Fallmethode und Fallprinzip

Franz-Josef Kaiser

Inhalt

1. Begriffsbestimmung und Zielsetzung
2. Varianten der Fallmethode
3. Verlaufsstruktur des Lernprozesses
4. Die besondere Problematik
5. Literatur
Zum Autor
Weiterführende Literatur

1. Begriffsbestimmung und Zielsetzung

Innerhalb der Wirtschaftsdidaktik hat das Fallprinzip oder die Fallstudienmethode eine lange Tradition. Ihren Ausgangspunkt nahm die Fallmethode in der Hochschuldidaktik der Harvard Business School, wo sie, ausgehend von der Behandlung praktischer Fälle, zu einem geschlossenen Lehrsystem ausgebaut wurde, so dass in der Literatur die Fallmethode gelegentlich auch Harvard-Methode genannt wird (F.-J. Kaiser 1976. 51ff.). Inzwischen wird das "Fallprinzip" unbestreitbar auch als ein geeigneter didaktisch-methodischer Weg angesehen, Ziele des politischen Unterrichts zu erreichen, allerdings nur als eine von vielen methodischen Vorgehensweisen: "Nicht alle wichtigen Probleme aktualisieren sich in einem ,Fall'." (W. Hilligen 1985, 206)

Zur Beurteilung der Kasuistik stellen sich zwei Fragen: 1. Was ist ein "Fall"? Das Paradigmatische und das Besondere weisen ihn als Variation des Allgemeinen aus. Er steht für sich, ist aber auch "ein Fall von" und verweist auf den Zusammenhang, aus dem er herausgenommen wurde. Es gibt unterschiedliche Grade von Verallgemeinerbarkeit eines Falles. 2. Nach welchen Kriterien wählt der Lehrende den "Fall" aus? Wenn man davon ausgeht, dass eine Fallstudie das Besondere und Konkrete in den Mittelpunkt stellt sowie zur Generalisierung und zu allgemeinen Erkenntnissen führt, spielt bei der Auswahl der Fälle das Kriterium, wie weit ein Fall "exemplarisch" für einen allgemeinen Sachverhalt ist und wie gut sich an dem Fall allgemeine Regeln und Kategorien erarbeiten bzw. verdeutlichen lassen, eine entscheidende Rolle.

Darüber hinaus ist für die Auswahl der Fälle besonders bedeutungsvoll, dass sie für die Schüler überschaubare Episoden abbilden, ihnen ein Bezug zu ihren bisherigen Erfahrungen und Einstellungen wie künftigen Lebenssituationen ermöglicht wird, die Fälle konflikthaltig sind und die Schüler zur Stellungnahme und Problemlösung bzw. Entscheidungsfindung herausfordern.

W. Mickel (1980, 151) hebt hervor: "Besondere Aufmerksamkeit im politischen Unterricht verdient die Fallstudie (case-study), das Fallprinzip [. . .]. Ihr Gegenstand ist ein politisch-gesellschaftlicher Konflikt, ein Problem, ein Ereignis (kasuistisches Prinzip) von allgemeiner Relevanz, z. B. die Vorbereitung, Durchführung und Analyse einer Wahl, die Organisationsstrukturen und Willensbildungsprozesse einer Partei, eines Verbandes, die Diskussion um höchstrichterliche Grundsatzentscheidungen usw." Entscheidend für die politische und die sozialkundliche Kasuistik ist, dass die im Unterricht behandelten Fälle nicht als bloßer Einstieg oder Aufhänger dienen, sondern durchgehend Gegenstand des Unterrichts sind.

Ein solches Unterrichtsverfahren erlaubt einen lernorganisatorischen Rahmen der in besonderer Weise geeignet erscheint, komplexe gesellschaftliche Realität am Fall zu analysieren und zu reflektieren.[/355:]

Die spezifische methodische Vorgehensweise des Fallprinzips beruht darauf, dass die Lernenden mit "praktischen Fällen" aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben konfrontiert werden. Im Vordergrund steht dabei in erster Linie die Vermittlung von Strategien zur erfolgreichen Teilnahme am politischen Leben und zur Bewältigung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme und Konflikte. "Bei jedem Fall werden seine politischen, rechtlichen, sozialen, historischen und psychologischen Probleme aufgezeigt und in einen Zusammenhang gebracht." (W. Mickel 1980, 151) Die bloße Vermittlung von Wissen spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.

E. Kosiol (1957, 33) formuliert im Hinblick auf die Fallstudie: "Die Methode der praktischen Fälle fördert das selbständige Kennenlernen von Sachzusammenhängen in hohem Maße, gibt, unabhängig von der Art der Fragestellungen, ständig Impulse zum Nachdenken. Es gilt aufzuspüren, welche noch fehlenden Kenntnisse erworben werden müssen, wo sich Informationslücken befinden und welche Überlegungen anzustellen sind, um die Problemlösung zu finden. Die Aneignung des Wissens und die methodische Einkreisung erfolgt stets in selbständiger Arbeit. Das Diskussionsverfahren entspricht im Gegensatz zur Lern- und Belehrungsschule mehr der Idee der Arbeitsschule." Die Arbeit am Fall geschieht zumeist in Form einer Gruppendiskussion als aktive eigenständige Auseinandersetzung mit dem Problem, die schließlich zur Problemlösung und zu einer Entscheidung führt.

