„Was ist eigentlich eine Familie?“ - SchülerInnen-Präkonzepte von Familie heute

Autoren: Katharina Stürmer und Daniel Keil

Betreuung: Karsten Riß (Universität Köln)

Ausgangspunkt/Fragestellung

Das vorliegende Studienprojekt analysiert die Präkonzepte von Familie heute, die vor dem Hintergrund der Pluralisierung der Lebensformen einem stetigen Wandel unterliegen. Obwohl die Mehrheit der Kinder nach wie vor in konventionellen Kernfamilien aufwächst, hat sich eine Vielzahl nicht-konventioneller Familienformen ausdifferenziert, die in der Familienforschung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Nach Lange und Fischer (2014) können die Vorstellungen der Lernenden als Ausgangs- und Endpunkte der Unterrichtsvorhaben verstanden werden. Sie liefern Informationen, die es Lehrkräften nicht nur ermöglichen, diagnostisch tätig zu werden, sondern auch, ihren Unterricht gezielt planen und adaptieren zu können. Ziel dieses Studienprojektes war es, herauszufinden, welche Vorstellungen von Familie SchülerInnen heute haben. Daher beinhaltet das Forschungsvorhaben eine differenzierte Analyse, inwiefern die Pluralisierung der Familienformen bereits in den Präkonzepten der SchülerInnen verankert ist, so dass SchülerInnen, wenn sie nach ihren Vorstellungen von Familien gefragt werden, neben der klassischen Kernfamilie auch nicht-konventionelle Familienformen beschreiben, beziehungsweise auf deren Existenz verweisen.

Theoretischer Rahmen

Der theoretische Rahmen, vor dem die Ergebnisse interpretiert werden sollten, umfasst die Konzepte der Familie, des sozialen Lernens, sowie der Erforschung von Präkonzepten, die in einer Wechselbeziehung zueinander stehen und im Folgenden kurz erläutert werden.

Im Zuge der zunehmenden Bedeutung der Präkonzeptforschung im sozialwissenschaftlichen Kontext verfolgte dieses Studienprojekt das Ziel, SchülerInnenpräkonzepte zum Thema „Familie heute“ zu erfassen. Während dieser Forschungsbereich bereits seit den 1970er Jahren in den naturwissenschaftlichen Didaktiken Beachtung findet, wird in der politischen Bildung die Aussagekraft der Deutungs- und Aneignungsperspektiven bisher wenig beachtet, obwohl diese wichtige Informationen für die Schaffung nachhaltiger Lernprozesse liefern können (Lange & Fischer, 2014, S. 95f.).

Für die überwiegende Anzahl der Kinder stellt Familie einen elementaren Bezugspunkt dar. Im Vergleich zu ihrer allgemeinen Fürsorge- und Erziehungsfunktion stellen Andresen et al. (2007) die sogenannten strong ties in den Vordergrund. Dieser Begriff beschreibt das besondere soziale Kapital, das aus „starken, engen emotional gesteuerten Beziehungen zwischen den Angehörigen“ resultiert. Nicht die materielle Versorgung kennzeichnet für die befragten Kinder das Besondere des Zusammenlebens als Familie, sondern Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen und soziale Stabilität. Familie stellt für die befragten Kinder einen „sicheren Hafen“ im Alltag dar (Andresen et al., 2007, S. 65; Andresen et al., 2013, S. 79).

Soziales Lernen bildet die sozialen Kompetenzen aus, die grundlegend sind, um adäquat mit der sozialen Umwelt interagieren zu können. Ripplinger (2011) verweist in diesem Zusammenhang auf Niklas Luhmann, der verdeutlicht, dass vieles, was sich früher im Verlauf des Lebens fast schon automatisch ergab, heute vom Individuum aus einer Vielzahl an Wahlmöglichkeiten eigenverantwortlich entschieden werden muss. Dieser Entscheidungsprozess setzt ein hohes Maß an sozialer Kompetenz voraus. Für die SchülerInnen ist soziales Lernen wichtig, um mit ihrer sozialen Umwelt und den Entscheidungen und Herausforderungen unserer heutigen Gesellschaft umgehen zu können (Ripplinger, 2011, S. 2).

