Zum Angriff der AfD auf die Freiheit der politischen Bildung
Das so genannte „Informationsportal Neutrale Schulen Hamburg“, mit dem die AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft zur anonymen Denunziation von Lehrerinnen und Lehrern aufruft, hat reichlich Reaktionen in der Öffentlichkeit erzeugt. Damit hat es für die AfD den gewünschten politischen Effekt bereits geliefert. Auf Kritik stößt diese Aktion etwa im Beitrag „Grundkurs Einschüchterung“ von Paul Munzinger in der Süddeutschen Zeitung vom 21.9.2018 oder in Tim Engartners Gastbeitrag „Ohne Angst gegen die AfD“ in Zeit Online vom 23.9.
Die AfD betreibt mit dem Portal eine elaborierte politische Doppelstrategie: Einschüchterung der politischen Gegnerinnen und Gegner und ihres Umfelds, vor allem aber der Personen, die kritische Diskurse in den Schulen führen, einerseits, Ermunterung der politischen Anhänger und Sympathisanten zur alltäglichen Einschüchterung der anderen andererseits. Es wird ja wohl nur der Dümmste auf die Idee kommen (oder die eine oder andere Alltagsironikerin, vielleicht!), über dieses Portal AfD-freundlichen, rechtslastigen, xenophoben oder rassistischen Unterricht zu melden. Die AfD muss doch kein Wort darüber verlieren, dass sie mit ihrer Aktion Menschen aus dem Mitte-Links-Spektrum anprangern will, weil das für jeden unmittelbar einsichtig ist, der das Meldeportal besucht.
Einseitige Beeinflussung
Es handelt sich beim AfD-Portal also um den Versuch einer einseitigen politischen Einflussnahme auf Schule und Unterricht, die als advokatorische Wahrnehmung des allgemeinen Interesses an Ausgewogenheit getarnt ist.
Natürlich müssen wissenschaftliche und professionsbezogene Fachverbände wie GPJE oder DVPB und Lehrerverbände wie die GEW darauf auf der Basis ihrer Professionalität und im Rahmen ihrer professionellen Organisationen rasch und resolut reagieren. Denn die AfD-Aktion ist faktisch gegenstandslos, da das, was sie als bedroht inszeniert, seit Jahrzehnten alltägliche Praxis der politischen Bildung an den Schulen ist. Aber die empirische Evidenz ist nur lästig, wenn man faktenfrei Gefühlslagen erzeugen und erhalten will. Aber Antworten der professionellen Art reichen bei weitem nicht. In einer reinen Selbstbeschränkung auf professionsbezogene Reaktionen kommt vielmehr politische Hilflosigkeit zum Ausdruck.
Denn bei diesem Portal und ähnlichen Aktionen handelt es sich keineswegs um eine bildungspolitische Normalität, die man zur Kenntnis nimmt oder auch nicht, sondern um einen von vielen Vorstößen, die mindestens auf dreierlei zielen: • erstens den falschen Eindruck zu verbreiten und zu verfestigen, dass in Schulen einseitig unterrichtet wird, • zweitens die wahrheitswidrige Unterstellung zu verbreiten, freie Meinungsäußerung und Kritik würden verhindert oder gar bestraft und • drittens durch die Meldeaktion selbst dafür zu sorgen, das Punkt zwei nur politisch selektiv wirkt, nämlich gegen kritische Stellungnahmen zur rechten Politik und gegen kritische Analysen der AfD.
Es liegt in der Natur dieser Aktion, dass sie sehr verlässlich nur einseitige „Fälle“ produziert, mit denen die AfD die Diskriminierung der AfD, ihrer Verbündeten und Positionen und damit die Einseitigkeit der Schule belegen kann. Selbst wenn unerwarteter Weise doch politisch anders gelagerte „Fälle“ gemeldet würden, liegt es ganz in der Hand der AfD, sie einfach verschwinden zu lassen und so zu verschweigen.
