Sokratische Gespräch - Eine Methode der diskursiven Begriffsklärung

Susanne Popp

Inhalt

Kurzbeschreibung
1. Beschreibung der Methode "Sokratisches Gespräch"
1.1 Die Konzeption
1.2 Die Gestaltung
1.3 Abgrenzung zu anderen Verfahren
2. Herkunft und Entwicklung des "Sokratischen Gesprächs"
3. Typische Anwendungsfelder
4. Hinweise zur praktischen Umsetzung
5. Literatur
5.1 online-Literatur

 

Kurzbeschreibung

Ein "Sokratisches Gespräch" ist ein von einer ausgebildeten Leitung betreutes Gruppengespräch mit sechs bis zehn TeilnehmerInnen, das der gemeinschaftlichen Klärung von konkret bestehenden, oft aber unreflektiert gebrauchten Begriffskonzepten des Alltagswissens dient, die für die weltanschaulich-philosophische, moralische und politische Orientierung der TeilnehmerInnen grundlegend sind. Man verfährt argumentativ und strebt im Ergebnis einen Konsens an. In der Tradition der von Platon überlieferten "Sokratischen Dialoge" beginnt die Reflexion bei konkreten Beispielen der Alltagserfahrung. Daran anknüpfend setzen die TeilnehmerInnen in einem regelgeleiteten Verfahren ihre bestehenden Auffassungen der Überprüfung in der Gruppe aus, um schrittweise zu einem Konsens der Auffassungen in der anstehenden Frage zu gelangen. Entscheidend sind dabei eine symmetrische, auf Gleichberechtigung aller Beteiligten beruhende Kommunikationsstruktur, der Verzicht auf Belehrung und Autoritäten, die Bereitschaft, die eigenen Auffassungen der Kritik zu stellen, und das redliche Bemühen um klare Argumentation und wechselseitige Verständigung. Die Gruppe soll eine Gemeinschaft zur gegenseitigen "Denkhilfe" bilden.

Zentrale Anliegen des Verfahrens sind die Förderung selbstständigen Denkens und der Fähigkeiten, logisch-sachbezogen zu argumentieren und klar zu formulieren, die Verbesserung der Kompetenzen für symmetrische, problem- und lösungsorientierte Kommunikation mit ihren ethisch-moralischen Voraussetzungen sowie die Stärkung der Orientierungssicherheit wie auch des Vertrauens in die eigene Vernunft und die Möglichkeit vernünftiger gemeinschaftlicher Lösungen. Die Hauptanwendungsfelder sind die Hochschuldidaktik und die Erwachsenenbildung.

1. Beschreibung der Methode "Sokratisches Gespräch"

1.1 Die Konzeption

Die Grundgedanken des im 20. Jh. von Leonard Nelson begründeten und insbesondere von Gustav Heckmann und Detlef Horster fortentwickelten Gesprächsverfahrens zur dialogischen Klärung grundlegender philosophisch-moralischer und politischer Begriffe beziehen sich auf die mäeutische Methode der Erkenntnisgewinnung des antiken Philosophen Sokrates, wie sie in den von Platon überlieferten Dialogen tradiert ist. Dabei knüpft man im Wesentlichen an folgende Aspekte an:

