1. Nach der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Wenigers Konzept sollen nun einige zwar immer noch allgemeine, aber doch wenigstens strategische Gesichtspunkte für eine historische Didaktik erörtert werden. Die zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts, so hat sich gezeigt, ist die Rekonstruktion der "Biographie" des gegenwärtigen demokratischen Gemeinwesens. Es geht also um die Frage, wie dieser Staat und diese Gesellschaft, ihre verfassungsmäßigen Prinzipien, ihre charakteristischen Institutionen und Regelungen entstanden sind; welche Ursachen ihrer Entstehung und Entwicklung zugrunde liegen, welche Probleme sie gelöst haben und welche nicht, und welche sie neu geschaffen haben; wer aus welchen Gründen die Gegner des Demokratisierungsprozesses waren und welche entscheidenden Krisen das demokratische Gemeinwesen wie überstanden hat. Ein solcher historischer Unterricht, der an der "Biographie" der gegenwärtigen Gesellschaft orientiert ist und der damit seinen Gegenwartsbezug gleich mitsetzt und ihn nicht durch alle möglichen Spekulationen zusätzlich einführen muss, erklärt nicht nur positiv, "wie es gekommen ist" - was bereits wieder in die Nähe eines "Geschichtsbildes" gelangen würde - , sondern auch kritisch, "warum es nicht anders gekommen ist" bzw. warum und wodurch eine bestimmte Intention oder Bewegung nicht zum Erfolg gekommen ist.
Die letztere, kritische Erklärungsabsicht ergibt sich u. a. aus der Tatsache, dass der Demokratisierungsprozess, wie er etwa zur Formulierung des Grundgesetzes geführt hat, nicht linear-fortschrittlich verlaufen ist, sondern auch in Krisen und teilweise barbarischen Rückschritten, sowie aus der weiteren Tatsache, dass der Demokratisierungsprozess teil- [/ S. 162:] weise erheblich verzögert worden und auch heute noch nicht zu seinem Ende gekommen ist. Dabei steht die Leitvorstellung "Demokratisierung" durchaus selbst zur Diskussion. Wie aktuelle politische Auseinandersetzungen zeigen, z. B. die Diskussion um den Begriff "Emanzipation", gibt es darüber nicht ohne weiteres einen Konsens. Unterschiedliche klassen- und schichtspezifische Erfahrungen und Interpretationen müssen ernst genommen werden, eine bewusste Konvention kann nicht vorausgesetzt werden, sondern wäre gerade u. a. durch Geschichtsunterricht herzustellen und zu ermöglichen. Würde man die historischen Prozesse, die zur gegenwärtigen staatlich-gesellschaftlichen Verfassung geführt haben, unaufgeklärt auf sich beruhen lassen, so würden die spezifisch demokratischen Kriterien der Verfassung zusammenschrumpfen auf formale Regeln für die Bildung und Kontrolle von Macht und für die Austragung von Konflikten. Ohne historisches Bewusstsein müssen über kurz oder lang demokratische Normen und Prinzipien zum Verschwinden kommen.
2. Es geht aber auch um die historische Selbstaufklärung der Individuen zum Zwecke ihrer Mündigkeit, also um die Aufklärung ihrer aktuellen Wünsche, Bedürfnisse, Intentionen, Probleme und Konflikte. Über eine ganze Reihe von für die Gegenwart bedeutsamen historischen Zusammenhängen gibt es immer schon eine Vor-Einstellung oder ein mehr oder weniger diffuses Konglomerat von Vorstellungen. Ganz falsch wäre die Annahme, historisches Bewusstsein müsse vom Nullpunkt an erst aufgebaut und hergestellt werden. Historische Voreinstellungen sind vielmehr - sei es in verbalisierbarer Form, sei es in Form kollektiv-bewusster oder kollektiv-unbewusster Vorstellungen und Einstellungen - immer schon vorhanden und werden im Verlauf der Sozialisation mitgelernt.