Im Folgenden werden die drei Konzepte, die den theoretischen Rahmen bilden, tabellarisch zusammengefasst.

Präkonzepte

Lebensweltliche Erläuterungen, Ideen und Wahrnehmungen zu einem Thema oder einem Phänomen, die aus der Lebenswelt der SchülerInnen entspringen (Lutter, 2011, S. 92ff.).

Familie

Peuckert (2007, S. 36) definiert Familie als Lebensform, die „einen dauerhaften und im Inneren durch Solidarität und persönliche Verbundenheit charakterisierten Zusammenhang aufweist“. Während früher eine biologische Vater- beziehungsweise Mutterschaft ausschlaggebend für die Elternschaft war, kann heute zumindest bei einem Elternteil das soziale Verständnis als „Vater“ oder „Mutter“ die biologische Komponente ersetzen.

Soziales Lernen

Familie bildet stets eine Gemeinschaft, die Möglichkeiten bietet, handlungsorientiertes Lernen erfahrbar zu machen. Dies geschieht beispielsweise durch Zusammenhalt, gegenseitige Rücksichtnahme und das Erleben von hierarchischen Strukturen, um die Eingliederung in die Gemeinschaft zu erfahren (Korbmacher, 1992).

Methode

Als qualitatives Erhebungsinstrument liegt der Studie ein problemzentriertes Interview zugrunde, welches sich eines sprachlichen Zugangs bedient, um die aus der Theorie gewonnenen Konzepte des Forschers anhand der subjektiven Äußerungen der Interviewten zu ermitteln. Ein Außerirdischen-Szenario (vgl. Baar, 2014) diente als Erzählstimulus für das Gruppeninterview, bei dem die SchülerInnen einem Außerirdischen erklären sollten, was eine Familie ist. Um diese subjektiven Theorien untersuchen zu können, diente die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2002, S.114ff.) als Grundlage für die Auswertung des Leitfadeninterviews. Der Grundgedanke dieser Inhaltsanalyse ist es, Texte systematisch und regelgeleitet zu untersuchen.

Erhebungsinstrument

problemzentriertes Leitfadeninterview mit jeweils zwei SchülerInnen

Erzählstimulus

Außerirdischen-Szenario

Stichprobe

n = 16; davon:

  • 10 SuS einer Realschule

  • 6 SuS eines Gymnasiums

Ergebnisse

Während die Antworten auf die Fragen „Was stellt ihr euch unter Familie vor?“ (Frage 1) und „Was fällt euch ein, wenn ihr den Begriff ‚Familie’ hört?“ (Frage 2) ein Verständnis von Familie als biologische Konstellation erkennen lassen, wird in den Rückmeldungen zu den Fragen „Was macht eine Familie für euch aus?“ (Frage 4) und „Warum ist eine Familie für euch wichtig?“ (Frage 5) deutlich, dass die SchülerInnen die soziale Ebene (emotionale Sicherheit, Fürsorge, soziale Gemeinschaft) als besonderes Merkmal der Familie wahrnehmen. In den Antworten auf Frage 3 („Wer gehört für euch zu einer Familie dazu?“) lässt sich die deutliche Entwicklung hin zu einem weiter gefassten Familienbegriff erkennen, der über die konventionelle Familie hinaus reicht. Lediglich zwei der 16 befragten SchülerInnenantworten repräsentieren konventionelle Familienformen. Frage 6 („Gibt es bestimmte Aufgaben, die die einzelnen Familienmitglieder erledigen (sollten)?“) zeichnet einen allgemeinen Trend hin zu einer flexiblen Rollenverteilung, sei es in Bezug auf Haus- oder Erwerbstätigkeit, in den erfassten Konzepten der SchülerInnen. Die SchülerInnen-vorstellungen vom Leben vor 100 Jahren (Frage 7: „Könnt ihr euch vorstellen, wie Familien vor 100 Jahren gelebt haben? Vergleiche das Familienleben früher mit dem heute.“) beziehen sich überwiegend auf die materielle Ebene, die sich in den Kategorien des technologischen Fortschritts und der Zunahme des materiellen Wohlstands widerspiegeln. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die befragten SchülerInnen vor allem auf die Konstellation und den Alltag ihrer eigenen Familien zurückgreifen, um das Konzept Familie zu erklären. Ein Bewusstsein über die Pluralisierung der Familienformen lässt sich insofern erkennen, als dass etwa ein Drittel der befragten SchülerInnen neben Eltern, Geschwistern und Verwandten auch FreundInnen und Haustiere zu einer Familie dazuzählen.