  • Die Verbindung von Theorie und Praxis: Dies meint zum einen die Prüfung von bestehenden Begriffen an der konkreten Erfahrung, zum anderen die von konkreten Beispielen ausgehende induktive Rekonstruktion abstrakter Begriffe, des weiteren die Verankerung der Fragestellungen in der Lebenspraxis und die Arbeit an und mit persönlichen Erfahrungen und Alltagsüberzeugungen. Schließlich ist hiermit auch die Überzeugung angesprochen, dass die Erkenntnisgewinnung nicht unabhängig von der Struktur und Qualität der sozialen Prozesse zu denken ist, in denen sie sich vollzieht.
  • Erkenntnisgewinnung im Dialog: Der Erkenntnisprozess beginnt mit der Aufdeckung von falschen Urteilen und Scheinklarheiten durch das systematische In-Zweifel-Ziehen von bestehenden Gewissheiten, bis kein plausibler Einwand gegen bestehende Hypothesen mehr möglich erscheint. Der gemeinsame, wechselseitig kritische Denkprozess von gleichberechtigten GesprächsteilnehmerInnen kontrolliert und überwindet die Begrenztheit der individuellen Perspektiven und hilft jene Barrieren für die "Wahrheitsfindung" zu überwinden, die einerseits im subjektiv für verlässlich gehaltenen Wissen und andererseits in der Abwehr liegen, die eigene Auffassung der Kritik zu stellen. Dabei sichert das Merkmal der Konsensorientierung unter anderem die symmetrische Kommunikationsstruktur. Denn es soll sich nicht eine der bereits bestehenden Meinungen gegen andere durchsetzen, sondern eine gemeinsame Auffassung erarbeitet werden, mit der jede(r) Teilnehmer(in) Einsichten verbinden kann, die ihm/ihr allein nicht zugänglich gewesen wären.
  • Die Notwendigkeit selbstständigen kritischen Denkens: Man schließt Belehrung und Autorität aus und setzt auf die ausschließlich vernunftgeleitete, argumentierende Prüfung von Hypothesen und Interpretamenten, was Unabhängigkeit des Denkens sowie Mut, Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik und zur produktiven Auseinandersetzung mit Fremdkritik erfordert.
  • Die ethisch-moralischen und kommunikativen Kompetenzen eines erkenntnis- und verständigungsorientierten Dialogs: Hierzu zählen die Anerkennung aller TeilnehmerInnen als gleichberechtigt, die Einhaltung von Normen der Gesprächsgestaltung, die Verpflichtung auf begründungs- und verständigungsorientiertes Argumentieren und präzises Formulieren, das Engagement für das Gelingen des Gruppenprozesses und die Bereitschaft, die eigenen Auffassungen authentisch in den Gruppenprozess einzubringen und für die Kritik zu öffnen. Hier fungiert das Streben nach Konsens als Ausschluss der Möglichkeit für eine Mehrheit, die Minderheit zu übergehen.

Für Nelson, Heckmann und Horster bilden die mit dem "Sokratischen Gespräch" verbundenen Tugenden, Einstellungen und Kompetenzen eine wichtige Grundlage politischen Handelns in der Demokratie, die nicht nur für die humane, gewaltfreie Gestaltung menschlichen Zusammenlebens, sondern auch für eine vernünftige Lebensgestaltung von Individuen von fundamentaler Bedeutung sind. Insbesondere gilt es, den Abbau von Fremdbestimmung, das "Selbstvertrauen in die Vernunft" (Nelson) und die Zuversicht in die Möglichkeit vernünftiger Lösungen zu fördern und zu stärken. Indem die Prinzipien der Gleichheit, Solidarität, Partizipation, der gewaltfreien Konfliktaustragung, der Rationalität und Kritik im Vollzug realisiert werden sollen, versteht sich das Konzept des "Sokratischen Gesprächs" als Beitrag zu politischer Bildung und Demokratie. Es weist Bezüge zu der von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas in den 70er Jahren entwickelten Diskurstheorie auf (vgl. Krohn/Neißer/Walter 1996).

Als Verfahren der politischen Bildung (in erweitertem Sinne) stellt sich das "Sokratische Gespräch" dem grundlegenden, so etwa auch von Kant diskutierten Grundproblem der aufgeklärten Erziehung und Bildung, wie man durch äußere Einflussnahme (Fremdbestimmung) auf die Entfaltung von "Selbstbestimmung" hinwirken könne. Das neosokratische Gesprächsmodell setzt an die Stelle von Belehrung einen Gruppenprozess, der unter der Führung einer in den Denkprozess nicht eingreifenden Leitung die Funktion einer "Geburtshilfe" (Mäeutik) für den selbstständigen Gebrauch der Vernunft der Einzelnen erfüllen soll.

Die philosophischen Positionen von Nelson und sein Vernunft- und Erkenntnisbegriff müssen heute weitestgehend als überholt gelten, doch zeigt nicht nur Horster (1994), dass die Grundanliegen der Methode auch mit den neuen philosophischen Paradigmata kompatibel sind.

