Politische und historische Bildung verlieren
Die Fächer Politik und Geschichte gehören zu den Verlierern der bildungspolitischen Reformen der Post-PISA-Ära. Aufgeschreckt von den Ergebnissen der internationalen Vergleichsstudien wandten sich die Kultus- und Schulbehörden vor allem den MINT-Fächern zu. Das Fehlen von Lehrkräften in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften/Technik führte denn auch an den Universitäten zu verstärkter Werbung um Lehramtsstudierende in den entsprechenden Fächern.
Dagegen verloren die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer zunehmend an Bedeutung, was sich nicht zuletzt über alle Schulformen hinweg in den Stundentafeln widerspiegelt. Jenseits des Gymnasiums werden die Fächer Politik und Geschichte inzwischen kaum mehr als eigenständige Domänen unterrichtet. Vielmehr sind sie zu sogenannten Kombinationsfächern zusammengelegt, in denen häufig bis zu vier Fächer unterrichtet werden. Dort, wo Politik- und Geschichtsunterricht noch eigenständig existiert – also vornehmlich an den Gymnasien – schmolzen zudem die Anteile an den Pflichtstunden. In einem kulturpessimistischen Grundton thematisierten auch zahlreiche Medien den Bedeutungsverlust. Wenn etwa die „Welt am Sonntag“ den „[f]atalen Niedergang des Schulfaches Geschichte“ beklagt, so ist dies die vielleicht pointierteste Formulierung. Die Grundaussage findet sich jedoch in zahlreichen publizistischen Analysen (für das Fach Geschichte fasst diese Debatte zusammen: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/13731).
Erst in den letzten Monaten und Jahren deutet sich eine Trendwende an. Die Bedeutung historisch-politischer Bildungsarbeit steht nicht mehr grundsätzlich unter dem Verdikt, ökonomisch wenig „verwertbar“ zu sein, sondern die Schwerpunktsetzungen scheinen sich langsam zu verschieben: Die rechtspopulistische Herausforderung in fast allen Staaten der Europäischen Union führen zu einem verstärkten Interesse an den Fächern Politik und Geschichte. In ihnen vermutet man ein Mittel zur Demokratieerziehung, die Kinder und Jugendliche gegen staatsdiskreditierenden Polemiken und geschichtskulturelle Provokationen immunisiert. Pauschale Einschätzungen, wie etwa die Forderung nach verpflichtenden Schulfahrten zu NS-Gedenkstätten als „antifaschistische Schutzimpfung“ (so einmal ein österreichischer Innenminister), zeugen von Erwartungshaltungen, die weder Gedenkstätten noch Schule erreichen können. Gleichwohl scheint weitaus weniger als vor einigen Jahren in Frage zu stehen, wie sehr ihr Beitrag für die Aufrechterhaltung eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens notwendig ist.
Dennoch ist nicht sicher, ob es tatsächlich zu einer Stärkung der historischen Domäne im Schulalltag kommen wird. Die Chance wäre gegeben. Zumindest im Bereich der gymnasialen Bildung eröffnet die Rückkehr zum G9-Abitur neue Möglichkeiten in der Stundenplangestaltung. In den meisten Bundesländern erfüllen die Planungen allerdings nicht die anfänglich in sie gesetzten Hoffnungen. Eine nachhaltige und substantielle Steigerung der Pflichtanteile am Unterrichtsvolumen werden die Fächer Politik und Geschichte auch unter „G9“-Vorzeichen nicht erleben. Umso bedeutsamer ist es, die Meinungsfreiheit in allen schulischen Belangen aufrecht zu erhalten und zu verteidigen. Denunziationsplattformen gegen Lehrkräfte müssen gesellschaftlich zurückgewiesen werden. Die Schulen müssen weiterhin ein Ort der Ausbildung kritischer Staatsbürger sein. Dazu bedarf es nicht nur der Stärkung der fachlichen Stundenanteile, sondern alle Beteiligten müssen Kinder und Jugendliche auf ihre Rolle in einer demokratischen Gesellschaft vorbereiten. Dazu dienen „Lernorte“ der Nahumgebung ebenso wie prominente Schauplätze der Geschichte. Nicht nur Besuche in vormaligen Konzentrationslagern schärfen die historische und politische Bildung, sondern auch der Besuch im lokalen Gemeinde- oder Stadtrat. Diese oft mit dem Etikett „Stundenausfall“ belegten Aktivitäten müssen wieder stärker akzentuiert werden. Schließlich stellen sie nicht einen Verlust an Unterrichtszeit dar, sondern eröffnen Kindern und Jugendlichen differenzierte Einblicke in ein demokratisches Gemeinwesen – ein Gemeinwesen, in welchem sie als kritische Staatsbürger leben und für das sie sich engagieren sollen.