Mit Effizienz in die ökonomische Bildung? Von der „ganzheitlichen Persönlichkeit“ zum „unternehmerischen Selbst“
Im Verhältnis von Bildung zu Fachlichkeit gab es vor einiger Zeit eine bemerkenswerte Veränderung im Vergleich zu früheren Formatierungen, als es noch stärker um die Anerkennung der ökonomischen Bildung als Allgemeinbildung ging. Markiert wurde diese Veränderung durch ein von bekannten Wirtschaftspädagoginnen bzw. Wirtschaftsdidaktikerinnen im Auftrag des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft erstelltes Gutachten zu Bildungsstandards in der ökonomischen Bildung (GGW 2010). Wo sonst auf die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung und auf die allgemeinbildenden Kräfte der technischen, ökonomischen und politischen Lebenswelt zumindest Bezug genommen wurde, wird hier ganz ohne pädagogischen „Zwischenschritt“ die wirtschaftswissenschaftliche Urteilskategorie der ökonomischen Effizienz direkt zur Bildungskategorie mit paradigmatischem Anspruch erklärt. Der entscheidende Satz hierzu im o. g. Gutachten lautet: „Sein (des Ökonomen; GEF) wichtigster Beurteilungsmaßstab für alternative Handlungen, Interaktionen und System ist Effizienz. Demzufolge muss es in der ökonomischen Bildung um die Entwicklung von Kompetenzen gehen, die das urteilende und handelnde Individuum dazu befähigen, mit knappen Mitteln besser (effizienter) zu wirtschaften – gleich in welchem Gegenstandsbereich.“ (GGW 2010: 17; Hervorhebung GEF). Mit anderen Worten: Der Erfolg ökonomischer Bildung (sic!) erweist sich unmittelbar in der Fähigkeit zu wirtschaftlich effizientem Handeln.
Das Konzept ökonomischer Bildung besteht hier nicht etwa darin, sich mit Entscheidungen im realen Bereich des Wirtschaftens, also bei Produktion, Verteilung und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen, nach eigenen wie auch nach übergeordneten z. B. sozialen, ethisch-moralischen, ökologischen und globalen Aspekten auseinanderzusetzen, d. h. solche Entscheidungen abwägen, beurteilen und gegebenenfalls begründet treffen zu können. Vielmehr geht es darum, wirtschaftliches Handeln unmittelbar nach dem wirtschaftlichen Effizienzprinzip vornehmen zu können. Das suggeriert die Möglichkeit von Sachentscheidungen, ohne sich der Werturteilsproblematik zu stellen. Fehlen aber Bildungs-, Subjekt- und Problembezug (Hedtke 2015: 59), verfehlt ökonomische Bildung ihren Bildungsanspruch.
Weitere Einwände gegenüber diesem reduktionistischen Ansatz ökonomischer Bildung:
(1) Der Bildungsanspruch wird nicht näher an der Effizienzkategorie selbst oder in ihrer Anwendung konkretisiert. Vielmehr findet er sich nur als eine Art Präambel den Bildungsstandards vorangestellt, indem die Begriffe „Mündigkeit, Tüchtigkeit, Verantwortung“ als schulformübergreifende Leitideen auf das Wirtschaftsleben bezogen werden (ebd.: 12). An anderer Stelle wird von Günther Seeber die Zusammengehörigkeit von Bildung und Fachlichkeit in die ökonomische Bildung schlicht hineindefiniert: “Der Anspruch, die Entwicklung einer autonomen und verantwortlich handelnden Persönlichkeit zu fördern, ist ihr (der ökonomischen Bildung; GEF) immanent.“ (Seeber 2014: 22) Die dazu im Weiteren entwickelte dreischrittige Anwendung von Urteilskriterien – 1. Ökonomische Bedingungsanalyse, 2. Ökonomische Konsequenzanalyse, 3. Ethisch-soziale Konsequenzanalyse – schränkt aber gleich zu Beginn die Beurteilung auf Handlungen ein, in denen sich ökonomische Anreize und Restriktionen auffinden lassen. Damit geraten die im Bereich des Wirtschaftens ebenfalls real vorfindlichen altruistischen oder eigen-motivierten Handlungen erst gar nicht in den Blick.
(2) Handlungsfähigkeit reduziert sich bei diesem Ansatz ökonomischer Bildung auf zweckrationales Entscheiden. Das „passt“ aber nur auf einen Teil der Handlungssituationen im Betrieb wie außerhalb des Betriebs. Die Zahl der „passender“ Fälle erhöht sich allerdings in dem Maße, in dem es „gelingt“, komplexe Situationen und Motivlagen durch den zwingenden Blick ökonomischer Effizienz allein auf eine ökonomische Entscheidung zu reduzieren. Hierzu passt die exklusive Art und Weise, wie das Effizienzkriterium in der konventionellen ökonomischen Bildung vermittelt wird: Sie verstärkt den bereits bestehenden Ökonomisierungsdruck noch.