1.2 Die Gestaltung

Nelson bezeichnete die bestimmende Struktur des von ihm begründeten "Sokratischen Gesprächs" als "regressive Abstraktion", womit er das Erkenntnisverfahren vom induktiven unterscheiden wollte, dem es prinzipiell sehr nahe steht. Die Differenz liegt darin, dass nicht die Gewinnung grundsätzlich neuer Erkenntnisse das Ziel ist, sondern die klärende Prüfung und Fortentwicklung bestehender alltagsrelevanter Auffassungen und "irgendwie" erworbener Überzeugungen. So befassen sich die Themen im Allgemeinen mit grundlegenden, erfahrungsrelevanten Fragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens und der philosophischen und moralischen Orientierung in der Gegenwart (z. B. "Was heißt Gerechtigkeit?"). Den Ausgangspunkt bilden stets konkrete Erfahrungsbeispiele. Aus den Erfahrungskontexten präpariert die Gruppe, die im Allgemeinen zwischen sechs und zehn TeilnehmerInnen umfasst, die ihr wesentlich erscheinenden Begriffselemente und untersucht sie kritisch auf ihre Konsistenz, Implikationen und Geltungsbereiche. In einem schrittweise sich vollziehenden Prozess bewegt sich die Gruppe unter stetiger Prüfung aller vorgebrachten Einwände auf die Formulierung von konsensfähigen vorläufigen Verallgemeinerungen und schließlich auf eine gemeinsame Antwort zu, die grundsätzlich als Ergebnis der jeweiligen Gruppe, nicht als letztmögliche Wahrheit verstanden wird. "Es geht nicht darum, eine Aussage zu finden, die für alle Menschen zu allen Zeiten gültig ist." (Horster 1994, 97). Bei Heckmann und Horster unterscheidet man zwischen der Ebene des Sachgesprächs und einer metakommunikativen Ebene, auf der sich die Gruppe über ihren Prozess verständigt.

Die praktische Durchführung eines "Sokratischen Gesprächs" folgen einem typischen Schema, das Horster dargestellt hat (vgl. Horster 1994, 55-65):

  • Einstieg: Vorgabe eines Beispiels oder Sammeln von Beispielen aus der (Alltags-)Erfahrung.
  • 1. Schritt des Abstraktionsverfahrens: Ein von den Beispielen ausgehendes Sammeln von "Meldungen" zu Eigenschaften oder Gründen für den in Frage stehenden Sachverhalt; schriftliche Fixierung durch die Gesprächsleitung. (Nachfragen zur Verständigung sind erlaubt, doch findet noch kein Disput über unterschiedliche Meinungen statt.)
  • 2. Schritt des Abstraktionsverfahrens: Zusammenfassung und Ordnung der "Meldungen".
  • (Erörterung von Gründen für oder gegen die Zusammenfassen verschiedener "Meldungen" unter einem Oberbegriff; wobei Konsens hergestellt werden muss; schriftliche Fixierung).
  • 3. Schritt des Abstraktionsverfahrens: Suche nach weiteren Beispielen auf der Grundlage der erarbeiteten Merkmale. (Leitfrage: "Fehlt noch etwas?").
  • 4. Schritt des Abstraktionsverfahrens: Unterscheidung von zufälligen, notwendigen und hinreichenden Eigenschaften. (Leitfragen z. B.: "Welche der genannten Eigenschaften ist an jedem denkbaren Sachverhalt erkennbar?" Konsens; schriftliche Fixierung).
  • 5. Schritt des Abstraktionsverfahrens: Erarbeitung von wesentlichen Kriterien für die Begriffsbestimmung. (Leitfrage z. B.: "Wodurch kann ich den gesuchten Sachverhalt von jedem beliebig anderen unterscheiden?").

