Autor: Jan Handelmann
Betreuung: Gunnar Rettberg
Ausgangspunkt und Fragestellung
Diese Ethnografie beschäftigt sich mit der Frage, wann Fälle im sozialwissenschaftlichen Unterricht (nicht) angewandt werden. Daran schließt unmittelbar die Frage an, was Lehrkräfte überhaupt als Fall definieren, wie Fälle im Unterricht behandelt werden und was als Problem bei der unterrichtspraktischen Umsetzung wahrgenommen wird. Als theoretische Rahmung wird das fachdidaktische Prinzip des Exemplarischen Lernens herangezogen. Durch die teilnehmende Beobachtung und informelle Gespräche im ethnografischen Forschungsdesign sowie durch das anschließende offene Codieren der Daten, konnten vor allem folgende Perspektiven gewonnen werden: Es gibt entlang der typischen bildungssoziologischen Perspektiven der Organisation, Selektion und Vermittlung von Wissen (Kalthoff 2012, 33) Probleme, die die Umsetzung von Fällen aus Sicht der Lehrkraft erschweren. Der normative Anspruch (Reinhardt 2010), Fälle als Umsetzung des Exemplarischen Lernens im Unterricht anzuwenden, wird vor allem dann erfüllt, wenn die Lehrkraft ihre Idealvorstellung der Schülerorientierung durch den Einsatz eines Falles als gegeben ansieht. Letztlich weist diese Arbeit auf das noch genauer zu bestimmende Verhältnis zwischen Fall, Beispiel und Exemplarischem Lernen hin.
Theoretischer Rahmen
Das Fallprinzip kann als eine der Leitvorstellungen der Politikdidaktik beschrieben werden (Blätte 2013, 53). Es steht in der Tradition der kategorialen Konfliktdidaktik und ist eine spezifische Ausformung des Exemplarischen Prinzips (Rettberg 2016). Bei der Anwendung des fachdidaktischen Prinzips des Exemplarischen Lernens1 sollen an konkreten politischen Einzelbeispielen verallgemeinerbare Erkenntnisse (Grundprinzipien und systematische Aspekte mit allgemeiner Gültigkeit) über Politik gewonnen werden (Langner 2007, 16; Engartner 2010, 88). Prominente Autoren sehen die Umsetzung des Exemplarischen Lernens idealerweise in Form der Arbeit mit Fällen (Fallmethode) im Unterricht (Grammes 2014, 254; Reinhardt 2010, 121; Engartner 2010, 88). Die Autoren eint die Vorstellung, dass Beispiele nicht als Illustration oder reine Anschauung umgesetzt werden sollen, sondern als Fälle. Möchte man nun das Exemplarische Lernen aufgrund der Literatur näher bestimmen, so muss es in Beziehung zu dem (exemplarischen) Fall gesetzt bzw. letzterer genauer definiert werden. Denn der Fallbegriff als solches ist die gemeinsame Grundlage, auf der die Literatur adäquat gesichtet und verglichen werden kann, da die jeweils konkrete Anwendung von Fällen im Sinne von Methoden im Unterricht sich als sehr unterschiedlich darstellt (z.B. als Fallanalyse oder Fallstudie (Reinhardt 2010)). Der Vergleich der Methoden erscheint jedoch nicht sinnvoll, da es in dieser Arbeit um die Falleigenschaften als solches geht.
Der Fall eröffnet Lernwege (Reinhardt 2010, 13) und kann damit eine Unterrichtseinheit strukturieren (Reinhardt 2010, 131). Implizites in Form von Kategorien, Prinzipien und Regelmäßigkeiten soll so expliziert werden (Engartner 2010, 88). Das kann sowohl ein realer politischer Sachverhalt, eine Dilemmasituation und/oder eine von Komplexität gekennzeichnete Handlungs- (Blätte 2013, 54) und/oder Lebenssituation (Fischer/Thomann 2013, 132) sein. Reinhardt (2010) beschreibt den Fall als ein Ereignis oder einen Vorfall mit handelnden (individuellen) Akteuren (oder einem einzelnen Akteur) und hebt dabei vor allem die Einmaligkeit und Konkretheit sowie einen definierbaren Anfang und ein (zukünftiges) Ende als zentrale Eigenschaften hervor (Reinhardt 2010, 122). Kaiser (1983) betont, dass der Fall Urteile, Meinungen und die Äußerung von Sichtweisen auf Seiten der Lernenden provozieren sollte (Kaiser 1983, 18). Diese Eigenschaften beziehen sich also auf den Fall als solches, nicht auf seine methodische Umsetzung.