(3) Mit der universalistischen Anwendung des Effizienzkriteriums („gleich in welchem Gegenstandsbereich“ s. o.) folgt die ökonomische Bildung einer Denkweise, die davon ausgeht, „dass der ökonomische Ansatz so umfassend ist, dass er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist.“ (Becker 1993: 7) Dieser Universalitätsanspruch bedeutet, den ökonomischen Ansatz schließlich auch auf sich selbst als Person anzuwenden, ein „unternehmerisches Selbst“ zu werden. Damit befördert die ökonomische Bildung in ihrem Mainstream den Zeitgeist der Ökonomisierung, der bereits 1997 in der Zukunftskommission Bayern-Sachsen seinen passenden Ausdruck fand: „Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge. (…) Diese Einsicht muss geweckt, Eigeninitiative und Selbstverantwortung, also das Unternehmerische in der Gesellschaft, müssen stärker entfaltet werden.“ (Kommission für Zukunftsfragen Bayern-Sachsen 1997: 36).
Im Unterschied zum Homo oeconomicus, der allgemein den Typus des nutzenmaximierenden Entscheiders verkörpert, steht sein “Abkömmling“, das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007: 12), für einen von der Politik gewollten Handlungstyp, der sich zur Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Problemlagen selbst als Unternehmen bzw. unternehmerisch verstehen soll (Rose 2000: 12). Er ist die neoliberale Antwort auf den Sozialstaat. Von Seiten der Politik – gestützt durch wissenschaftliche Beratung – soll der Einzelne wieder stärker in die Verantwortung für soziale Risiken einbezogen werden. In der Formel „vom aktiven zum aktivierenden Sozialstaat“ findet diese Politik ihren treffenden Ausdruck.
Hierzu beispielhaft der Wandel in der Beschäftigungspolitik: Bis zu Beginn der 1990er Jahre gab es in Deutschland eine kompensatorische Beschäftigungspolitik mit makropolitischen Instrumenten und Lohnausgleich für zeitweilige Nichtarbeit. Mit Beginn der 1990er Jahre gibt es verstärkt Aktivierungsstrategien mit Kopplung von Lohnersatzleistungen an die individuellen Anstrengungen zur Integration in den Arbeitsmarkt; Arbeitslosigkeit wird stärker auf der Mikroebene gesehen als Resultat freiwilliger Entscheidung; es erfolgt begrifflich die Umwandlung von Arbeitslosen in „aktiv Arbeitsplatzsuchende“ („unternehmerische Selbste“). Ein weiteres Beispiel ist der Wandel im Gesundheitswesen mit der Tendenz weg von der öffentlichen hin zu privater Vorsorge. Beide Beispiele folgen dem Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“
Die Rolle der konventionellen ökonomischen Bildung, die der umfassenden Anwendung des Effizienzprinzips und damit dem unternehmerischen Selbst folgt, lässt sich vor diesem Hintergrund klarer bestimmen. Sie trägt dazu bei, dass im Zuge der Individualisierung, durch die das Subjekt im Modernisierungsprozess an Autonomie gewinnt, das aus traditionalen Bindungen sich lösende bzw. sich emanzipierende Subjekt zum sich selbst unterwerfenden Subjekt wird (Rosa u. a. 2013: 287).
So hat sich in der ökonomischen Bildung das neuhumanistische Ziel der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung schließlich unter der Hand in das Ziel der Förderung des unternehmerischen Selbst gewandelt. Die Ökonomisierung der Gesellschaft hat schließlich auch die ökonomische Bildung in ihrem Mainstream erreicht, die nun aktiv an der Ökonomisierung mitwirkt, ohne diese Mitwirkung selbst zu thematisieren.