Als wichtigste Regeln, die die TeilnehmerInnen des Sachgesprächs beachten müssen, nennt Horster: "1. Sag Deine eigene Meinung! [...] 2. Sprich in kurzen, klaren Sätzen! [...] 3. Faß Dich kurz! [...] 4. Hör genau zu! [...] 5. Sprich Deine ehrlichen Zweifel gleich aus! [...]" (Horster 1994, 64 f.). Des Weiteren gilt, dass jede(r) Teilnehmer(in) sich aktiv am Gespräch beteiligt, nicht vom Thema abweicht, Seitengespräche unterlässt, die Berufung auf Autoritäten vermeidet und gleichermaßen authentisch wie kritisch argumentiert und sich dem redlich um gemeinsame Einsichten bemüht.

Die sokratische Leitung hält sich im Interesse der Symmetrie der Kommunikationsstrukturen mit eigenen Beiträgen zum Thema zurück. Ihre Aufgaben sind nach Horster: "1. Halte Deine Meinung zurück! [...] 2. Sorge für wechselseitige Verständigung! [...] 3. Verfolge den roten Faden! [...] 4. Sorge für das Fuß-Fassen im Konkreten! [...] 5. Strebe ein Ergebnis an! [...] 6. Zeige den nächsten Abstraktionsschritt! [...]" (Horster 1994, 63 f.). Demnach wirkt die Gesprächsleitung indirekt, wenngleich sie doch nicht nur moderiert. Ihr Eingreifen hat in der Hauptsache die Funktion, durch gezielte Fragen das Gespräch in Gang zu bringen und zu halten, auf die Berücksichtigung der Gesprächsregeln zu achten und das Gespräch zwischen den TeilnehmerInnen so zu steuern, dass diese sich gegenseitig richtig verstehen und den Themenbezug wahren. Die gebotene Zurückhaltung in der Sache entlastet zugleich die Gesprächsleitung, so dass sie sich darauf konzentrieren kann, wie sich das Gespräch entwickelt und wann gegebenenfalls welche gesprächssteuernden Maßnahmen erforderlich werden, um ein Scheitern des Gesprächs zu vermeiden. Ihr Wissen in der Sache bringt sie indirekt ein, indem sie z.B. durch Wiederholenlassen oder durch die schriftliche Fixierung einzelner Beiträge und ggf. die Visualisierung des Gesprächsverlaufs produktive Gedanken der Teilnehmer ins Zentrum der gemeinsamen Aufmerksamkeit rückt. Somit übt die Gesprächsleitung mit ihren gesprächsstrategischen Eingriffen einen großen Einfluss aus, den sie kritisch kontrollieren muss. Nicht zuletzt diese Anforderung macht eine Ausbildung erforderlich.

1.3 Abgrenzung zu anderen Verfahren

Vergleicht man die Konzeption der auf Nelson zurückgehenden "Sokratischen Gespräche" mit den von Platon überlieferten Dialogen, so wird deutlich, dass es sich um zwei unterschiedliche Gesprächstypen handelt. Nicht nur dass dort stets zwei, hier aber mehrere Personen beteiligt sind, vielmehr ist auch ist die Rolle des Sokrates im Dialog eine dominante, während seine Dialogpartner jeweils auf den Mit- und Nachvollzug der Argumentation verwiesen sind. Die Fragen des Sokrates sind weithin rhetorisch-suggestive, die Kommunikationsstruktur ist eine asymmetrische. Der wesentliche Bezug von Nelson zu Sokrates liegt auf der philosophischen Ebene.

Eine zeitgenössische Vergleichsmöglichkeit bietet sich bezüglich des von Ruth Cohn entwickelten Gruppengesprächsverfahrens der "Themenzentrierte Interaktion" (TZI) an, ein für die humanistische Psychologie sehr wichtiges Verfahren zur Förderung des lebendigen Lernens und der offenen Interaktion in Gruppen. Hinsichtlich der kommunikativen Praxis und Regeln (z. B. die Forderung nach Authentizität, das Verbot von Seitengesprächen, Vorrang für "Störungen" bzw. "Einwände") gibt es durchaus wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gesprächsformen, in den Zielsetzungen aber unterscheiden sie sich: Beim "Sokratischen Gespräch" stehen die Reflexion von Begriffskonzepten, das rationale Argumentieren und die vernunftmäßige Erkenntnisgewinnung im Mittelpunkt, bei der TZI-Methode dagegen die empathische Annäherung und die Persönlichkeitsentwicklung der TeilnehmerInnen auf einer persönlich-subjektiven Ebene.