Methode
In der ethnografischen Bildungsforschung ist neben dem Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten im Feld das Anregungs- und Irritationspotenzial für fachdidaktikwissenschaftliche Theoriebildung das zentrale Merkmal dieser Forschungsrichtung (Kalthoff 2012, 34). Allgemein geht es bei dem qualitativen Forschungsdesign der Ethnografie darum, Kulturen in der Gesellschaft zu erforschen, da letztere sich durch eine hohe Differenzierung und Pluralisierung auszeichnet und dadurch Fremdheitserfahrungen in verschiedenen Formen auch in der eigenen Gesellschaft möglich sind (Lüders 2000, 390). Grundlegendes Ziel der Ethnografie als qualitativer Forschungsansatz ist es, den Vollzug sozialer Praktiken und damit insbesondere diskursive und stumme Wissens- und Praxisformen von einzelnen Feldern durch die Forschung zu explizieren (Breidenstein u.a. 2013, 7). Dabei wird der Ethnograf oder die Ethnografin selbst zum Forschungsinstrument (Breidenstein u.a. 2013, 37), indem er oder sie sich vor allem durch die teilnehmende Beobachtung dem Feld unvoreingenommen nähern soll (Lüders 2000, 386). Dabei soll die teilnehmende Beobachtung, die subjektiven Denk- und Bewertungsmuster der Feldteilnehmerinnen und -teilnehmer, die die Interaktionen und Strukturen des Feldes bestimmen, nachzuvollziehen (Otten 2011, 9ff.). Umgesetzt wurde die Ethnografie auch mit der Methode des ero-epischen Gesprächs nach Girtler (2001). Die Auswertung der Daten erfolgte mit dem offenen Codieren.
Ergebnisse
Die Analyse der Daten ergab, dass aus Sicht der Feldteilnehmer ein Bündel von Eigenschaften Fälle kennzeichnet: die Transferfähigkeit der gewonnenen Einsichten, Anschaulichkeit, verallgemeinerbare Sachverhalte, neue Perspektiven auf Probleme, ein induktiver Zugang und die Berührung der Lebenswirklichkeit werden analog zu der Literatur (Breit/Weißeno 2008; Reinhardt 2010; Grammes 2005) genannt.
Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist, dass aus Sicht der Feldteilnehmerinnen und -teilnehmer das genauere Verhältnis zwischen Fall und Exemplarischem Lernen bestimmt werden müsste, da die Lehrkraft äußerte, dass für sie die fachdidaktischen Begriffe nicht klar strukturiert und die Begrifflichkeiten Exemplarität, Verallgemeinerung und Transfer schwer voneinander abzugrenzen seien. Somit hinterfragt dieser Aspekt deutlich, ob das Fallprinzip als eine der Leitvorstellungen der Politikdidaktik angesehen werden kann (Blätte 2013, 53). Die angedeutete begriffliche Unschärfe und das Verhältnis der zentralen Begrifflichkeiten in der Literatur zeichnen sich somit in der Empirie fort. Ein weiteres Schlüsselthema der Gespräche waren die Hemmnisse der Umsetzung von Fällen wie z.B. Kontrolle, Leistungsüberprüfung und Sicherungsphasen im Unterricht, die von der Lehrkraft als organisatorische Hindernisse beschrieben werden.
Unter der analytischen Codeklasse „Falleigenschaften in der Praxis“ (Anwendung von Fällen) konnten viele Eigenschaften von Fällen definiert werden: Offenheit, Verallgemeinerungsfähigkeit, mögliche Problemhaltigkeit und Kontroversität, Entscheidungshaftigkeit, Perspektivübernahme, Akteursgebundenheit, Handlungsorientierung, Bedeutsamkeit und Betroffenheit (Reinhardt 2010; Grammes 2005/2014; Engartner 2010; Blätte 2013; Tedesco 1983; Kaiser 1983; Breit/Weißeno 2008) konnten als Falleigenschaften beobachtet und können in den vorhandenen theoretischen Kontext eingeordnet werden. Fälle zeichnen sich empirisch vor allem dadurch aus, dass Interessen, (Spontan-)Urteile, Wissensbestände und Fragen der Lernenden in einem hohen Maße in die Fallgestaltung und methodische Umsetzung und Unterrichtsplanung einfließen und fester Bestandteil eines jeden Falles sind. Es ist somit auch möglich, dass die Teilnehmenden des Feldes den induktiven Zugang und die Involviertheit in Bezug auf den Fall als notwenige Eigenschaft ansehen, die eine Behandlung des Falles im Unterricht überhaupt erst legitimiert. Auch die fortlaufenden Urteilsbildungen während der Fallbehandlung weisen auf diesen Aspekt hin. Es würde somit ein Leitbild von aktiven und betroffenen Lernenden von der Lehrerin etabliert werden, die sich selbstständig mit dem Fall auseinandersetzten. Diese Idealvorstellung findet sich auch in der beschriebenen Literatur wieder (Reinhardt 2010, 131; Kaiser 1983, 18).