Klima der Angst als AfD-Strategie
Wir haben es also mit einer bemerkenswert infamen bildungspolitischen Mischung zu tun. Die politische AfD-Strategie läuft für die breite Öffentlichkeit scheinbar auf Ausgewogenheit hinaus, zielt aber tatsächlich auf die Diskreditierung und Delegitimierung des Politikunterrichts und der Schule. „Lügenschule“ lautet die passende Parole, der Begriff ist ja schon in der Welt.
Der AfD geht es generell darum, den Raum des Fragbaren und Sagbaren zugunsten rechtsextremistischer Positionen zu verschieben und einzuschränken und konkret denjenigen, die in Schulen dagegenhalten, mit beruflichen Konsequenzen und Nachteilen, hohem Zeitaufwand für Abwehr und Rechtfertigung sowie erheblicher psychischer Belastung zu drohen, ohne dies auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen.
Damit löst die AfD bei vielen (natürlich nicht bei allen!) unbewusste psychische Prozesse aus, durch die sich in den Lehrerkollegien ein tendenziell angstbesetztes Klima aufbaut – und hat damit den ersten Teil seiner Zielsetzung schon erreicht. Hinzu kommt, dass sie ein neues Risikobewusstsein bei vielen Lehrkräften erzeugt, ein bewusstes, womöglich angstbesetztes Kalkül von Kosten und Nutzen eines Unterrichtsthemas, eines Materials, einer Äußerung ...
Denn die Aufforderung zur Denunziation dringt in jeden Klassenraum, das barrierefrei zugängliche, einladende und sofort wirksame Instrument dazu liegt buchstäblich auf dem Tisch in Form der Smartphones der Schülerinnen und Schüler.
Jede Lehrkraft weiß, dass ihr ganz persönliches Risiko mit dieser AfD-Aktion steigt. Denn Ruf und Reputation werden und bleiben beschädigt, wenn ihr das Schild „einseitige Politiklehrerin“ – möglichst noch öffentlichkeitswirksam – umgehängt wird. An den Beschuldigten bleibt immer etwas hängen, auch wenn die Attacken inhaltlich gegenstandlos sind und sie voll rehabilitiert werden. Niemand kann sich darauf verlassen, dass eine in der Sache falsche Anprangerung wegen „Einseitigkeit“ folgenlos bleibt, z. B. bei der Stundenverteilung im kommenden Schuljahr oder der nächsten Bewerbung auf eine Funktionsstelle. Das gilt besonders dann, wenn man es mit AfD-affinen Vorgesetzten zu tun hat, was ja zunehmend der Fall ist.
Aufforderung zur anonymen Denunziation
Man sieht also: Die AfD hat die Aktion Neutrale Schule sehr geschickt angelegt! Die Hamburger AfD-Fraktion wäscht ihre Hände in der Unschuld von Korrektheit und Konsens, erreicht aber allein durch die niedrigschwellige Aufforderung zur Denunziation und die eine oder andere Pressemeldung dazu einen erheblichen Einschüchterungseffekt. Mit der Bewusstmachung des Unbewussten – sei es durch Handreichungen oder Lehrerfortbildungen – ist hier wenig zu erreichen (schlicht, weil der Druck unabhängig vom Bewusstsein wirkt) und das, was Poli-tiklehrkräfte dazu öffentlich standhaft sagen, bringt nicht unbedingt vollständig das zum Ausdruck, was sie und viele andere fühlen.
Selbst die meisten fachdidaktisch gut ausgebildeten und sozialisierten Lehrkräfte würden kaum öffentlich einräumen, dass sie angesichts der Bedrohungslage Angst davor haben, etwas AfD-Kritisches im Unterricht zu sagen. Denn Angst vor Politik im Unterricht stünde im diametralen Gegensatz zum professionellen Fremd- und Selbstbild von Politiklehrkräften. Je mehr „Fälle“ schulintern oder in den Medien öffentlich werden, desto mehr Kolleginnen und Kollegen werden sich bei den Themen zurückhalten, bei denen es wahrscheinlich ist, dass sie Opfer von organisierten Aktionen von ganz rechts werden könnten. Dass es weiterhin Unbeeindruckte gibt und geben wird, ändert wenig an der einschüchternden Wirkung in der Fläche.
