Was hat Inklusion mit politischer Bildung zu tun?
Oder sollte man lieber fragen, was wäre Inklusion ohne politische Bildung? Die Inklusion, eines der häufigsten und wichtigsten Termini, die derzeit deutsche Bildungslandschaften prägen, die Bildungssysteme umstrukturieren, teilweise neue Felder für die Didaktiken darstellen und auch die professionelle Selbstwahrnehmung der Lehrkräfte, Studierenden im Lehramtsstudium und nicht zuletzt der Lehrerbildner_innen an den Hochschulen herausfordern.
Durch die im Zuge der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entstandene Verpflichtung Deutschlands, für alle Lernenden die vollständige Teilhabe am Bildungssystem zu garantieren, sind Diskussionen initiiert worden, welche die Gruppe der Lernenden mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf in den Vordergrund der Bildung rückten. Die Diskussionen über die Teilhabe an den Lernprozessen verlaufen entlang sehr relevanter und brisanter Fragen der Differenzierung im Unterricht, der Vorbereitung von Lehrkräften auf das gemeinsame Unterrichten und der Reaktion des Bildungssystems auf die Wünsche und Besonderheiten aller Lernenden.
Und doch: Was bedeutet solch eine Fokussierung für die Lernenden und was bedeutet sie für die Sowi/Powi-Didaktik? Bzw. was wäre als ein spezifischer Sowi/Powi-Beitrag zur Inklusion denkbar? Die Fokussierung auf eine Lernendengruppe oder auf die spezifischen Herausforderungen, die mit Beeinträchtigungen zu tun haben, sind ressourcenbindend und zweckmäßig prioritätensetzend. D.h., wenn sich das Bildungssystem auf ein Spezifikum der Lernenden oder ein bildungsrelevantes Heterogenitätsmerkmal (in diesem Sinne müsste man von einem Ungleichheitsmerkmal sprechen vgl. Faist 2011; Diewald and Faist 2011, denn aufgrund der Ressourcenverteilung wird angenommen, dass ein Heterogenitätsmerkmal für die Bildungserfolge der Lernenden von Nachteil sein kann und ausgeglichen werden muss) intensiv konzentriert, blendet es die anderen Heterogenitätsaspekte oder auch die Intersektionalität der Ungleichheitsaspekte aus. Andere Ursachen für Ungleichheit geraten aus dem Fokus (z.B. das mögliche gegenseitige Verstärken von Heterogenitätsaspekten wie Gender, körperliche Beeinträchtigung und ggf. wirtschaftliche Benachteiligung, kann nicht intensiv betrachtet werden). Jenseits der Differenzierung in Bezug auf die Inklusion, mit der sich alle Fächer befassen müssen, gibt es besondere thematische Anbindungen, die die Sowi/Powi-Didaktik nutzen kann und sollte, um die Heterogenität der Lernenden anzusprechen. Die Teilhabe, als eine der zentralen Kategorien der politischen Bildung, ist zugleich die zentrale Kategorie des bildungsspezifischen Inklusionsdiskurses. Und hier sehe ich eine Besonderheit der Sowi/Powi-Didaktik, die zu Ent-Priorisierung von jeweiligen Inklusionsaspekten und zu einem ganzheitlichen Blick auf die Inklusion verhelfen kann. Basieren die Sowi/Powi-Fächer auf den sozialwissenschaftlichen Theorien der Partizipation, der demokratischen Teilhabe und der Heterogenität (Diewald and Faist 2011, Norris 2011 usw.), so sollte sich solch eine Didaktik die Frage stellen können, ob es Lernendengruppen gibt, die bereits „vollkommen“ inkludiert sind, die keine bildungsrelevanten Heterogenitätsmerkmale aufweisen, die zu Ungleichheiten, d.h. eingeschränkter Teilhabe führen (können)? Steht diese Frage im Raum, so ist die einzig mögliche Antwort negativ. Vielmehr ist es so, dass die Betrachtung einzelner Gesellschaftsphänomene (z.B. Europäische Integration, Globalisierung, Migrationsprozesse, Wirtschaftskrise, Veränderung der Altersstrukturen der Gesellschaft, Entwicklungen im Bereich der Gleichstellung usw.) immer in Hinblick auf die (politische, soziale, wirtschaftliche usw.) Teilhabe stattfinden kann und immer auch eine Analyse dessen beinhalten kann, wer die Exkludierten der jeweiligen gesellschaftlichen/politischen Prozesse sind, bzw. wessen Teilhabe durch diese Prozesse beeinträchtigt wird. Somit verbindet das sozialwissenschaftliche das politische Lernen mit einem sensiblen Umgang mit Inklusion, und sorgt dafür, dass keine Priorisierung der Inklusionsmerkmale stattfindet.
Ein sozialwissenschaftlich fundierter Umgang mit Inklusion, welcher im Sinne aller Lernenden wäre, sollte folgende wichtige Unterscheidungen, Begriffspaare und Fragestellungen in Bezug auf die Inklusion miteinbeziehen:
• Teilhabe. Relevanter Grenzbegriff: Exklusion. Frage z.B.: wo sehen die Lernenden selbst Ihre Teilhabechancen, Teilhabewünsche und Exklusionserfahrungen? Hier besteht die Aufgabe der Didaktik darin, die Lernenden nicht als „zu Inkludierende“ zu betrachten, sondern als Mitgestalter_innen von Bildungsprozessen.
• Inklusion. Relevanter Grenzbegriff: Mehrheit, in die „inkludiert“ werden muss. Die Fragen lauten z.B.: welche Aspekte hat die Inklusion im Blick? Von welchen Bildern der „Mehrheit“ wird ausgegangen, also wer sind diejenigen, die bereits „drin“ sind?
• Heterogenität. Relevanter Grenzbegriff: Ungleichheit. Eine wichtige Frage wäre hier: der Zugang zu welchen Ressourcen macht jeden betrachteten Heterogenitätsaspekt zur Frage der Ungleichheit und Exklusion?
Die Sensibilität zu diesen Fragen könnte nicht nur die Lehrpersonen in ihrer professionellen Tätigkeit unterstützen und ihnen neue Zugänge zur Differenzierung eröffnen, denn die Reflexion über diese Fragen zeigt auch die Bedürfnisse und Eigeninteressen der Lernenden auf. Solch eine Sensibilität würde es aber auch erlauben, andere Lernende, dessen Heterogenität ebenfalls im Sinne politischer Teilhabe und Partizipation ungleich verteilt sein könnte und somit intensive didaktische Zugänge braucht, im Blick zu haben. Vor allem aber, würde solch ein Ansatz erlauben, keine Priorisierung der Inklusionsmerkmale vornehmen zu müssen, und somit für die Intersektionalität der Inklusionsaspekte offen zu sein.
Literatur:
• Faist, T. (2011): Multiculturalism: From Heterogeneities to Social (In)Equalities. SFB 882 Working Paper Series: 3, Bielefeld.
• Diewald M. and Faist, T. (2011): From Heterogeneities to Inequalities: Looking at Social Mechanisms as an Explanatory Approach to the Generation of Social Inequalities. SFB 882 Working Paper Series: 1, Bielefeld.
• Norris, P. (ed.) (2011): Democratic Deficit: Critical Citizens Revisited. NY Cambridge University Press.