Eine ethnografische Studie zur didaktischen Inszenierung des fachdidaktischen Prinzips der Kontroversität im sozialwissenschaftlichen Unterricht

Autor: Marius Schröter

Betreuung: Gunnar Rettberg (Universität Bielefeld)

Ausgangspunkt/Fragestellung

„Das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, soll auch in Lehre, Unterricht und Lernen als kontrovers erscheinen.“ (Hedtke, Weber 2008: 202) Dieses Zitat beschreibt den Grundgedanken des fachdidaktischen Prinzips der Kontroversität. Bei der Planung und Durchführung von sozialwissenschaftlichem Unterricht ist dies stets zu beachten. Zusammen mit dem Überwältigungsverbot und dem Gebot der Schülerorientierung bildet es den Beutelsbacher Konsens von 1976 (vgl. Scherb 2007: 31-32). Bereits der Begriff des Konsens suggeriert, dass die Anwendung dieser Prinzipien in der politischen Bildung unter Lehrenden auf einer hohen Einigkeit und Akzeptanz beruht. Auch in der fachdidaktikwissenschaftlichen Literatur wird dies betont (vgl. Grammes 2014: 266).

Außerhalb des Lernorts Schule gehört Kontroversität zum Normalfall (vgl. Grammes 2014: 269). Politische, ökonomische und gesellschaftliche Diskurse sind durch gegensätzliche Meinungen oder Perspektiven geprägt. Diese Wirklichkeit soll durch den Lehrenden mithilfe der Fachdidaktik im Unterricht inszeniert werden (vgl. Jank, Meyer 2003: 112). Unterricht wird also als eine Rekonstruktion der Wirklichkeit verstanden. Eine Orientierung am fachdidaktischen Prinzip der Kontroversität dient dem Lehrenden dazu, eine kontroverse Lernumgebung im Unterricht zu inszenieren. Das in Szene setzen von Unterricht, im Speziellen von Kontroversität, durch die Lehrkraft findet dabei nicht immer bewusst statt: Meyer und Jank verweisen hierbei auf Routinen, die bei der Planung und Gestaltung von Unterricht eine Rolle spielen und nennen sie „Inszenierungsmuster“ (vgl. ebd.: 114). Beim Betrachten von Routinen spielt implizites Wissen eine besondere Bedeutung (vgl. Jörissen, Zirfas 2010: 210).

Ausgehend von diesen Vorüberlegungen beschäftigt sich die durchgeführte ethnografische Studie mit der Fragestellung, wie Kontroversität durch das fachdidaktischen Prinzip durch die Lehrenden im Unterricht inszeniert wird und weiterführend, was als das „Kontroverse“ inszeniert wird. Dabei wird untersucht, welche fachdidaktikwissenschaftlichen Annahmen zum Kontroverstitäsgebot existieren und wie diese empirisch umgesetzt werden.

Theoretischer Rahmen

Fachdidaktische Prinzipien im Allgemeinen und das fachdidaktische Prinzip der Kontroversität im Speziellen bilden den theoretischen Rahmen dieser ethnografischen Studie. Sie können als Regeln aufgefasst werden, anhand derer Unterricht durch den Lehrenden geplant und durchgeführt werden soll (vgl. Engartner 2010: 85). Dadurch erlangen sie einen normativen Charakter und können auch als Gütekriterien von Unterricht verstanden werden (vgl. Sander 2008: 191 & Reinhardt 2001: 147).

Mithilfe von fachdidaktischen Prinzipien können Lehrkräfte im Unterricht politische, ökonomische und gesellschaftliche Gegenstände aus einer bestimmten Perspektive heraus beleuchten (vgl. Sander 2008: 191). Die didaktische Vorgehensweise der Lehrenden wird dabei aber nicht immer neu erfunden: Lehrerinnen und Lehrer greifen bei der Planung und Gestaltung von Unterricht stattdessen auf (eigene) Inszenierungsroutinen zurück, sogenannte Inszenierungsmuster (vgl. Jank, Meyer 2003: 114). Solche Routinen werden durch Berufserfahrung aufgebaut und sind nur schwer zu verändern (vgl. Petrik 2012: 11). Routinen sind durch implizites Wissen geprägt (vgl. Hedtke 2003: 20 & Jörissen, Zirfas 2010: 210).

Dieser theoretische Rahmen wird durch das Forschungsdesign/Methoden der Ethnografie ergänzt: Nur dadurch, dass sich der Forschende auf Augenhöhe mit den Feldteilnehmenden bewegt, kann er es schaffen, das implizite Wissen, das sich in sozialen Praktiken zeigt, zu verbalisieren, also zu explizieren (vgl. Breidenstein 2013: 33).

Methode

Die Ethnografie als Forschungsdesign wurde bereits im Voraus festgelegt. Vorweg wurde Methodenwissen als Vorbereitung aufgebaut, um im Feld dann situativ entscheiden zu können, welche Methode die beste Wahl ist (vgl. Lüders 2000: 394). Als konkrete Erhebungsinstrumente kamen teilnehmende Beobachtung und ero-epische Gespräche zum Einsatz.

