Brecht´sche Lehrstücke

Das Brecht'sche Lehrstückmodell

Zu den Brecht'schen Lehrstücken zählen: "Der Flug der Lindberghs", "Das Badener Lehrstück vom Einverständnis", "Der Jasager", "Der Neinsager", "Die Maßnahme", "Die Ausnahme und die Regel" und "Die Horatier und die Kuriatier". Das Lehrstückmodell setzt sich aus der Textvorlage und der Spieltechnik zusammen. Vorgängige Erfahrungen kommen als notwendiges drittes Element hinzu.

Dem Lehrstückmodell unterliegt gegenüber den herkömmlichen Didaktiken politischer Bildung von vornherein ein anderes Erkenntnisprinzip. Nicht die Darstellung, Vermittlung einer Lehre oder Moral ist das Ziel, sondern eine kollektive, systematisierte Untersuchung eines Ausschnittes der Lebenswirklichkeit der Beteiligten. Ein Lehrstückversuch ist also gleichbedeutend mit einem Forschungsprozeß den die Spielenden für sich selbst unternehmen.

Brecht: "Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird."
Textvorlage und verfremdende Spieltechnik (...) sind das entsprechende didaktische Instrumentarium, wenn wir Didaktik jetzt in einem neuen Sinne nicht als eine systematische Vermittlung, sondern als eine systematische Erforschung verstehen. Betrachten wir auf diese Weise eine Lehrstückübung als einen kollektiven Forschungsprozeß, so stellen sich die Fragen: Wie wird dieser Prozeß eingeleitet, worauf richtet er sich und wie wird er strukturiert? (...)

Die Logik der Fabeln ist in allen Lehrstücken mit einer dramatischen Zuspitzung verbunden: Da wird ein Knabe getötet und in eine Schlucht geworfen ("Der Jasager"); ein bereitwilliger, treu ergebener Kuli von seinem Herrn erschossen ("Die Ausnahme und die Regel") oder ein junger Revolutionär von seinen Kameraden erschossen und in eine Kalkgrube geworfen ("Die Maßnahme"). Als künstlich konstruierte sind die Zuspitzungen von vornherein als vermeidbar ausgewiesen. Die tragische Zwangsläufigkeit der klassischen Tragödie ist ihnen genommen. Dieser Aufbau zielt darauf, unter den Spielenden einen Untersuchungsprozeß auszulösen. Von der "Krise" aus wird rückschauend in den sozialen Mustern und typischen Charakteren nach jenem Fehler gesucht, der Ursache für die fatale Entwicklung war.

Reiner Steinweg / Wolfgang Heidefuß / Peter Petsch: Weil wir ohne Waffen sind. Ein theaterpädagogisches Forschungsprojekt zur Politischen Bildung. Frankfurt/M. 1986, S. 45 f., Auszüge.

 

Baal und der Knabe

Straße in der Vorstadt
Vor den Reklameplakaten eines obskuren Kinos trifft Baal, begleitet von Lupu, einen kleinen Knaben, der schluchzt.

Baal: Warum heulst du?
Der Knabe: Ich hatte 2 Groschen für das Kino beisammen, da kam ein Junge und riß mir einen aus der Hand, der da drüben! Er zeigt
Baal zu Lupu: Das ist Raub. Da der Raub nicht stattfand aus Freßgier, ist es nicht Mundraub. Da er anscheinend stattfand für ein Kinobillet, ist es Augenraub. Nichts desto weniger: Raub.
Baal: Hast du denn nicht um Hilfe gerufen?
Der Knabe: Doch.
Baal zu Lupu: Der Schrei nach Hilfe, Ausdruck menschlichen Solidaritätgefühls, am bekanntesten als sogenannter Todesschrei.
Baal streichelt ihn: Hat dich niemand gehört?
Der Knabe: Nein.
Baal: Kannst du denn nicht lauter schreien?
Der Knab: Nein.
Baal zu Lupu: Dann nimm ihm auch den anderen Groschen! Lupu nimmt ihm auch den anderen Groschen und beiden gehen unbekümmert weiter.
Baal zu Lupu: Der gewöhnliche Ausgang aller Appelle der Schwachen.

Bert Brecht: Der böse Baal der Asoziale. Texte, Varianten und Materialien. Hrsg. von Dieter Schmit. Frankfurt/M. 1968.


Spielformen und Arbeitsschritte

Die Seminare sind in vier Hauptphasen unterteilt:

1. Textaneignung

Es beginnt mit Spielen und Übungen zur Sinnes- und Körperaktivierung, die in eine lockere Annäherung an den ausgewählten Lehrstücktext übergehen. Es wird den Teilnehmerinnen und Teilnehnern nicht erlaubt, den Text still für sich zu studieren: Alle lesen laut, indem sie im Raum durcheinandergehen; eine asynchrone Wortmusik entsteht. Nicht-Zusammengehöriges gerät nebeneinander und öffnet Assoziationsfelder. Danach folgen eine bewußte Verknüpfung von Text und subjektivem Erleben, eine persönliche Akzentsetzung und ihre Veröffentlichung in der Gruppe: Jeder sucht sich den Satz, Satzteil oder das Wort aus dem Text heraus, das ihn im Moment am stärksten persönlich berührt, unabhängig vom vermuteten Sinn des Gesamttextes. Diese ausgewählten Satzteile werden mit abgewandtem Gesicht, ganz auf das Hören der Stimmen konzentriert wiederholt gesprochen, "eindringlich" gemacht und schließlich als Ausgangspunkt der einzelnen Teilnehmer auf einem Plakat mit Namensnennung schriftlich festgehalten.

