurzel aus 1 + 2" oder "Stunde Null oder die Kunst des Servierens" "die unermeßlichen Mühen im Kampf mit der stillstehenden Zeit, und entdeckt im Tran des Immergleichen hellwache Momente zwischen Erinnern und Vergessen, Dämmern und Schlaf. [30]

Damit schafft dieses Theater eine andere Wahrnehmung von Zeit. Und es kommt dabei vielen Menschen entgegen, die unter der von außen diktierten Beschleunigung leiden, die immer weniger autonomen Umgang mit der eigenen Zeit erlaubt. In Seminaren vieler Akademien, auch der Landeszentrale, ist das Thema "Zeit" aufgegriffen worden, wurde nach der "eigenen Zeit" gesucht. Denn unser Umgehen mit der Zeit hat sich als eine der Ursachen von Krisenphänomenen der entwickelten Industriegesellschaft, auch der ökologischen Krise, erwiesen. [31]

Theater hat darauf in seiner Weise und mit seinen Mitteln reagiert. Diese schaffen einen sinnlicheren Eindruck von dem , was viele Menschen zwar spüren und ahnen, aber nicht genau benennen können. Manche reagieren auf Aufführungen, wie die oben angesprochenen mit Langeweile, halten die Konzentration auf eine oder wenige Aktionen nicht mehr aus. Für andere aber ist es eine Umsetzung dessen, was sie zwar fühlten, aber noch nicht benennen konnten.

Theater kann also, wenn auf dessen besondere Qualitäten vertraut wird, sehr viel für politische Bildung leisten. Es ist dabei weit mehr als eine "Diskussion unter gebildeten Menschen". Seine Stärke liegt, wie Peter Brook es ausgedrückt hat, darin, daß es "durch die Energie von Klang, Wort, Farbe und Bewegung einen emotionalen Schalter im Menschen (betätigt), wodurch wieder Erschütterungen durch den Intellekt geschickt werden. [32] Auf diese "Erschütterungen" kommt es an. Aufgabe von Kunst ist es immer, sich in unbekanntes Land vorzuwagen, sich auf Expeditionen zu begeben. Im Gegensatz zum Alltagsgeschäft der Politik, die nach dem Machbaren fragen muß. Politische Bildung kann und muß sich aber immer wieder auch ins Niemandsland des noch Unerforschten, Unbekannten vorwagen, auf diesem Weg der Kunst, wenigstens einige Wegstrecken lang nachfolgend.


Anmerkungen:

1) Heiner Müller: Theater ist Krise. Arbeitsgespräch am 16. Oktober 1995. in: Frank Hörnigk, Martin Linzer, Frank Raddatz, Wolfgang Storch, Holger Teschke: Ich Wer ist das Im Regen aus Vogelkot Im KALKFELL. Arbeitsbuch für Heiner Müller. Theater der Zeit. Berlin 1996. S. 140
2) Formen des Theaters sind schon lange im Methodenrepertoire politischer Bildung zu finden. Im Rahmen von Seminaren sind dies z.B. die verschiedenen Möglichkeiten von Rollenspielen und reicht bis zu den wesentlich aufwendigeren Formen des Straßenthaters. Vgl. Günther Gugel (Hrsg.): Praxis politischer Bildungsarbeit. Methoden und Arbeitshilfen. Verein für Friedenspädagogik Tübingen 1993. S. 266 - 285
3) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Programmheft zum 1. Festival "Politik im Freien Theater. Bremen 23.9. - 2.1.1988. S.5
4) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): 2. Festival "Politik im freien Theater" Dresden 28.10. - 7.11.1993. Eine Dokumentation. S.22
5) Pressemitteilung der Bundeszentrale für politische Bildung vom 22.2.1995. Dieser Beitrag wurde im August 1996 abgeschlossen. Auf das 3. Festival in Bremen kann deshalb nicht detailiert eingegangen werden.
6) Friedrich Diekmann hat im Rahmen einer Diskussion beim Dresdener Festival auf diese Schwierigkeit eines Theaters, das aktuelle Streitfragen aufgreifen will, aufmerksam gemacht. vgl.: Bundeszentrale für politische Bildung. (Hrsg.): 2. Festival "Politik im freien Theater. a.a.O. S. 112
7) Peter Brook: Das offene Geheimnis. Frankfurt a.M. 19943. S. 145
8) Ekkehart Krippendorff: Politik in Shakespeares Dramen. Frankfurt a.M. 1992
9) ebd. S. 28
10) Gotthold Ephraim Lessing: Philotas. in: Kurt Wölfel (Hrsg.): Lessings Werke. Frankfurt 19863. S. 278
11) a.a.O.
12) ebd. S. 290
13) Wilhelm Grosse: Philotas. in: ders.: (Hrsg.): Philotas Studienausgabe. Stuttgart 1979. zit. nach: Tübinger Zimmertheater: Philotas. Programmheft zur Aufführung. Premiere 13. Januar 1995. S.10
14) a.a.O. S. 14
15) Bühne und Kostüme wurden von Ilona Lenk gestaltet
16) Thomas Fritz: Sympathie mit Philotas? in: ders.: Materialien zur Philotas-Inszenierung am Deutschen Theater. Berlin 1987. zitiert nach: Tübinger Zimmertheater: Philotas. a.a.O. S. 26
17) Polenweiher. Schauspielprojekt nach einem Volksstück von Thomas Strittmatter. Theater Lindenhof, Melchingen. Unveröffentlichtes Manuskript. 1989
18) Thomas Strittmatter: Der Polenweiher. Volkstheater. Stefanie Hunzinger Bühnenverlag Homburg. o.J., S. i f.
19) siehe Anm.14. Die Inszenierung wurde mehrfach ausgezeichnet und zum 2. Festival "Politik im freien Theater" nach Dresden eingeladen. Die Schauspielerin Dietlind Elsässer wurde dort mit einem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet.
20) Gespräch mit Bernhard Hurm. In: Bundeszentrale für politische Bildung: 2. Festival "Politik im freien Theater". Eine Dokumentation. S. 36
21) Heiner Müller: Theater ist Krise. a.a.O. S. 139
22) Siegfried Schiele: Die politische Bildung ist nicht im Gleichgewicht. in: Siegfried Schiele, Herbert Schneider (Hrsg.): Rationalität und Emotionalität in der politischen Bildung. Stuttgart 1991. S.
23) ders.: a.a.O. S. 9
24) vgl. Frank M. Raddatz; Friedrich Schirmer: Wir sind kein suvbentionierter Tingeltangel. in: Peter Iden (Hrsg.) Warum wir das Theater brauchen. Frankfurt a.M. 1995. S. 23
25) Bertolt Brecht: Schriften zum Theater 1. in: Bertolt Brecht: Werke Bd 15. Frankfurt a.M. 1967. S.264f.
26) Süddeutsche Zeitung v. 13.8.1996
27) Hermann Glaser: Zu kulturellen Dimension der Politik und des Theaters in der Bundesrepublik Deutschland: in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte 20/1992. S. 9
28) George Tabori: Diese große Lebensreise. Gespräch mit Peter v. Becker. in: Theater Heute 5/1994. S.16
29) "Last World Order" wurde im Oktober 1994 als gemeinsame Produktion vom Landestheater Tübingen und Jo Fabians Gruppe "Example dept." herausgebracht.
30) Franz Wille: Ein bißchen Schizophrenie hat noch keinem geschadet. in: Theater Heute 12/1993 S.14
31) vgl. Martin Held, Karlheinz A. Geißler: Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. Stuttgart 1993
32) Peter Brook: a.a.O. S. 123

Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Praktische politische Bildung. Stuttgart 1997, S. 83 - 94.

(c) 1997 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart

sowi-online dankt der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sowie dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zum "Nachdruck" dieses Textes im Internet.

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