Aufgabe der historisch-didaktischen Grundlagenforschung wäre u. a., solche vorhandenen Einstellungen und Vorstellungen genauer zu untersuchen, denn sie müssen ein wichtiger didaktischer Ausgangspunkt sein: Geschichtsunterricht besteht in der Konfrontation dieser Vor-einstellun- [/ S. 163:] gen mit wissenschaftlich-historischen Erkenntnissen und Methoden. Dazu jedoch reichen solche Untersuchungen nicht mehr aus, die sich mit verbalisierbaren historischen Kenntnissen und Vorstellungen befassen. Während es nämlich etwa in den 50er Jahren noch darum ging, durch den Nationalsozialismus geprägte, aber in hohem Maße verbalisierbare und deshalb auch argumentierbare falsche historische Vorstellungen zu korrigieren, hat es heute mehr und mehr den Anschein, als ob überhaupt keine historischen Vorstellungen, Interessen und Kenntnisse bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung und vor allem der heranwachsenden Generation mehr vorhanden seien. Bis in die mittelständische Studentenschaft hinein ist dieser historische Bewusstseinsschwund festzustellen - nicht zuletzt in der weit verbreiteten Unfähigkeit unter sog. "linken" Theoretikern, im Rahmen der historisch-materialistischen Prämissen historisch konkret zu argumentieren.
Jedoch wäre es ein Irrtum anzunehmen, historisches Bewusstsein und historische Vorstellungen könnten einfach ersatzlos ausfallen. Wo früher verbalisierbares historisches Bewusstsein saß, ist nun keineswegs eine Leerstelle. Das Problem ist vielmehr gerade, dass diese scheinbare Leerstelle nun ausgefüllt ist durch der rationalen Argumentation nicht mehr ohne weiteres zugängliche "Selbstverständlichkeiten". Zu diesen gehört z. B. die Vorstellung vom eindimensionalen "Fortschritt", wonach das Frühere eben auch das Schlechtere ist - eine Vorstellung, die durch einen unhistorisch-technologischen Wissenschaftsbetrieb fleißig genährt und geradezu offiziös gemacht wird. Ferner gehören dazu eine Reihe kollektiver Ressentiments und Anteile der herrschenden Ideologien, die überhaupt nur als eine Art von abgesunkenem historischen Bewusstsein erklärt werden können, z. B. gerade für Deutschland typische anti-kommunistische, anti-gewerkschaftliche Komplexe, tiefsitzendes Misstrauen gegen die Arbeiterbewegung und deren Funktionäre sowie gegen die Fähigkeit und Ziele organisierter Arbeitnehmerinteressen; gegen Räteähnliche politische Organisationsmuster und die "Politik der Straße". Jede politische Kontroverse in der Gegenwart enthält solche und andere [/ S. 164:] Anteile von "abgesunkenen historischen Erfahrungen", die das Verhalten bestimmen und als unaufgeklärte der privaten und gesellschaftlichen Vernunft im Wege stehen. Sie haben eher die Qualität von kollektiven Ängsten angenommen, als dass sie sich wie früher in verbalisierbaren "Geschichtsbildern" artikulieren könnten. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch die Analyse von solchen Produkten der Unterhaltungsindustrie, die auf historischen Stoffen beruhen, und deren Beliebtheit ja nicht zuletzt darauf basiert, dass sie beim Publikum eine bestimmte Vorstellungswelt ansprechen.
3. Didaktische Ansatzpunkte für den historischen Unterricht sind also einerseits die wie auch immer konfusen, unaufgeklärten historischen Vorstellungen der im Unterricht agierenden Lehrer und Schüler, andererseits die Biographie der staatlich-gesellschaftlichen Verfassung selbst, soweit sie jedenfalls die gegenwärtigen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen unausgesprochen oder ausgesprochen mit bestimmen. Solche Vorstellungen werden durch Konfrontation mit historisch-wissenschaftlichen Forschungen und Ergebnissen in wenn auch reduzierter und exemplarischer Form bearbeitet. Die Lernchancen sind also in der Differenz zwischen den subjektiven Vorannahmen und Voreinstellungen einerseits und den einschlägigen objektivierten wissenschaftlichen Verfahren und Produktionen andererseits angelegt. So früh wie möglich, d. h., wie es der Bildungsgang erlaubt, sollte dies sich auch durch die "Begegnung mit den Originalen" ausdrücken. In den unteren Bildungsstufen muss der Lehrer wie eh und je den objektiven Aspekt in geeigneter Weise repräsentieren und vermitteln. Systematische Lehre bleibt weiterhin nötig, aber die Notwendigkeit zur Reduktion der Komplexität muss sich rechtfertigen gegenüber der Forderung nach einer angemessenen Vermittlung von Subjektivität und Objektivität.
