Wie kann man also – so die erste Frage – Standards des Lehrerhandelns
auffinden? Welches sind die Möglichkeiten, sie sichtbar und aneignungsbar
bzw. ausbildbar zu machen? Verschiedene Strategien sind möglich; die meisten
aber sind nicht brauchbar.

Eine erste Möglichkeit ist, dass "erfahrene" Lehrpersonen
aufzählen, was sie an Handlungskompetenzen täglich einsetzen. Hier
hätten wir zwar viele Ergebnisse, aber sie wären unter dem Gesichtspunkt
der Verallgemeinerbarkeit relativ wenig fruchtbar; episodisches Vorgehen reicht
nicht aus, um zu beschreiben, was in schwierigen Unterrichtssituationen gebraucht
wird. Zudem besteht das Problem, dass unterschiedliche Bereiche vorerst gar
nicht mit ins Blickfeld geraten. Ebenfalls laufen wir auf diese Weise Gefahr,
Wissensbestände, Skills, spontanes Handeln und Handlungsnotwendigkeiten
dauernd miteinander zu vermischen. Für dieses Verfahren hingegen spricht,
dass das Zusammentragen von Handlungsmöglichkeiten den Reichtum und die
Verwobenheit der Handlungskapazitäten im unterrichtlichen oder schulischen
Raum andeuten oder gar aufschlüsseln kann.

Ein anderes Verfahren besteht darin, Wissensarten zu sammeln, um über
diese das ihnen zugrunde liegende Handeln erst ableiten zu können. Zu den
lehrprofessionellen Wissensarten gehören nach Shulman
(1987)
pädagogisches Wissen, entwicklungspsychologisches Wissen, fachdidaktisches
Wissen, lernpsychologisches Wissen, soziologisches Wissen, Fachwissen etc. In
der Tat kann man jungen Lehrpersonen jenes Wissen vermitteln, dass mit großer
Wahrscheinlichkeit mit dem Feld ihrer Arbeit etwas zu tun hat. Es [/S. 72:]
ist einerseits dringend nötig, über solche Wissenskataloge die Dynamik
des Kanons einer solchen Ausbildung je neu zu schaffen und zu überdenken.
Vermutlich kann andererseits aber zu keiner beruflichen Ausbildung in anderen
Bereichen (z.B. Ingenieurswesen) so viel unbrauchbares und unkoordiniertes Wissen
gefunden werden wie im Lehrberuf. Dieser Kanon zu professionellem Wissen nimmt
den Schwung der Probleme gleich dreifach mit: a) Es gibt keinen Zusammenhang
mit dem Handeln im Feld. b) Es entsteht kein solches Handeln aus diesem Wissen,
und c) auch die Wissensteile werden in keiner Weise untereinander vernetzt oder
mindestens verbunden (es gibt keinen Transfer).

Ein drittes Verfahren besteht darin, aus den Grundlagenerkenntnissen der Lernpsychologie
Handlungsformen herauszupicken, die für das Feld adäquat sein könnten.
Die operante Konditionierung, der Umgang mit gelernter Hilflosigkeit, die attributionstheoretische
Motivation, das Kennen der Funktion des Arbeitsspeichers beim Memorisieren,
Kommunikationstechniken zum Problemlösen etc. sind solche Beispiele, die
dann je auf Unterricht und Schule angewandt werden "sollen". Die
so erzeugte Wichtigkeit der psychologischen Grundlagenforschung einerseits und
das damit einhergehende ewig bedauerte Nichtgenugpraktischsein des universitären
Betriebs andererseits erzeugen ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Ausbildung
als nicht genug adäquat und wenig transferal wirksam empfunden wird. Es
ist die vielleicht verhängnisvollste Art, mit viel wissenschaftsbetonter
Gestik an den wirklichen Ausbildungsnotwendigkeiten vorbeizusegeln und diese
Ausbildung gleichzeitig von etwas abhängig zu machen, das niemand will.

Deshalb haben wir an anderer Stelle ein Vorgehen vorgeschlagen, das viertens
direkt zu den notwendigen Kompetenzprofilen der Lehrprofession führt und
diese ins Zentrum von Aus- und Weiterbildung rückt. In diesem Fall werden
Situationen des Unterrichtens oder des Schullebens direkt über Beobachtung
oder narrative Vignetten sorgfältig unter der Frage aufgegriffen, was jemand
können muss, um sie zu bewältigen. Sie werden also verlaufsorientiert
beschrieben und geordnet. Dieser Prozess wird begleitet durch eine Verankerung
der gefundenen Situationen in der wissenschaftlichen Literatur und der empirischen
Forschung. Ebenso wird bei jedem dieser Handlungsprofile die Frage der Qualität
mitgeliefert: man will wissen, wie Experten die Situation bewältigen und
welche Unterschiede zu den Novizen oder den wenig erfolgreichen Lehrpersonen
in der Situation bestehen. Ein solches Handlungsprofil nennen wir, wie oben
angedeutet, eben Standard. Standards sind Beschleuniger des Zusammenführens
einer ganzen Reihe von geistigen Eigenschaften, die zum Handeln in kritischen
Situationen notwendig sind. Normalerweise versteht man unter Standards "what
graduates are expected to know and be able to do as a condition of earning a
diploma … second standards certify students`capacity just as standards
of weights and measures provide accurate information about size" (Doyle
and Pimentel 1999
, S. 19). Und obwohl für die Lehrerbildung immer wieder
[/S. 73:] unterschieden wird zwischen Standards als notwendige Wissenskomponente
und Standards als performance based mastery, unterscheiden doch die meisten
Ausbildungsinstitutionen und –konzeptionen zwischen Wissen, Skills und
Dispositionen. Sie gehören nach Darling–Hammond u.a. zur "License
to Teach" Standards, die folgendes beinhalten:

  • "Knowledge about people and social organisations, cultures, epistemology,
    specific disciplines, human growth and development, communication and language,
    scientific inquiry, and research on effective learning and teaching
  • Skills associated with assessment, planning, instruction, evaluation, social
    behavior management, and role modeling
  • Dispositions toward self, toward the learner, toward teaching, and toward
    the profession."

Hier wird mit aller Schärfe deutlich, dass nicht genau nachgedacht wird,
was wirklich ein Standard ist. Die dreiteilige Trennung macht das Wissen wirkungslos,
die Skills blind und die Haltung gegenüber sich selbst oder dem Lernenden
oder der Institution Schule zufällig. Man kann dies am besten am Arztberuf
erläutern, wenn ein Notfall eintritt: Mit dem Handeln in dieser Situation
geht das Wissen einher, und die Disposition gegenüber dem Lernenden,
sich selbst und der Institution Spital ist selber schon ein Teil dieser kompetenten
Handlung
. Wenn Standards einfach als gültige Normen für das Erreichen
einer Leistung bezeichnet werden, so wird das, was das Eigentliche einer Profession
ausmacht, ausgeklammert. Standards sind nicht hohe Wissensleistungen, die man
etwa bei Examen fordert; ebenfalls ist damit nicht gemeint, dass eine besondere
Moral an den Tag gelegt werden müsste, schließlich bedeuten Standards
auch nicht die Art und Weise, wie Lehrpersonen vorbereitet sind. Man muss Standards
anders definieren, ihre Kraft liegt in der Verbindung dessen, was gebraucht
wird, um richtig zu handeln und der Handlung selbst. Richtiges Handeln impliziert
ein spezielles Wissen in der Handlung, die ihre Richtigkeit, ihre Wirkung und
ihre professionelle Sorgfalt generiert.