Von anderen modernen Gruppenarbeitsverfahren hebt sich das "Sokratische Gespräch" dadurch ab, dass keine Brainstorming-Stichworte und Auswahltechniken über "Pünktchenkleben" oder Ähnliches verwendet werden, weil sich dies mit einer nach Gründen forschenden und die Denkschritte explizierenden Argumentation kaum verträgt. Strebt auch das "Sokratische Gespräch" ein Gruppenprodukt an, so stehen doch das argumentative Eingehen auf jede(n) Teilnehmer(in) und die wechselseitige mäeutische Denkhilfe im Vordergrund. Darin unterscheidet sich die Methode auch von typischen Kommunikations- und Argumentationstrainingsmodellen.

Viele Bezüge verbinden die Methode des "Sokratischen Gesprächs" mit der von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas in den 70er Jahren entwickelten Diskurstheorie, wobei man jedoch keinen Vergleich hinsichtlich der Elaboriertheit der theoretischen Begründungszusammenhänge und -anliegen ziehen kann. Immerhin kommen die praktischen Grundsätze der Methode des "Sokratischen Gesprächs" den vier von Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" (zuerst 1981, 2 Bdd.) aufgewiesenen universalen Diskursnormen (Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) und der regulativen Idee des herrschaftsfreien Diskurses sehr nahe und können auf dessen theoretische Begründung der Pflicht bezogen werden, den anderen als gleichberechtigten und wahrheitsfähigen Diskussionspartner ernst zu nehmen, sich für die Qualität von Verständigungsverhältnissen zu engagieren, den idealen argumentativen Konsens als Geltungskriterium zur Prüfung von Behauptungen anzuerkennen und in Konfliktfällen eine konsensuelle Lösung anzustreben. (Vgl. Krohn/Neißer/Walter 1996).

2. Herkunft und Entwicklung

Der Ursprung des Begriffs "Sokratisches Gespräch" liegt in den "Sokratikoi logoi", jenen von Platon überlieferten argumentativen Zwiegesprächen, die Sokrates in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s mit den Bürgern Athens auf dem Marktplatz (agora) geführt haben soll. Sie begründen die europäische philosophische Traditionslinie einer die Grundlagen des Erkenntnisvermögens reflektierenden autonomen Vernunftorientierung, die sich selbst und jene Urteile kritisch überprüft, die auf Tradition und Sitte, Autorität und Mehrheitsmeinung, Augenschein oder Gefühlseindruck beruhen. Besonders in den frühen Dialogen steht eine kommunikativ orientierte Denkweise im Vordergrund.

Auf die platonische Überlieferung aufbauend und an das Werk des Kantianers J. Fr. Fries anknüpfend führte der Göttinger Philosoph Leonard Nelson (1882-1927) ein von ihm "Sokratisches Gespräch" genanntes Gruppenverfahren mit dem Ziel in Hochschulseminare ein, "[...] nicht [...] Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht [...] über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen." (Nelson 1975, 193). Sein zentrales Anliegen war die Analyse von Erfahrungsurteilen und der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien mit dem Ziel, die Vernunftgrundlagen unseres Erkennens und Handelns aufzuweisen. Zugleich hat sich Nelson um die pädagogischen Grundlagen und die Gestaltung dieser Gespräche bemüht und darüber hinaus - in enger Zusammenarbeit mit der Pädagogin Minna Specht - praktische Modelle für den Internationalen Jugendbund und den Internationalen Sozialistischen Kampfbund entwickelt und mit deren Führungskräften praktiziert. Nelson sah das "selbstständige Philosophieren" in unmittelbarem Zusammenhang mit politischer Bildung und Partizipation. Da viele seiner Schüler wegen politischer Verfolgung aufgrund ihres Widerstandes gegen das NS-Regime ins Exil gingen, verlagerte sich die 1922 von Nelson gegründete Philosophisch-Politische Akademie nach 1933 ins Ausland.