Nun reichen alle diese Vorüberlegungen nicht aus, eine unstreitige Stoffauswahl und einen eindeutigen Katalog von Lernzielen zu deduzieren. Derartige Hoffnungen haben sich auch für den politischen Unterricht in den letzten Jahren [/ S. 165:] zerschlagen. Die umfangreichen curricular orientierten Legitimationsversuche etwa in den neuen Hessischen und Nordrhein-westfälischen Richtlinien konnten sich zwar teilweise konkretisieren, aber zu deren Lernziel- und Stoffvorschlägen ließen sich auch unter Berücksichtigung der dafür gesetzten allgemeinen Prinzipien eine Reihe logisch gleichwertiger Alternativen finden. Mit anderen Worten: Das Problem der unterrichtlichen Konkretion ist nur dadurch zu lösen, dass man den offensichtlich nicht weiter einzugrenzenden Unbestimmbarkeitsspielraum zwischen den leitenden Prinzipien und der Konkretisierung durch pragmatische Konventionen ausfüllt.
Überhaupt ist ja die Erwartung, in unseren Schulen müsse überall in denselben Jahrgängen das gleiche gelernt werden, eine fixe Idee der Schulverwaltungen. Es ist jedenfalls nichts, was in einem erkennbaren Interesse der Selbstaufklärung der Schüler bzw. der Aufklärung des Gemeinwesens läge. Auch im Sinne einer notwendigen didaktischen Reihenfolge, dass man erst dieses lernen müsse, um dann jenes verstehen zu können, führen derartige Konkretisierungen nicht weiter. Auch die Psychologie der Altersstufen gibt dafür weniger her, als man lange angenommen hat, und auch die moderne Lernpsychologie kann dafür allenfalls allgemeine Hinweise geben. Selbst die Spekulation auf die Motivationen der Schüler und auf ihre jeweiligen Lerninteressen bringt nicht viel ein, weil erstens "Motivationen" und "Interessen" sehr plastische und daher anpassungsfähige Persönlichkeitsvariablen sind und weil zweitens die Aufgabe des Schulunterrichts nicht nur sein kann, vorhandene Motivationen und Interessen zu befriedigen, sondern auch, durch Konfrontation mit diesen neue bzw. präzisierte entstehen zu lassen. Ein Schulunterricht, der allzu naiv auf die vorhandenen Motivationen setzt, macht diese nur parasitär und verhindert ihre Herausarbeitung und Entfaltung. Nur in dem Maße, wie sie mit objektiven Ansprüchen konfrontiert werden, werden sie auch ernst genommen. Die für historische Bearbeitungen nötigen intellektuellen Fähigkeiten sind zumindest nicht größer, als sie für viele Fächer ganz selbstverständlich gefordert werden. Würde man sich [/ S. 166:] für den historischen Unterricht von der Vorstellung lösen, es komme dabei wesentlich auf "Gesinnungsbildung" oder "Gemütsbildung" oder auf ein bestimmtes "Verhalten" an, dann fiele es auch leichter, die kognitiven Chancen deutlicher zu machen und ungenierter zu nutzen.
Nur im Sinne einer zweckmäßigen pragmatischen Vereinbarung, und nicht als Deduktion aus einer unbestreitbaren Theorie, lässt sich die an und für sich unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten und Variationen für den historischen Unterricht auf vier miteinander zusammenhängende didaktische Leitgesichtspunkte eingrenzen, die man vielleicht als ein allgemeines didaktisches Strukturmuster ansehen könnte:
- den wissenschaftlich -formalen Aspekt;
- den ereignisgeschichtlich-analytischen Aspekt;
- den strukturgeschichtlich-synthetischen und schließlich
- den aktuell genetischen Aspekt.