In der Codeklasse „Beispiele als Umsetzung des Exemplarischen Lernens“ zeigte sich, wie Schülerinnen und Schüler sich in der Interaktion des Unterrichtes Illustrationen oder kurze Beispiele aneigneten: Je intensiver die Diskussion verlief, umso mehr griffen sie dabei auch auf thematisch benachbarte oder weiterführende Aspekte zurück. Daraus folgte in einigen Situationen, dass die Lernenden sich das Beispiel wiederum induktiv aneigneten, also selbstständig verallgemeinernde Aspekte herausstellten und ihre Einsichten selbstständig transferierten, wobei die Lehrkraft stets eine zurückhaltende Rolle einnahm. Damit zeigte sich, dass Beispiele nicht nur die zugrundeliegende Struktur des Unterrichts bilden, sondern dass einige durch die Lernenden exemplarisch/induktiv verwendet werden.
Diskussion der Ergebnisse/ Ausblick
Die Organisationsstrukturen der Schule scheinen ein großes Hemmnis bei der Anwendung von Fällen im Unterricht aus Sicht der Lehrkräfte zu sein. Wichtig wäre zu überprüfen, inwiefern ein Einsatz auch unter diesen Gegebenheiten möglich sein könnte.
Die fehlende Bereitschaft zur Umsetzung mag auch an der wenig konsistenten Definition der Begriffe durch die Lehrkraft liegen. Jedoch zeigt sich diese begriffliche Unschärfe ebenso auf theoretischer Ebene und zeichnet sich somit letztlich im Feld nur fort.
In der durchgeführten Studie konnte gezeigt werden, dass die Lehrkraft ein Idealbild des aktiven und betroffenen Lernenden aufzeigte und ein Großteil der Falleigenschaften unter dieser Perspektive formuliert zu sein scheinen, indem die Schülerorientierung bei der Planung und Reflexion des Unterrichtes eine zentrale Rolle einnimmt. Wird diese Perspektive als gegeben angesehen, führte dies in der Praxis zu einem Falleinsatz. Dagegen ist jedoch auch ein weiterer zentraler Befund dieser Arbeit, dass die Lehrkraft sowohl bei Fällen als auch bei dem sonstigen Unterrichtsverlauf als (deduktives) Korrektiv beschrieben werden kann und beim fallbasierten Unterricht die Verallgemeinerung/den Transfer selbst initiierte. In Hinblick auf die Funktion von Beispielen stellt sich die Frage, inwiefern diese Erkenntnis für das Exemplarische Lernen nutzbar gemacht werden kann, wenn sich die Praxis eher durch eine Nichtanwendung von Fällen kennzeichnen lässt und Beispiele prominent erscheinen lässt.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Fallbegriff, das Exemplarische (Lernen) und das Beispiel in der fachdidaktischen Theorie noch differenzierter zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, möchte man die theoretischen fachdidaktischen Grundlagen für eine differenzierte Anwendung in dem sozialwissenschaftlichen Unterricht – auch in Form einer Orientierung für die Lehrkräfte – schaffen.
Literatur
sowi-online Originalbeitrag
(c) 2017 Jan Handelmann; (c) 2017 sowi-online e. V., Bielefeld
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Exemplarisches Lernen und Exemplarisches Prinzip sowie Fall und Fallprinzip werden häufig synonym von den verschiedenen Autoren verwendet bzw. nicht voneinander abgegrenzt (Grammes 2014/2005; Reinhardt 2010). Teilweise wird jedoch das Beispiel als Oberbegriff für Fall verwendet und somit dem Fallprinzip und dem Fall gewissermaßen zwischengeschoben (Sander 2008, 194). Diese Unterscheidung findet sich in den übrigen berücksichtigten Veröffentlichungen so nicht explizit, so dass eine genauere Definition nicht möglich ist. ↩︎