Eine (kritische) sozioökonomische Bildung (vgl. Fischer/Zurstrassen 2014) geht davon aus, dass das menschliche Handeln nur eingeschränkt rational ist. Hieraus ergibt sich, dass sich die Lernenden einerseits die Fähigkeit zu angepasstem (rationalem) praktischem Verhalten aneignen (z. B. Urteilen und Handeln nach der Effizienznorm). Andererseits können sie im praktischen Handeln aber auch „Widerstand und Eigensinn“ geltend machen (Graefe 2010), wie am Umgang mit dem Effizienzprinzip zu zeigen ist. So definieren Wöhe/Döring in ihrem Standardlehrbuch der Betriebswirtschaftslehre wie folgt: “Die Effizienz, d. h. das Verhältnis von wertmäßigem Output zu wertmäßigem Input, ist für den Ökonomen der allein gültige Maßstab zur Beurteilung betrieblicher Handlungen.“ (Wöhe/Döring 2013: 8; GGW 2010: 17) Die Klarheit und Eindeutigkeit dieser theoretischen Formulierung korrespondiert nun allerdings gerade nicht mit ihrer praktischen Anwendbarkeit und Anwendung. Anders gesagt, der Effizienz-Maßstab ist sehr häufig nicht operabel, denn er erfordert eine „gut strukturierte Handlungssituation“ im Verhältnis von Input- zu Output-Größen (Budäus 1996: 85). Diese Situation, d. h. die Kenntnis der Produktions- bzw. Kostenfunktion, ist aber nur eingeschränkt gegeben.
Für eine (kritische) sozioökonomische Bildung ergeben sich also beim Schritt vom Modell in die Realität grundsätzlich Handlungsalternativen. Im Idealfall entdecken die Lernenden selbst die Handlungsalternativen. Es bleibt aber auch die Möglichkeit, ihnen Handlungsoptionen aufzuzeigen, über die sie letztlich selbst entscheiden können.
Gegenüber dem o. a. reduktionistischen Ansatz muss in einem ergebnisoffenen Prozess den Lernenden überlassen bleiben, welches spezifische Gewicht sie der rationalen Entscheidung und der ökonomischen Dimension gegenüber der emotionalen Entscheidung und anderen Dimensionen wie der sozialen, ökologischen, rechtlichen oder anderen zuordnen. Erst die auch sichtbar gemachte Offenheit bzw. Pluralität der Entscheidungssituationen in der Realität bietet den Lernenden die Chance, sich zu bilden und sich von herrschenden Prinzipien und Ordnungen zu distanzieren und in Alternativen zu denken und zu handeln (vgl. Hedtke 2014: 86).
Literatur
Becker, Gary S. (1993): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. 2. Aufl., Tübingen.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.
Budäus, Dietrich (1996): Wirtschaftlichkeit. In: Naschold, Frieder u. a. (Hrsg.): Leistungstiefe im öffentlichen Sektor. Berlin, S. 81 – 99.
Fischer, Andreas/Zurstrassen, Bettina (2014): Sozioökonomische Bildung. Bonn.
GGW (2010) (Gemeinschaftsausschuss der deutschen gewerblichen Wirtschaft) (Hrsg.): Ökonomische Bildung an allgemein bildenden Schulen - Standards für die Lehrerbildung. Studie im Auftrag des Gemeinschaftsausschusses der deutschen gewerblichen Wirtschaft unter Vorsitz des ZDH (2009/2010). Autoren: Jongeblod, H.-C./ Remmele, B./ Retzmann, T./ Seeber, G., Essen-Lahr-Kiel. Online http://www.zdh.de/fileadmin/user_upload/presse/Pressemeldungen/2010/Gutachten.pdf (aufgerufen am 16.10.2012).
Graefe, Stefanie (2010): Effekt, Stützpunkt, Überzähliges? Subjektivität zwischen hegemonialer Rationalität und Eigensinn. In: Angermüller, Johannes/van Dyk, Silke (Hrsg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Macht und Wissen. Frankfurt/M., S. 289 – 313.
Hedtke, Reinhold (2014): Was ist sozio-ökonomische Bildung? Perspektiven einer pragmatischen fachdidaktischen Philosophie. In: Fischer/Zurstrassen, a.a.O., S. 81 – 127.
Hedtke, Reinhold (2015): Zur bildungstheoretischen Begründung, allgemeindidaktischen Gestalt und sozialwissenschaftlichen Basis der sozioökonomischen Bildung – eine systematisierende Heuristik. Unveröff. Manuskript. Bielefeld.
Kommission für Zukunftsfragen Bayern – Sachsen (Hrsg.) (1997): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn.
Rosa, Hartmut/Strecker, David/Kottmann, Andrea (2013): Soziologische Theorien, 2. Aufl., Konstanz/München.
Rose, Nikolas (2000): Das Regieren von unternehmerischen Individuen. In: Kurswechsel. H. 2, S. 8 - 26.
Seber, Günther (2014): Ist sozioökonomische Bildung die bessere ökonomische Bildung? Anmerkungen zu einer Begriffsverwirrung. In: Müller, Christian u. a. (Hrsg.): Bildung zur sozialen Marktwirtschaft. S.19 - 31.
Wöhe, Günter/Döring, Ulrich (2013): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 25. Aufl. München.