4. Von der Bedeutung der formalen Aspekte für die öffentliche Legitimierbarkeit des Geschichtsunterrichts war schon die Rede. Diese Aspekte lassen sich vielleicht folgendermaßen operationalisieren:
- Zwischen der Erkenntnis von Tatsachen und dem Spielraum der Interpretation dieser Tatsachen unterscheiden lernen;
- lernen, dass die Interpretation von historischen Tatsachen und Ereignissen zwar standort- und interessengebunden ist, sich aber gleichwohl dem Anspruch der Wahrheit aussetzen muss;
- die Bedeutung und unterschiedliche Aussagefähigkeit von Quellen erkennen lernen.
Dies wäre ein Minimalkatalog, der realisierbar ist, wenn man bedenkt, dass diese formalen Kriterien durchaus aus der unmittelbaren Lebenserfahrung der Schüler erklärt werden können. Nicht fremd ist ihnen die Erfahrung, dass es einen Unterschied zwischen Tatsachen und ihren Interpretationen gibt; dass man geneigt ist, Interpretationen so vorzunehmen, dass sie einem "in den Kram passen"; dass z. B. eine offizielle Erklärung des Schulleiters eine andere "Quell- [/ S. 167:] enqualität" hat als die Ansichten der Freunde über die Schule usw. Wahrscheinlich ist es sehr viel leichter, solche formalen Aspekte zu begreifen, als komplexe historische Ereignisse zu erfassen.
5. Im Hinblick auf die "Biographie" der staatlich-gesellschaftlichen Verfassung lässt sich eine Reihe von historischen "Schlüsselereignissen" als besonders relevant für die Bearbeitung im Unterricht vereinbaren, und zwar solche, die einerseits für die gegenwärtige historische Lage wichtig gewesen sind, und die andererseits deutlich die allgemeine Konfliktlage zwischen demokratischen und antidemokratischen Tendenzen und Interessen bzw. - falls diese Entgegensetzung zu problematisch erscheint - zwischen unterschiedlichen Interessenlagen und Konzeptionen überhaupt widerspiegeln. Zu einem solchen "Ereignis-Kanon" können etwa gehören: Die Französische Revolution; die Stein-Hardenbergschen Reformen; das Jahr 1848; das Sozialistengesetz; die Bismarcksche Sozialpolitik; der Erste Weltkrieg; die Russische Revolution; die Deutsche Revolution 1918/19 und die Entstehung der Weimarer Republik; die Weltwirtschaftskrise; die nationalsozialistische Machtergreifung; die Nürnberger Gesetze; der Zweite Weltkrieg; das Potsdamer Abkommen. Manches spräche dafür, auch noch Ereignisse vor der Französischen Revolution mit einzubeziehen, z. B. die Reformation, die Bauernkriege, den Dreißigjährigen Krieg usw. Auch solche Ereignisse könnten mit guten Gründen als wichtig für die "Biographie" der demokratischen Verfassung angesehen werden. Jedoch ist noch einmal zu betonen, dass es für die Auswahl einer solchen Ereignis-Kette kein hinreichend konkretisierbares Prinzip gibt.
Aber nicht nur die Zahl solcher Schlüsselereignisse ließe sich vermehren, sofern die begrenzte Zahl der dafür zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden dies zulässt; vielmehr wären auch andere "Klassen" von Ereignissen nicht weniger plausibel, z. B. schulpolitische, wie die preußischen Regulative und das preußische Volksschulunterhaltungsgesetz von 1906, sowie weitere Daten aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Je nachdem, welche Position jemand im histori- [/ S. 168:] schen Kontext des Demokratisierungsprozesses und in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen einnimmt, wird er auch eine bestimmte Ereignis-Reihe favorisieren.
Solche unterschiedlichen Konzeptionen lassen sich zwar rational diskutieren, spiegeln sie doch nur aktuelle ideologische Kontroversen wider, aber es hätte wenig Sinn, für den Schulunterricht auf Durchsetzung dieser oder jener Position zu setzen. Vielmehr muss der Schulunterricht der Pluralität einander widerstreitender, im Rahmen des Grundgesetzes zulässiger demokratischer Konzeptionen und Interessenlagen Rechnung tragen. Daraus folgt, dass durch Richtlinien nur ein Teil der Ereignisse zur Behandlung im Unterricht vorgeschrieben werden kann, dass weitere zur Disposition der "pädagogischen Basis" gestellt werden müssen. Mit anderen Worten: Staatliche Richtlinien können nur Kompromisse anbieten, und sie sollten sich davor hüten, sich darüber hinaus eine prinzipielle inhaltliche Legitimation zu geben.