Das Studienprojekt verfolgte das Ziel, das implizite Wissen der Lehrkräfte über Kontroversität zu erforschen. Für ein solches Forschungsinteresse ist die Ethnografie besonders geeignet, da hier im Sinne der Alltagssoziologie bekannte soziale Praktiken aus dem Lernort Schule befremdet werden, um einen Blick auf das zugrundeliegende Wissen von Kontroversität zu erlangen. Kontroversität kann als ein grundlegendes Element der politischen Bildung aufgefasst werden und soll aufgrund dieser Eigenschaft untersucht werden. Besonders Dinge, die als selbstverständlich gelten, gelangen durch die Ethnografie in den Mittelpunkt der Forschung (vgl. Breidenstein u.a. 2013: 35-36). Die theoretische Auseinandersetzung mit Theorien, Methoden und wissenschaftlichen Diskursen fand kontinuierlich während des gesamten Forschungsprozesses (Vorbereitungsseminar, im Feld, Analysephase, Schreibphase) statt und charakterisiert die Ethnografie (vgl. Breidenstein u.a. 2013: 176).

Ergebnisse

Es lässt sich zeigen, dass das Kontroversitätsprinzip des Beutelsbacher Konsens im Unterricht Anwendung findet und somit die normativen Vorgaben des Prinzips umgesetzt werden. Die Lehrenden besitzen unterschiedliche Auffassungen und unterrichtspraktische Routinen im Hinblick darauf, wie kontroverser Unterricht zu inszenieren ist. Diese unterschiedlichen Auffassungen und Routinen konnten durch die teilnehmende Beobachtung und die ero-epischen Gespräche entdeckt werden. Zu erkennen ist eine hohe Verknüpfung mit anderen fachdidaktischen Prinzipien: Problemorientierung, Aktualität. Der Kernlehrplan als thematisches und zeitliches Gerüst für den Unterricht wird teilweise als hinderlich festgestellt. Um Unterricht kontrovers zu gestalten, werden aktuelle politische Themen integriert und die Rahmenvorgaben des Kernlehrplans ergänzt. Weitere Perspektiven und Positionen aus der „Wirklichkeit“ gelangen dadurch in die Welt des Unterrichts. Das Konzept der „aktuellen Unterrichtsstunde“ ist somit auch ein Beispiel für eine Verknüpfung mit anderen fachdidaktischen Prinzipien (Aktualität). Auch didaktisch-methodisch wird lehrergesteuert kontroverser Unterricht inszeniert, beispielsweise durch externe Expertise oder tieferführende Analyse von Schulmaterialquellen.

Diskussion der Ergebnisse/Ausblick

Es hat sich gezeigt, dass das fachdidaktische Prinzip der Kontroversität oft nicht isoliert im sozialwissenschaftlichen Unterricht Anwendung findet. Stattdessen ist es verknüpft/kombiniert mit anderen fachdidaktischen Prinzipien. Daraus lässt sich schließen, dass das Prinzip der Kontroversität ein grundlegendes Element der politischen Bildung darstellt, dessen Anwendung auf einem Konsens beruht. Dies wird auch in der Praxis deutlich, die Rahmenvorgaben des Kernlehrplans zu ergänzen, um kontroversen Unterricht zu gestalten. Die lehrergesteuerte Inszenierung, beispielsweise durch externe Expertise, unterstreicht dessen besondere Bedeutung im Unterricht.

Literatur

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., Nieswand, B. (2013): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

Engartner, T. (2010): Didaktik des Ökonomie- und Politikunterrichts. Paderborn: Schöningh.

Grammes, T. (2014): Kontroversität. In: Sander: Handbuch politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag. 4. völlig überarbeitete Auflage.

Hedtke, R. (2003): Das unstillbare Verlangen nach Praxisbezug. Zum Theorie-Praxis-Problem der Lehrerbildung am Exempel Schulpraktischer Studien. Bielefeld. Online: http://www.uni-bielefeld.de/soz/ag/hedtke/pdf/praxisbezug_lang.pdf [Datum der Recher-che: 11.03.2016]

Hedtke, R. (2008): Wörterbuch ökonomische Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag.

Jank, W., Meyer, H. (2003): Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen Verlag. 5. Auflage.

Jörissen, B., Zirfas, J. (2010): Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lüders, C. (2000): Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick, U., Kardorff, E. v., Steinke, I.: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. S.384-401. Reinbek bei Hamburg: Ro-wohlt.

Petrik, A. (2012): Der heimliche politikdidaktische Kanon. Acht fachdidaktische Prinzipien und sechs „teacher beliefs“ als Kern einer kompetenzorientierten Politiklehrerausbildung. In: Juchler, I.: Unterrichtsleitbilder in der politischen Bildung: Theoriebildung – Praxisrele-vanz – Kontroversen. Schriftreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Ju-gend und Erwachsenenbildung. Schwalbach: Wocheschau-Verlag. Online: http://www.lpb-mv.de/cms2/LfpB_prod/LfpB/_downloads/Jahreskongress_2011_Petrik_politikdidaktische-Kanon.pdf [Datum der Recherche: 21.03.2016]

Reinhardt, S. (2001): Fachdidaktische Prinzipien als Brücken zwischen Gegenstand und Me-thode: Unterrichtsplanung. In: Autorengruppe Fachdidaktik: Konzepte der politischen Bil-dung. Eine Streitschrift: 147-162. Schwalbach: Wochenschau-Verlag.

Sander, W. (2008): Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen Politischer Bildung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag.

Scherb, A. (2007): Der Beutelsbacher Konsens. In: Lange, D.: Strategien der politischen Bil-dung. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.

sowi-online Originalbeitrag

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