Diskussion der Ergebnisse/Ausblick

In den Ergebnissen lassen sich ebenfalls die zwei von Baar (2014) herausgestellten Ebenen biologische Konstellation und soziale Gemeinschaft identifizieren. Familie wird überwiegend wie in der Literatur als „sicherer Hafen“ (Albert et al., 2015; Andresen et al., 2013) verstanden. Der besondere Fokus liegt hierbei auf der sozialen Gemeinschaft, bestehend aus Fürsorge und emotionaler Sicherheit. Insgesamt lässt sich ein erweitertes Verständnis des Familienbegriffes in den Präkonzepten der SchülerInnen erkennen. Da Verlässlichkeit häufig auch außerhalb der Familie gefunden wird, ist es denkbar, dass der Familienbegriff sich in Zukunft auch auf das Freundschaftsnetzwerk ausweitet, so dass die Grenze zwischen Familie und Freundschaft immer mehr verschwimmt (Kuhnt & Steinbach 2014). Als Ausblick für weitere Studien sollten die Präkonzepte über den Rahmen dieses Forschungsvorhabens umfangreicher und differenzierter exploriert werden. So kann im Sinne des forschenden Lernens nach Schneider und Wildt (2004) ein „wissenschaftsgeprägte[r] Zugang zur pädagogischen Berufspraxis“ gewährleistet werden.

Literatur

Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G., Shell Deutschland Holding GmbH & TNS Infratest Sozialforschung (Hrsg.). (2015). Jugend 2015: eine pragmatische Generation im Aufbruch (Shell-Jugendstudie)

Andresen, S., Hurrelmann, K., World Vision Deutschland e.V. & TNS Infratest Sozialforschung (Hrsg.). (2013). Wie gerecht ist unsere Welt?

Andresen, S., World Vision Deutschland e.V., Hurrelmann, K. & TNS Infratest Sozialforschung (Hrsg.). (2007). Kinder in Deutschland 2007: 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main: Fischer.

Baar, R. (2014). Erkläre, was Familie ist! Präkonzepte von Kindern im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht.

Korbmacher, K. (1992). Eine didaktische Konzeption handlungsorientierten Lernens.

Kuhnt, A.-K. & Steinbach, A. (2014). Diversität von Familie in Deutschland. In A. Steinbach, M. Hennig & O. Arránz Becker (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft (S. 41–70). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Lange, D. & Fischer, S. (2014). Qualitative empirische Forschung zur politischen Bildung (Reihe Politik und Bildung).

Lutter, A. (2011). Methoden zur Diagnose und Evaluation von Schülervorstellungen im sozialwissenschaftlichen Unterricht (Sozialwissenschaften unterrichten).

Mayring, P. (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung: eine Anleitung zu qualitativem Denken (Beltz Studium) (5. Aufl.). Weinheim ;Basel: Beltz.

Peuckert, R. (2007). Zur aktuellen Lage der Familie.

Ripplinger, J. (2011). Lernziel Sozialkompetenz - Wie Schulen soziales Lernen systematisch fördern können.

Schneider, R. & Wildt, J. (2004). Forschendes Lernen im Berufspraktischen Halbjahr.

sowi-online Originalbeitrag

(c) 2016 Katharina Stürmer und Daniel Keil; (c) 2016 sowi-online e. V., Bielefeld

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