6. Nun sind "Ereignisse" in der eben beschriebenen Form in zweierlei Hinsicht noch unscharf definiert. Erstens hinsichtlich ihres Umfanges, denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich immer schon um einen Komplex bzw. um eine Sequenz von Ereignissen handelt. Diese Schwierigkeit gilt jedoch für die Bearbeitung politischer Konflikte im Unterricht genauso und kann nur im konkreten Unterricht selbst definitorisch gelöst werden, im Sinne einer genaueren Bestimmung der gemeinsamen Aufgabe. Zweitens ist noch unklar, was "Bearbeitung" dieser Ereignisse eigentlich heißen soll. "Bearbeiten" heißt, begründete Fragen stellen an einen Sachverhalt bzw. an seine Interpretation. Sind solche Fragen prinzipieller Art, d. h. können sie sinnvoll immer wieder an Gegenstände mit gemeinsamen Merkmalen, z. B. an historische Ereignisse, gestellt werden, so handelt es sich um Kategorien. Welche Fragen man stellen will, hängt von dem Interesse ab, das man einem bestimmten Gegenstand gegenüber hat. Insofern kann die Auswahl von Kategorien mit einer gewissen Beliebigkeit erfolgen. [/ S. 169:] Sehr viel weniger beliebig - weil auf dem Spielraum der formalen methodischen Regeln festgelegt - ist die Beziehung von Frage (Kategorie) und Antwort. Die Beliebigkeit der Kategorien-Wahl wird jedoch weiter eingeschränkt und zugleich genauer determiniert durch die für den historischen Unterricht angenommenen Leitvorstellungen (Bearbeitung der individuellen historischen Vorstellungen einerseits und Bearbeitung der historischen Biographie der demokratischen Verfassung mit dem Ziel ihrer weiteren Realisierung andererseits). Unter diesem Aspekt nämlich müssen im Prinzip die gleichen Kategorien auch für historische Ereignisse relevant sein, die für die Analyse gegenwärtiger politischer Konflikte Geltung beanspruchen können. Die Verwendung gleicher Kategorien gäbe zudem die Möglichkeit, den politischen Unterricht mit dem historischen strukturell zu verbinden.
Ich schlage also vor zu prüfen, ob die von mir für den politischen Unterricht entwickelten Kategorien (Macht; Recht; Solidarität; Ideologie; Konkretheit; Konflikt; Mitbestimmung; Funktionszusammenhang; Geschichtlichkeit; Menschenwürde) (13) nicht auch die grundlegenden analytischen Kategorien für die Bearbeitung der historischen "Schlüsselereignisse" sein könnten. Lediglich die Kategorie des subjektiven "Interesses" ließe sich nicht unmittelbar, sondern nur hypothetisch verwenden, etwa in dem Sinne: Welche Stellung hätte ich (der Schüler) damals eingenommen, und was wäre mein Interesse gewesen? Diese Kategorien - ihre mögliche Modifizierung schließe ich jetzt mit ein - scheinen mir auch den historisch-wissenschaftlichen Analysen zugrunde zu liegen, sind also insofern "eigenständige", keine unzulässig pädagogisierten Kategorien. Die Chance ihrer didaktischen Verwendung bestünde nicht nur darin, dass zwischen historischem und politischem Unterricht vermittelt werden könnte, sondern auch darin, dass einerseits zwischen der objektiven und subjektiven Aufgabe des Geschichtsunterrichts und andererseits zwischen Gegenwart und Geschichte vermittelt werden könnte. Diese Kategorien sind nämlich Leitfragen von heutigen Individuen, gerichtet an den objektiven Prozess der, staatlich-gesell- [/ S. 170:] schaftlichen Demokratisierung, und zwar so, dass sie nur vom Standpunkt des jeweiligen historischen "Schlüsselereignisses" her bearbeitet und beantwortet werden können. Wäre also eine solche Verwendung von Kategorien möglich und akzeptierbar, dann ergäbe sich die Aussicht, den Komplex des historischen und politischen Unterrichts einerseits für die Erkenntnisfähigkeit der Schüler reduziert genug, andererseits aber auch differenziert und "materialtreu" genug zu organisieren.
