Das Problem mit dem „Wir“
“Die Zuspitzung der Partikularismen und der identitären Spannungen birgt eine große Gefahr!“ So wie Laurent Bouvet argumentieren derzeit viele Intellektuelle, vor allem in Frankreich, seien sie nun konservativ-gaullistisch oder sozialistisch orientiert. Die daraufhin beschworene Einheit der Nation, gerahmt durch das republikanische Ideal, scheint so zunächst politisch farbenblind und verbindend, denn die Nation versammelt all jene, die sich ihr als Bürger zugehörig fühlen. Dass dieser Diskurs zurzeit nicht wenige mobilisiert, hat die Welt am 11. Januar dieses Jahres, dem Tag des großen „republikanischen Marsches“ in Paris, wieder erstaunt zur Kenntnis genommen. Doch was kommt nach dem 11. Januar?
Die Debatte um das „Wir“ mit großem „W“ wühlt die Öffentlichkeiten westeuropäischer Demokratien gegenwärtig auf. Das republikanische Modell spielt darin eine besondere Rolle: Scheinbar beantwortet es die schwierigen Fragen nach der politischen Identität und macht ein attraktives, ein faires Angebot, eines, das auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruht. Als solches hat es für die deutsche Debatte stets auch als Folie gedient: Ein positives Konzept, das die Tugenden des Citoyen gegen den Naturalismus der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit in Stellung bringt. Dieser Citoyen ist es, den politische Bildung nach wie vor besonders mag. Er ist das Produkt aufklärerischer Rationalität. Die Anstrengungen, die es kostet, ihn zu erziehen und zu bilden, lohnen sich allemal. Die „republikanische Schule“ ist entsprechend zentraler Pfeiler des republikanischen Modells der Vergesellschaftung. Sie bewahrt die Idee, dass ausnahmslos jedermann zur Bürgerschaft erzogen und in sie einsozialisiert werden kann, und dass das Gleichheitsprinzip in ihrer meritokratischen Handlungsnorm sicher aufgehoben ist. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass nach den genozidalen Katastrophen des 20. Jahrhunderts das republikanische Modell – zumindest in Europa – einen Sieg über das ethnische Prinzip errungen hat: Die Europäische Union und die Versuche, in ihr eine rechtegebundene „Bürgerschaft“ zu verankern, legen davon zuletzt ein lehrreiches Zeugnis ab und zeigen zugleich auch an, welche Grenzen ein solches Vorgehen haben kann.
Auch auf deutschen Straßen wird um das „Wir“ gestritten. Als ginge es um die xte Wiederaufführung eines schlechten deutsch-französischen Theaterstückes, hantieren hier allerdings Gruppen von Demonstranten, vor allem in Ostdeutschland, laut und eindrucksvoll mit dem Begriff „Volk“. Das Volk, das hier gemeint ist, scheint wieder ein ethnisch-kulturell definiertes; es ist schwierig, ein Teil dieses Volkes zu werden, denn die meisten Eintrittsvoraussetzungen zu dieser Gruppe lassen sich nicht ändern. Personen mit bestimmten Merkmalen und Religionen sollen von vornherein nicht mit dabei sein dürfen. Diese starken Ausschließungsgesten wiederum produzieren eine teilweise mächtige Wut. Jeder will Wir sein, die Definitionen von Wirs, zu denen man gehört/gehören will, verselbstständigen sich. Die Deutschlands, um die es für die Wirs nun geht, multiplizieren sich, schieben sich ineinander, werden immer unverständlicher: Kann es ein Deutschland ohne eine bestimmte Religion geben, aber mit Deutschen, die diese Religion tagtäglich praktizieren? Verunsicherung macht sich breit, was es eigentlich ausmacht dazu zu gehören, sich nicht komplett zu vereinzeln, denn Identitäten bilden sich in Gemeinschaften aus. Bietet eine etablierte westliche multikulturelle Demokratie des 21. Jahrhunderts überhaupt eine Folie für solche Vergemeinschaftungen?
Diese Fragen werden in Frankreich derzeit mit großem Ernst diskutiert, auch und gerade mit Blick auf die Rolle von Schule und Erziehung. Sehr selbstkritisch blickt die französische Linke dabei auf die von ihr selbst mit Vehemenz betriebene gesellschaftliche Identitäts-Partikularisierung (die Rede ist hier sogar von Identitätsunternehmertum) und die vornehmlich ökonomische Betrachtung politischer und sozialer Anliegen: Seit der ehedem „fortschrittliche“ Diskurs der „Republik“ und der „Laizität“ von den Vertretern des Front National und des noch extremeren „Mouvement identitaire“ (sic) gegen ein offenes, globalisiertes und multikulturelles Frankreich sehr erfolgreich in Stellung gebracht wurde, breitet sich nachgerade Panik aus. Deutschland bewahrt wieder einmal Ruhe, eine Debatte findet bislang nicht wirklich statt. Gleichwohl finden sich überall noch die Reste der kulturell-ethnischen Homogenitätsprämisse des Politischen und des Sozialen. Dies gilt auch für die Schule, die Lehrpläne (auch unseres Faches) und die vielen heutigen pädagogischen Programme, die „Andersheit“ als Problem formatieren. Erst langsam tritt in das Bewusstsein, dass dieses Vorgehen auch durchaus destruktive gesellschaftliche Effekte erzeugen kann, wenn in pädagogischen „Förderprogrammen“ sehr starke Identitäten der Marginalisierung ausgebildet werden.
Wer ist „Wir“, wer ist „Volk“? Die gegenwärtig gefühlten Verunsicherungen beruhen zu einem großen Teil auf Projektionen und auf „Phantasmen“, so Bouvet, die nicht immer auf eine objektivierbare sozio-ökonomische Realität bezogen werden können. Gerade das macht sie zu einem sehr geeigneten Stoff, aus dem Politikunternehmer sich zum Teil schillernde Gewänder zusammenbasteln. Nicht nur aus diesem Grunde müssen sie unbedingt zum Gegenstand von Debatten und von Bildungsprozessen, am besten von sozialwissenschaftlichen Bildungsprozessen, gemacht werden, und es ist sicher keine schlechte Idee, darüber mit unseren europäischen Partnern und Freunden recht bald in einen Dialog einzutreten.