In der Regel wird in Kleingruppen von vier bis sechs Mitgliedern das Fallmaterial studiert, und es werden Lösungsvorschläge erarbeitet, die im Plenum zur Diskussion gestellt werden. Gelernt wird dabei, wie man Problem-, Konflikt- und Entscheidungssituationen analysiert, Informationen sammelt, bewertet, weitergibt, ihren Stellenwert bestimmt, Lexika, Tabellen, Statistiken benutzt, alternative Lösungsmöglichkeiten entwickelt und Entscheidungen trifft.

2. Varianten der Fallmethode

In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Versuchen, die unterschiedlichen Ausprägungsformen von Fallstudien zu typologisieren und deren Varianten zu klassifizieren (M. Perlitz/P. J. Vassen 1976, 1 f.). Im wesentlichen lassen sich vier Haupt- arten unterscheiden (F.-J. Kaiser 1976, 54 f.):

  • Die Case-Study-Method ist sehr umfangreich und stellt Informationsmaterial in großer Menge zur Verfügung. Das Schwergewicht liegt auf der Analyse des vorgegebenen Tatbestandes und im Erkennen der verborgenen Probleme.
  • Die Case-Problem-Method nennt bereits mit der Fallschilderung die Probleme. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Diskussion der gefundenen Lösungswege und der getroffenen Entscheidung.
  • Die Case-Incident-Method stellt den zu bearbeitenden Fall unvollständig und lückenhaft dar, so dass der Prozess der Informationsbeschaffung in den Mittelpunkt rückt.
  • Die Stated-Problem-Method zeichnet sich dadurch aus, dass der gesamte Fall mit Lösungen und Begründungen präsentiert wird. Durch die Fallbearbeitung sollen die Teilnehmer eine Vorstellung von der Entscheidungsstruktur in der Praxis er[/356:]halten, getroffene Entscheidungen kritisch beurteilen und eventuell nach alternativen Lösungsmöglichkeiten suchen.

Fälle, die zumeist in schriftlicher Form präsentiert werden, können sehr unterschiedliche Formen annehmen und so gestaltet sein, dass sie neben Texten auch Tabellen, Diagramme, Symbole, Fotografien, Schaubilder, Karikaturen, Szenarien für Rollen- und Planspiele usw. enthalten. Besonders anschaulich lassen sich Fallstudien gestalten, wenn reale Fälle mit Film oder Video aufgezeichnet und präsentiert werden. Das Handlungsgeschehen der Fallsituation kann so vor Ort eingefangen, die beteiligten Personen können mit ihren Ansichten, Werteinstellungen und kontroversen Standpunkten durch Filmszenen und Interviews live vor Augen geführt werden.

Nicht selten wird in der Sekundarstufe II und der Erwachsenenbildung die Fallanalyse im Rahmen des politischen Unterrichts als sozialwissenschaftliche Studie zur Erforschung gesellschaftlicher Realität eingesetzt. Hier sammeln die Schüler/Teilnehmer als Beobachter im sozialen Feld das Fallmaterial selbst, werten die zusammengetragenen Daten aus, verdichten das Material zu einem Fallbericht und gestalten diesen schließlich durch die Erörterung des Falles und die interpretierende Darstellung zu einer Fallstudie im engeren Sinne. Die Fallstudie als sozialwissenschaftliche Studie, die zugleich Schüler in wissenschaftliche Arbeitsweisen der Sozialwissenschaften einführt, umfasst drei Elemente:

  • die Fallbeobachtung vor Ort: die Wahrnehmung und Betrachtung dessen, was den Fall kennzeichnet;
  • die Falldarstellung: die Beschreibung von Abläufen und Situationen, von Vorgängen und Begebenheiten, die den Fall ausmachen;
  • die Fallanalyse: die Analyse und Interpretation von Merkmalen, Vorgängen und Begebenheiten und die Formulierung von Zusammenhängen und Erkenntnissen, die sich aus dem Fall ergeben (K. Binneberg 1985, 775).