1949 erfolgte in Deutschland die Wieder-Gründung der Akademie, wobei insbesondere der aus dem Exil zurückgekehrte Physiker und spätere Hannoveraner Philosophie- und Pädagogikprofessor Gustav Heckmann (1989-1996), der ein Schüler Nelsons war und die Methode als Lehrer im Landerziehungsheim Walkemühle angewandt hatte, das traditionelle "Sokratische Gespräch" um neue Aspekte ergänzte und seinerseits in Kursen zahlreiche GesprächsleiterInnen ausbildete, darunter auch Detlef Horster. In den folgenden Jahrzehnten trug Heckmann neueren Entwicklungen (z. B. TZI) Rechnung, indem er das "Sokratische Gespräch" um ein Meta-Gespräch erweiterte, in dem bei Bedarf subjektive Befindlichkeiten und gruppendynamische Aspekte in einer vom Sachgespräch getrennten Gesprächsrunde erörtert und geklärt werden können. Detlef Horster wiederum hat die theoretische Begründung des Erkenntnis- und Vernunftbegriffs von Nelson unter Berücksichtigung der modernen philosophischen Paradigmata fortentwickelt und entsprechende Veränderungen in der praktischen Durchführung von "Sokratischen Gesprächen" vorgeschlagen (vgl. Horster 1994, 55-124).

3. Typische Anwendungsfelder und Anwendungen

Die traditionellen Anwendungsfelder sind die Hochschuldidaktik und die Erwachsenenbildung im Bereich der historisch-politischen Bildung und der Philosophie, auch wenn es manche Traditionen in der schulischen Bildung und der außerschulischen Jugendarbeit gibt. Zunehmend werden Varianten der Methode auch in der Organisations- und Unternehmensberatung eingesetzt, dies vor allem in den Niederlanden, England und in Kanada. (Vgl. Krohn/Neißer/Walter 1997).

Auch hinsichtlich der Gesprächsführung im Unterricht und im Hinblick auf die erfahrungsbezogene, schüleraktive Gestaltung von schulischen Lernprozessen findet das "Sokratische Gespräch" verstärkt Beachtung (vgl. z. B. Spinner 1992; Krohn/Neißer/Walter 1999, 2000), und zwar nicht nur im Ethik- und Philosophieunterricht, sondern beispielsweise auch im Mathematikunterricht (vgl. Loska 1995).

Wünschenswert wäre eine verstärkte Auseinandersetzung mit den potenziellen Anwendungsmöglichkeiten des "Sokratischen Gesprächs" in der historisch-politischen Bildung der Schule (vgl. aber Kuhn; Massing 2000) vor allem wegen der konstitutiven Einbeziehung der genuinen Alltagsbegriffe der SchülerInnen. Denn mancher Misserfolg der historisch-politischen Bildung hängt damit zusammen, dass die SchülerInnen die schulisch vermittelten Begriffe zwar im schulischen Kontext verwenden, aber nicht in ihr Alltagsverständnis integrieren, so dass dieses weithin unbearbeitet bleibt, gleichzeitig aber größeren Einfluss auf die Herausbildung von Einstellungen und Handlungsbereitschaften nimmt als das schulisch erworbene Wissen. Man weiß, dass trotz entsprechender historisch-politischer Bildung vielfach politische Entscheidungen "aus dem Bauch heraus" getroffen werden. Ebenso bedeutsam sind freilich die oben beschriebenen traditionellen, auf Selbstbestimmung und soziale Kompetenzen gerichteten Ziele, die die Methode des "Sokratischen Gesprächs" üben und entwickeln will.

4. Hinweise zur praktischen Umsetzung

Auch wenn es theoretische Anleitungen für die Führung "sokratischer Gespräche" (vgl. z. B. Horster 1994) gibt, bedarf es selbst für einen gelegentlichen Einsatz der Methode z. B. in der Schule einer ausreichenden Erfahrung mit der Methode unter Anleitung einer ausgebildeten Leitung, wenn nicht gar einer Ausbildung (vgl. hierzu z. B. www.Philosophisch-Politische-Akademie.de).