7. Für den historischen Unterricht stellt sich dasselbe Problem wie für den politischen Unterricht, nämlich wie man von einer Analyse politischer Konflikte bzw. von historischen Ereignissen zu einem Vorstellungszusammenhang über die Gesamtgesellschaft gelangen kann. Dies ist nicht einfach induktiv möglich, nämlich so, dass man die Konfliktanalysen nur genügend weit verlängert. Vielmehr muss die gesamtgesellschaftliche Struktur unmittelbar in den Blick genommen werden. Dafür bietet sich im Geschichtsunterricht die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise an. Deren Modelle sind nicht nur nützlich für den Komplex "Gesamtgesellschaft" (z. B. Feudalismus; Frühkapitalismus; Spätkapitalismus), sondern auch für die Entwicklung gesellschaftlicher Teilbereiche (z. B. "Familie", vom "ganzen Haus" bis zur gegenwärtigen Kleinfamilie). Allerdings sind sie auch nicht unproblematisch, weil sie die Faszination des definitiv und knapp und bündig Erkannten auszustrahlen vermögen, während sie tatsächlich jedoch nur idealtypische Konstrukte und Abstraktionen sein und sich erst durch die Analyse von Ereignissen mit Leben füllen können. Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie verführerisch bis hin zum Verlust jeder Art von historischer Sensibilität solche Modelle wirken können, und schon aus diesem Grunde kann es nur um die Kombination und wechselseitige Ergänzung von ereignisgeschichtlichen und strukturgeschichtlichen Betrachtungen gehen.
8. Einen weiteren wichtigen Zugang zu historischen Prozessen bietet die politisch-didaktische Kategorie der "Ge [/ S. 171:] schichtlichkeit" bei der Analyse aktueller politischer Konflikte, die dadurch in ihrer historischen Genese rekonstruiert werden. Lange Zeit schien dieser aktuell-genetische Aspekt der einzig notwendige zu sein, weil er auf lange Sicht zu erweisen schien, welche historischen Fakten und Traditionen für die Einsicht in gegenwärtige und zukünftige Probleme benötigt würden. Jedoch hat sich nicht zuletzt in der Diskussion neuer Richtlinien gezeigt, dass allein von diesem Zugang her die historischen Rekonstruktionen keine Tiefe gewinnen, keinen eigenständigen Argumentationszusammenhang abgeben können. Historische Informationen würden einseitig in Dienst genommen für aktuelle Erkenntniszwecke, ohne dass sie auch zu deren kritischer Gegen-Instanz werden könnten. Bewiesen würde sozusagen immer nur noch einmal, was vorher schon klar ist.
9. Die hier vorgeschlagene Mehrdimensionalität des Geschichtsunterrichts macht auch den Weg frei für neue unterrichtsmethodische Varianten. Die von Erich Weniger vertretene Konzeption bot da wenig Variationsmöglichkeiten, kaum mehr als den Frontalunterricht des Lehrers. Nun geht es aber nicht mehr nur um die optimale Vermittlung historischer Stoffe, sondern auch um die Bearbeitung individueller und kollektiver, d. h. ideologisch gewordener gegenwärtiger Vorstellungen über historische Ereignisse und Zusammenhänge sowie um den Umgang mit Originalmaterial. Nicht nur steht z. B. zur Debatte, wie die nationalistische Machtergreifung wirklich gewesen ist, sondern auch, wie sie in der nicht-professionellen öffentlichen Diskussion, in programmatischen politischen Erklärungen etwa oder in aktuellen politischen Begründungszusammenhängen erscheint. Unter diesen Umständen bieten sich auch neue unterrichtsmethodische Variationen an, ohne dass sie krampfhaft inszeniert werden müssten, z. B. für recherchierende Kleingruppen, so dass sich der historische Unterricht auch methodisch dem politischen Unterricht weitgehend annähern könnte (14).