Zerstörung von Freiräumen im Unterricht
Dass es sich hier um eine der vielen strategischen Grenzüberschreitungen von ganz rechts handelt, die dem Ziel der Zerstörung von diskursiven Freiräumen dienen, sieht man im Übrigen, wenn man diese „Einzelfälle“ der Einschüchterung gegenüber Lehrkräften durch die AfD im politischen und zeithistorischen Kontext sieht. Aufforderungen von Seiten der anderen im Bundestag und in den Landtagen vertretenen Parteien, einseitig unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer zu melden, gab und gibt es nicht. So haben beispielsweise weder CSU noch Die Linke Portale für die Meldung politischer Inkorrektheiten in der Schule ins Netz gestellt.
Wenn die Aktion der AfD wirklich – bis auf das eine oder andere Detail – so im Prinzip in Ordnung wäre, wie sich aus der Darstellung im Portal herauslesen lässt, dann wäre die konsequente Forderung, dass im Sinne einer politischen Ausgewogenheit alle Parteien auf Landesebene solche Meldeportale einrichten, natürlich in einer besseren Form. Und auch bei Kirchen, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen aller Art könnte das Beispiel Schule machen, und wir hätten eine pluralistische Vielfalt von Denunziationsportalen. Das ist offensichtlich absurd. Es wäre aber vor allem brandgefährlich, weil es die AfD-Strategie der Brandmarkung des Schulsystems als „Lügenschule“ massiv stützen würde. Diese fiktive Verallgemeinerung der AfD-Aktion zeigt, dass man sie bekämpfen muss.
Professionell, politisch und solidarisch handeln
All das verlangt politische, nicht nur professionelle Antworten. Die oben genannten Fachverbände müssen deshalb auch politische Aktionen ergreifen. Aber auch vor Ort, in den Schulen, den Lehrerkollegien und Fachkonferenzen muss man handeln, zusammen mit den Schülervertretungen und den Eltern. Allerorts und auf breiter Basis muss man diese Aufforderung zur Denunziation öffentlich zurückweisen. Mit allem Nachdruck müssen die Akteure von den Ministerien über die Schulaufsichten bis zu den Fachkonferenzen in der Einzelschule die gute Praxis der politischen Bildung verteidigen. Die Schulen müssen Angriffe gegen einzelne Kolleginnen und Kollegen gemeinsam abwehren.
Gegen Einschüchterung und Angst hilft konkrete kollegiale Solidarität. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass Angriffe von ganz rechts außen schon automatisch die Standhaftigkeit steigern werden. Vielmehr muss man für die Verteidigung der Kultur des guten, der Freiheit des Denkens, Redens und Handelns verpflichteten Politikunterrichts zusammenstehen! Und im Unterricht selbst kann man die AfD-Aktion aufgreifen und – kontrovers und im Vergleich der Parteien, versteht sich! – über Formen, Folgen, Grundlagen und Geschichte der politischen Denunziation in der DDR und der BRD sowie nicht zuletzt im Nationalsozialismus diskutieren.
Reinhold Hedtke
P.S.: Fachlich versierte Lehrerinnen und Lehrer verwundert es nicht, dass die Hamburger AfD-Fraktion den dritten Teil des Beutelsbacher Konsenses gezielt verwässert und verdreht, wenn sie schreibt: „Schülerorientierung: Politische Bildung muss die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, die politische Situation der Gesellschaft und ihre eigene Position zu analysieren und daraus für sich Konsequenzen zu ziehen.“
Im Original heißt es dagegen: „Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“ (Hans-Georg Wehling: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. Textdokumentation aus dem Jahr 1977. In: Benedikt Widmaier, Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn 2016, S. 24).