3. Verlaufsstruktur des Lernprozesses

Die Zielsetzung der Fallstudie, Lernende zur Entscheidungsfähigkeit und -bereitschaft zu erziehen, legt eine Strukturierung des Lernprozesses als Entscheidungsprozeß nahe. In Anlehnung an die Konzeption offener Modelle des Entscheidungsverhaltens für den Entscheidungs- und Problemlösungsprozess lässt sich der Ablauf des Lernprozesses der Fallmethode in Phasen darstellen (F.-J. Kaiser 1976, 60ff.):

Konfrontation mit dem Fall Ziel: Erfassen der Problem- und Entscheidungssituation
Information über das bereitgestellte Fallmaterial und durch selbstständiges Erschließen von Informationsquellen Ziel: Lernen, sich die für die Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen zu beschaffen und zu bewerten
Exploration: Diskussion alternativer Lösungsmöglichkeiten Ziel: Denken in Alternativen
Resolution: Treffen der Entscheidung Ziel: Gegenüberstellen und Bewerten von Lösungsvarianten
Disputation: Die einzelnen Gruppen vertreten ihre Entscheidung Ziel: Verteidigen einer Entscheidung mit Argumenten
Kollation: Vergleich der Gruppenlösungen mit der in der Wirklichkeit getroffenen Entscheidung Ziel: Abwägung der Interessenzusammenhänge, in denen die Einzellösungen stehen

Der dargestellte Phasenablauf bei der Fallbearbeitung stellt einen idealtypischen Verlauf dar. Es kann Vor- und Rückgriffe geben, einzelne Phasen können besonders schnell, andere langsam durchlaufen, andere wiederholt oder übersprungen werden.

4. Die besondere Problematik

Ein besonderes Problem liegt bei der Anwendung des Fallprinzips darin, dass jeder einzelne "Fall" exemplarisch entfaltet werden muss und nur schwer Verallgemeinerungen zulässt. Dennoch steht auch die politische oder sozialwissenschaftliche Kasuistik als ein Weg der Erkenntnisgewinnung unter der Zielsetzung, auf methodisch geregelte Weise zu begründeten Erkenntnissen, Urteilen und Entscheidungen zu gelangen (K. Binneberg 1985, 779). Daher ist bei der Fallbearbeitung besonders darauf zu achten, dass der kontextuelle Zusammenhang, der theoretische Bezugsrahmen und das kategoriale Strukturmuster gewahrt bleiben. Unter dieser Voraussetzung übt der Lernende "die Arbeitsweisen der sozialwissenschaftlichen Analyse, Erkenntnis- und Urteilsfindung, lernt die notwendigen Kategorien, Begriffe und Strukturen kennen und wird auf die rationale Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt vorbereitet" (W. Mickel 1980, 152).

Die Frage, wie man durch die Bearbeitung von Einzelfällen zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen gelangt, lässt sich nur dann zufrieden stellend beantworten, wenn das "dialogische Moment" die zentrale Rolle gewinnt. "Im dialektischen Erkenntnisprozess werden die unterschiedlichen Erklärungsmuster, Einschätzungen, Emotionen, Wertungen, die die Gesprächspartner bewegen, zur Sprache gebracht, geprüft, modifiziert, in Frage gestellt, bestätigt und als gemeinsame Wahrheitsfindung genutzt." (F.-J. Kaiser 1983, 18) Die erfolgreiche Arbeit am Fall verlangt. dass insbesondere das Erfahrungswissen und die Alltagstheorien der Schüler neben wissenschaftlichen Kenntnissen und Erkenntnissen aus unterschiedlichen Wissensgebieten zur Problemlösung, Urteilsbildung und Entscheidungsfindung herangezogen werden.

5. Literatur

Binneberg, K.: Grundlagen der pädagogischen Kasuistik, in: Zs. f. Päd.. 6/1985.

Engelhardt, R.: Die "Fallmethode" im politischen Unterricht, in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, 6/ 1966.

Fischer, D. (Hrsg.) (1982): Fallstudien in der Pädagogik. Aufgaben, Methoden. Wirkungen, Konstanz.

Fischer, K. G./Herrmann, D./Mahrenholz, H. (1975): Der politische Unterricht, Bad Homburg.

Hilligen, W. (1985): Zur Didaktik des politischen Unterrichts. Opladen.

Kaiser, F-J. (1976): Entscheidungstraining. Die Methoden der Entscheidungsfindung, Bad Heilbrunn.

Ders. (Hrsg.) (1983): Die Fallstudie. Theorie und Praxis der Fallstudiendidaktik. Bad Heilbrunn.

Kosiol, E. (1957): Die Behandlung praktischer Fälle im betriebswirtschaftlichen Unterricht (Case Method), Berlin.

Mickel, W. W. (1980): Methodik des politischen Unterrichts. Frankfurt.

Perlitz, M./Vassen, P.J. (1976): Grundlagen der Fallstudiendidaktik, Köln.

 

Zum Autor

Franz-Josef Kaiser ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität Paderborn. Email: fkaiser@notes.upb.de.

Weiterführende Literatur:

  • Kaiser, Franz-Josef; Kaminski, Hans (1999): Methodik des Ökonomie-Unterrichts. Grundlagen eines handlungsorientierten Lernkonzepts mit Beispielen. Bad Heilbrunn, 3. Aufl.
  • Kaiser, Franz-Josef; Kaminski, Hans (Hg.) (2003): Wirtschaftsdidaktik. Bad Heilbrunn.

Dieser Text ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Wolfgang W. Mickel (Hg.). 1999. Handbuch zur politischen Bildung, Bonn, S. 354-357.
© 1999 Franz-Josef Kaiser, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
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