Neoliberalismus als Bildungsziel!?
Die Autoritarismusforschung hat viele Jahre ein Schattendasein geführt, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das ändert sich derzeit, denn autoritäres Denken und Führungsstile sind derzeit in Teilen der Bevölkerung offenbar wieder en vogue. Zum Ausdruck kommt dies in Forderungen nach einem harten Durchgreifen der Justiz, dem Zulauf rechter Parteien und Organisationen oder in Sympathiebekundungen für die autoritär-antidemokratische Politik diverser „Staatsführer“. In Bedrohungszeiten oder auch gefühlten Bedrohungslagen gewinnen autoritäre Positionen an Zustimmung. Empirisch gibt es in der Autoritarismusforschung einige Belege hierfür. Untersuchungen zu 9/11 in den USA zeigen, dass durch die Wahrnehmung der äußeren Bedrohung Personen, die zuvor niedrige Autoritarismuswerte aufwiesen, sich den stark autoritär orientierten Personen anpassten (Seipel 2015, S. 152). Andere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass in der Situation der Bedrohung durch steigende Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität, technischen Wandel etc. ebenfalls einen Anstieg des Autoritarismus zu verzeichnen ist (Petzel 2009, S. 316; Six 2006, S. 65-66).
Trotz guter Konjunktur und auf den ersten Blick positive Arbeitsmarktdaten sehen sich die Menschen in Deutschland mit einer Vielzahl von möglichen Bedrohungen konfrontiert: Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Finanzkapitalismus, Terrorismus, drohende Rentenarmut etc. Die Lösung dieser Probleme wird von der Politik verstärkt auf die Bürger übertragen. Hierfür gibt es korrespondierende didaktische Konzepte in der ökonomischen Bildung wie Finanzbildung, Konsumbildung, Verbraucherbildung und Berufsorientierung.
Überforderung des Subjekts
Gekoppelt mit der Angst vor der Rentenlücke sollen die Lernenden z.B. durch Finanzbildung an Aktien oder andere Finanzprodukte herangeführt werden. Das Wissen über die Finanzwelt und über Verbraucherrechte könnte die Mündigkeit erweitern, man müsste dann aber auch kritische Perspektiven auf die dahinterliegenden Interessen und alternative Lösungsansätze aufzeigen. Das geschieht oft nicht, obwohl andere Staaten, z.B. Österreich und die Niederlande zeigen, dass eine steuerlich finanzierte menschenwürdige Altersgrundsicherung möglich ist. In Deutschland sinkt das Rentenniveau derart, dass Menschen, die Vollzeit im Niedriglohnbereich arbeiten, eine Rente erhalten werden, die kaum noch existenzsichernd ist. Selbst Durchschnittsverdiener werden im Alter erhebliche Einschnitte erfahren, z.B. ihre Wohnung in der Stadt aufgeben müssen, weil diese mit der Rente nicht mehr finanzierbar ist. Sie verlieren damit nicht nur ihr Zuhause, sondern (zumindest teilweise) auch ihre sozialen Netzwerke, die städtische Mobilität und die soziale Teilhabe an Politik und Kultur. Die Lösung des Problems soll in Deutschland die private Vorsorge sein. Auch in Österreich und in den Niederlanden ist das eine Säule der Altersabsicherung. Es spricht nichts gegen verantwortungsvolles, voraussehendes Handeln. Gemäß dem in den Niederlanden nach dem Cappuccino-Prinzip organisierten Rentensystem zielt die private Vorsorge jedoch auf die Absicherung von Luxus ab. Es sind die Schokoladenstreusel auf dem Cappuccino. In Deutschland zielt die private Vorsorge dagegen bei vielen Menschen auf die Absicherung der Existenz. Finanzbildung soll die Menschen dazu befähigen, diese Vorsorge zu leisten. Die Schuld an der Altersarmut wird so dem Individuum zugeschrieben. Dass die Gehälter vieler Menschen bereits heute kaum ausreichen, um die sozioökonomische Existenz zu sichern, wird ebenfalls dem Individuum zugeschrieben. Es hat bei der Berufsorientierung einfach die falschen Entscheidungen getroffen.
Der Ausbau der neoliberal ausgerichteten ökonomischen Bildung passt in diese Logik. Dass der Ausbau der ökonomischen Bildung von Banken und Versicherungen mit viel Lobbymacht gefordert und gefördert wird, passt dazu, denn sie sind die Profiteure dieses Systems. Private Rentenversicherungen, Aktienhandel etc. spülen ihnen noch mehr Geld in die Kassen – oft zu Lasten der Bürger/innen, wie die sog. Riester-Rente in vielen Fällen gezeigt hat. Die Schuldigen sind auch hier die Bürger, denn sie hätten intensiver die juristisch verklausulierten Verträge lesen und versicherungsmathematischen Berechnungen überprüfen müssen. Statt die Rente zu sichern oder die Finanzmärkte intensiver zu regulieren, wird der Bürger in die Pflicht genommen. Das führt zu Überforderungen.
Mit der normativen Überbetonung von Selbstverantwortung und Selbststeuerung (nicht Mündigkeit!) in der Finanzbildung (der Berufsorientierung etc.) wird die Logik des Neoliberalismus in Bildungskonzepten umgesetzt. Mit entsprechender Vehemenz wird deshalb gegen die sozioökonomische Bildung und gegen die sozialwissenschaftlich orientierte politische Bildung vorgegangen.
Handlungsunfähige Politik?
Das größte Problem der neoliberal orientierten ökonomischen Bildung ist aber, dass bei den Lernenden der Eindruck einer handlungsunfähigen Politik entstehen oder verstärkt werden kann, die sich zudem ihrer Verantwortung entzieht. Im Sinne der Politik kann eine solche Entwicklung nicht sein.
Literatur
- Petzel, Thomas (2009): Die Autoritäre Persönlichkeit. Eine Interpretation traditioneller und moderner Sichtweisen, Göttingen.
- Seipel, Christian u.a. (2015): Autoritarismus. In: Zmerli, Sonja/ Feldmann, Ofer (Hrsg.): Politische Psychologie. Handbuch für Studium und Wissenschaft, Baden-Baden, S. 152.
- Six, Bernd (2006): Autoritäre Persönlichkeit. In: Bierhoff, Hans-Werner/ Frey, Dieter (Hrsg.): Handbuch für Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Göttingen, S. 65-66.