Am sinnvollsten erscheint es, "Sokratische Gespräche" in Kompaktseminaren über mehr als einen Tag und an einem besonderen Ort durchzuführen, auch wenn die Methode an (Volks-)Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen nicht selten in der Abfolge wöchentlicher Seminarsitzungen praktiziert wird. Hinsichtlich des Teilnehmerkreises sind jenseits des Kindesalters keine Einschränkungen zu erkennen, vorausgesetzt, die Teilnahme erfolgt freiwillig und die Gruppe ist weder zu klein (unter 6 Personen) noch zu groß (über 10 Personen). (Vgl. hierzu Horster 1994, 55-124; Krohn; Neißer; Walter 2000, Kuhn; Massing 2000).

5. Literatur

5.1 online-Literatur

www.Philosophisch-Politische-Akademie.de

5.2 Gedruckte Literatur

5.2.1 Einführende Literatur

Heckmann, Gustav (1981): Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover.

Horster, Detlef (1994): Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis. Opladen.

Nelson, Leonard (1975): Die sokratische Methode [1922]. In: Henry-Hermann, Grete (Hg.): Leonard Nelson. Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik. Hamburg, 191-238.

5.2.2 Weitere Literatur

Birnbacher, Dieter (1998): Philosophie als sokratische Praxis. In: Universitas 53. Jg., 871-880.

Brodisch, Peter (1996): Philosophieren, total normal. In: Heß, G.: Umbruch, Aufbruch, Horizonte. Neue Wege in der Erwachsenenbildung. Berlin, 71-91.

Brune, Jens Peter/ Brunke, Horst (1999): "Sokratisches Gespräch, Sokratisch-platonischer Dialog". In: Prechtl, P.; Burkard, F.-P. (Hg.) (1999): Metzler Philosophie Lexikon. Stuttgart, 2. Aufl.

Horster, Detlef (1992): Das Sokratische Gespräch als Möglichkeit, die innere Struktur von Wissenschaftsprozessen zu erfahren. In: Brödel, Rainer; Griese, Hartmut (Hg.): Hochschuldidaktische Perspektiven. Hannover, 115-130.

Krohn, Dieter/ Neißer, Barbara/ Walter, Nora (Hg.) (1996): Sokratisches Philosophieren, Bd. III: Diskurstheorie und Sokratisches Gespräch. Frankfurt a. M.

Krohn, Dieter/ Neißer, Barbara/ Walter, Nora (Hg.) (1997): Sokratisches Philosophieren, Bd. IV: Neuere Aspekte des Sokratischen Gesprächs. Frankfurt a. M.

Krohn, Dieter/ Neißer, Barbara/ Walter, Nora (Hg.) (1999): Das Sokratische Gespräch. Möglichkeiten in philosophischer und pädagogischer Praxis. Frankfurt a.M.

Krohn, Dieter/ Neißer, Barbara/ Walter, Nora (Hg.) (1999): Sokratisches Philosophieren, Bd. VI: Das Sokratische Gespräch - Möglichkeiten in philosophischer und pädagogischer Praxis. Frankfurt a. M.

Krohn, Dieter/ Neißer, Barbara/ Walter, Nora (Hg.) (2000): Sokratisches Philosophieren, Bd. VII: Das Sokratische Gespräch im Unterricht. Frankfurt a. M.

Kuhn, Hans-Werner/ Massing, Peter (Hg.) (2000): Lexikon der politischen Bildung. Bd. 3: Methoden und Arbeitstechniken. Schwalbach/Ts.

Loska, Rainer (1995): Lehren ohne Belehrung. Leonard Nelsons neosokratische Methode der Gesprächsführung. Bad Heilbrunn.

Spinner, Kaspar H. (1992): Sokratisches Lehren und die Dialektik der Aufklärung. Zur Kritik des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs. In: Deutsche Demokratische Schule 126 Jg., August 1992, 309-321.

Vorholt, Udo (1998): Die politische Theorie Leonard Nelsons. Eine Fallstudie zum Verhältnis von philosophisch-politischer Theorie und konkret-politischer Praxis. Baden-Baden.

 


sowi-online Originalbeitrag

© 2001 Susanne Popp, Weingarten; © sowi-online e.V., Bielefeld

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