2. Unabgesprochene Versionen

Nun wird weitgehend spontan die ausgewählte Szene dargestellt: Die Spielerinnen und Spieler der verschiedenen Rollen dürfen sich untereinander mit keinem Wort absprechen. Sie müssen sich strikt an den Text, nicht aber an die Regieanweisungen halten. In der anschließenden Feedbackrunde geht es um die Bedeutung, die mit den beobachteten "Äußerlichkeiten" - Körperhaltungen, Bewegungen im Raum, Gesten, Blicke, Tonfälle - verbunden werden. Die jeweiligen Darstellerinnen und Darsteller hören sich zunächst schweigend, ohne Kommentar, Erklärung oder Diskussion an, was die Beobachterinnen und Beobachter wahrgenommen haben. (...) Das "allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Sprechen" (Kleist) braucht vor allem am Anfang viel Zeit (pro Spielszene je nach Gruppengröße 30 bis 60 Minuten). (...)

3. Abgesprochene Versionen

Wurden bis dahin Assoziationen an das wirkliche Leben meist eher in den Beobachtern als bei den Spielern wach, so wird dieses Verhältnis jetzt bewußt umgekehrt. Nach einer Meditation von etwa zehn Minuten darüber, woran die Szene in besonders beunruhigender Weise erinnert, erzählen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in kleinen Gruppen Episoden (Konflikte) aus ihrem eigenen Leben, in denen sie sich selbst oder andere in der einen oder anderen Rolle erlebt haben - im übertragenen Sinne. Dann entwickelt jede Kleingruppe aus diesen Geschichten eine Spielszene, wobei aber wiederum ausschließlich die Worte des Textes von Brecht verwendet werden: Eine erlebte Alltagsszene wird dem Text "unterlegt". Die Rollen können dazu verdoppelt oder verdreifacht (also mehrfach besetzt) werden, je nach Struktur der zugrundegelegten Alltagsszene. (...)

4. Fixierte Version

Nun wird eine der bis dahin gespielten Szenen ausgewählt, auf der Basis folgender Fragen: Mit welcher Figur, die die bisherigen Spielszenen (also nicht nur den Text!) anbieten, sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrem Alltag am häufigsten konfrontiert, gegenüber welcher Figur (welchen Haltungen) bestehen die meisten Fragen, Unsicherheiten, Ohnmachtsgefühle? Diese Figur sollte "fixiert" werden. Und umgekehrt: In welcher Rolle sehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehrheitlich für sich die größte Aufgabe (und Chance), auf ungute, in der einen oder anderen Weise gewaltfördernde Strukturen, Verhältnisse und Verhaltensweisen verändernd einzuwirken? Diese Figur sollte variabel gehalten werden.
"Fixieren" heißt: Die dafür ausgewählte Figur wird (möglichst von demselben Darsteller) wiederholt, genau in der ursprünglichen Anlage, mit den gleichen Haltungen und Tonfällen, in den gleichen oder sehr ähnlichen Positionen gespielt. (...) Das Spiel wird in dieser Form so oft wiederholt, daß alle übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mindestens einmal Gelegenheit haben, die variable Rolle zu spielen. Da die Darstellerinnen und Darsteller der variabel gehaltenen Rolle das Verhalten ihres Konfliktpartners nun also vorher kennen, können sie sich darauf einstellen und unterschiedliche Handlungsstrategien überleben. Bis hierher ist immer wortwörtlich der gleiche Text gespielt worden. (...) Jetzt ist Textänderung erlaubt: Wenn und nur wenn der Spieler der "fixierten" Figur subjektiv, d. h. mit seinem ganzen Gefühl und Verstand überzeugt ist, daß das Verhalten des Spielpartners in der variablen Rolle einen anderen Ausgang als im Text erzwingt (...) dann darf er den Schluß der Szene ändern oder das Spiel abbrechen. (...)
Die fixierten Versionen werden mit hohem Tempo hintereinander und ohne Kommentar gespielt.
Erst wenn alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mindestens eine Handlungsstrategie erprobt haben, findet eine ausgiebige gemeinsame Auswertung im Hinblick auf die Wirkung und den Realitätsgehalt der jeweiligen Szene statt.

Reiner Steinweg: Gewaltphantasien ausagieren. Was Theaterleute für den Frieden tun können. In: Wolfgang R. Vogt / Eckhard Jung (Hrsg.): Kultur des Friedens. Darmstadt 1997, S. 201 f., Auszüge.


Literaturhinweise

Brecht, Bertold: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Werkausgabe. Frankfurt/M. 1973.
Brecht, Bertold: Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt/M. 1996.
Die Stücke von Bertold Brecht in einem Band. 6. Aufl., Frankfurt/M. 1987.
Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972.
Steinweg, Reiner / Wolfgang Heidefuß / Peter Petsch: Weil wir ohne Waffen sind. Ein theaterpädagogisches Forschungsprojekt zur Politischen Bildung. Frankfurt/M. 1986.
Steinweg, Reiner: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis. Mit einem Nachwort "Brecht in Brasilien". Frankfurt/M. 1995.

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