[/ S. 172:]
10. Die hier vorgeschlagene Mehrdimensionalität von ereignisgeschichtlich-analytischen,
strukturgeschichtlich-synthetischen, und aktuell-genetischen Aspekten einerseits und von individuellen bzw. kollektiven
gegenwärtigen Vorstellungszusammenhängen andererseits mag zunächst deshalb unbefriedigend erscheinen, weil sie
nicht zu einer überzeugenden "Theorie des Geschichtsunterrichts" integriert ist. Ähnliche Vorwürfe sind
auch immer schon gegen meine didaktische Konzeption des politischen Unterrichts erhoben worden, ohne dass es bisher gelungen
wäre, das Bemühen nach einheitlicher und systematischer didaktischer Theorie entscheidend weiterzutreiben.
Meine Ansicht ist, dass didaktische Theoriebildung unter den gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von einem bestimmten Punkt der Perfektion an ins Gegenteil umschlägt, nämlich entweder zu blutleeren technologischen Unterrichtsprojekten führt, oder aber das verbaut, was da vermittelt werden soll. Didaktische Theorien müssen sich deshalb wohl bescheiden, mehr oder weniger pragmatische Konstrukte mit "mittlerer Reichweite" zu bleiben. Für den Geschichtsunterricht heißt das, dass ein in sich zusammenhängendes Geschichtsbild im staatlich monopolisierten Schulwesen nicht mehr verbindlich gemacht werden kann. Lediglich gesellschaftliche Partikularitäten wie Kirchen oder Gewerkschaften können ihren Anhängern noch eine solche Gesamtinterpretation in ihren eigenen außerschulischen Bildungsveranstaltungen anbieten. Die Schule jedoch hat es mit parteilich-konkurrierenden Interpretationen zu tun, nicht nur mit politischen, sondern auch mit wissenschaftlichen. Daraus folgt, dass sich die didaktischen Überlegungen auf die Modalitäten der intellektuellen Bearbeitung, also auf die subjektive Seite der Lern- und Studierprozesse, verlagern müssen. Die Organisation der intellektuellen Arbeitsprozesse hat Vorrang vor der Planung der Endergebnisse, das Geschichtsbild als Inbegriff der in sich plausibel strukturierten historischen Vorstellungen kann nur das Ergebnis des je subjektiven Lern- und Studierprozesses selbst sein. Es kann und darf nicht curricular antizipiert werden. Ein moderner Geschichtsunterricht kann [/ S. 173:] nicht "einheitlicher" sein, als es die moderne internationale Geschichtswissenschaft selbst ist, und man sollte sich endlich - und nicht nur im Fach Geschichte - von der Vorstellung befreien, in die Schule dürfe nur das Unumstrittene Einzug halten. Das Umstrittene als eben dieses im Unterricht zu behandeln und es auf eine konsensfähige Weise zu behandeln, ist eines demokratischen Staates und einer staatlich monopolisierten Schule durchaus nicht unwürdig.
11. Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf einen politisch begründeten Geschichtsunterricht, der als solcher kaum hinter die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zeitlich zurückgehen kann. Darin liegt eine Einseitigkeit, die zum Schluss wenigstens noch angedeutet werden soll. Historischer Unterricht ließe sich nämlich nicht nur begründen aus der politischen Partizipation - wovon in diesem Artikel die Rede war - , sondern auch aus der kulturellen Partizipation. Historische Tradition begegnet uns ja auf mannigfaltige Weise: Der Tourismus z. B. schafft Begegnungen mit den Zeugnissen verschiedener Kulturen und gesellschaftlicher Formationen und mit Lebensauffassungen, die sich von den unseren unterscheiden. Das Fernsehen berichtet über Minderheiten, die früheren und uns auf Anhieb völlig unverständlichen Kulturen angehören. Und das Verständnis für Gastarbeiter in unserem Lande wäre sicher größer, wenn wir wenigstens eine Ahnung von deren spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen hätten. Aber vielleicht wäre dies eher eine Aufgabe für die historischen Dimensionen anderer kultureller Fächer in der Schule.