Die kapitalistische Wirtschaft der Gesellschaft – und das Schweigen der Schule
Reinhold Hedtke
Kapitalismus heute? Das steht nirgends auf dem Lehrplan. Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft? Das kommt nur gelegentlich vor. Beide sind aber individuell und kollektiv, gegenwärtig und zukünftig problemträchtige Themen. Beide konfrontieren nicht nur Gesellschaft und Politik mit drängenden Fragen, sondern auch die Lernenden: Wie will ich leben, wie kann ich leben, wie muss ich leben?
Das Wirtschaftssystem ist wesentlich auf nichtwirtschaftliche, gesellschaftliche Voraussetzungen angewiesen. Der Geist des konsumistischen Kapitalismus entsteht in der Gesellschaft, die moderne Gesellschaft macht kapitalistisches Wirtschaften als System erst möglich. Denn der kapitalistische Geist liegt weder in der Natur des Menschen, noch kann der Kapitalismus selbst ihn hervorbringen.
Der siegreiche Kapitalismus
Umgekehrt wirkt die Wirtschaft massiv auf die Gesellschaft zurück. Die ökonomisierte Gesellschaft entsteht aus der kapitalistischen Wirtschaft und aus ihrem systemischen Wachstumszwang. Der „siegreiche Kapitalismus“, so stellte schon Max Weber fest, bestimmt „heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwang“ (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2006/1920: 201). Der trifft in Lebensführung und Alltag alle so selbstverständlich, dass sie ihn oft nicht sehen. Auch extreme Fälle gibt es genug, etwa Kinderarbeit, Menschenhandel, Sklaverei, Organhandel, Wählerstimmenkauf und Sexarbeit.
Gesellschaft als Ressource der Wirtschaft
Der Kapitalismus braucht vielfältige gesellschaftliche Voraussetzungen. Wenige Beispiele für seine Unternehmen müssen hier genügen.
Unternehmen funktionieren, weil sie meistens damit rechnen können, dass Sozialisation, Erziehung, Mimesis und gesellschaftliche Kommunikation dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Leistungs-, Aufstiegs- und Konkurrenzorientierung, Kooperations-, Konsens- und Kompromissbereitschaft mitbringen und sich im Unternehmen oft weit über das arbeitsvertraglich Notwendige hinaus engagieren.
Unternehmen können vieles nur deshalb verkaufen, weil es eine Konsumgesellschaft gibt, die durch Konsum konstituierte Identitäten sozialisiert, Konsumkulturen pflegt und ständige Neuerungen prämiert, zugleich Suffizienz abwertet und so ein kapitalfreundliches Konsumklima sichert. Sie erklärt Innovation zum Selbstwert, die Trendsetter zu Vorbildern und die Sparsamen zu Seltsamen. Daran arbeiten kapitalistische Unternehmen nach Kräften mit.
Zu einem erheblichen Teil profitieren Unternehmen davon, dass gesellschaftlich geduldet ist, dass sie bei weitem nicht für alles bezahlen müssen (und für vieles auf keinen Fall bezahlen wollen!), was sie in Herstellung und Vertrieb ihrer Produkte als selbstverständlich kostenlos in Anspruch nehmen. Und sie sorgen dafür, dass ihre Kunden auch erst später zahlen müssen, indem sie sie zum Kreditkauf motivieren.
Digitale Enteignung
Unternehmen dürfen sich über das Internet milliardenfach personenbezogene Daten aneignen und damit Geld verdienen, ohne dass sie die Dateneigentümer fragen oder gar bezahlen müssen. Diese völlig hemmungslose, umfassende Enteignung findet teils räuberisch, teils hinterhältig, teils mit Duldung, teils mit Zustimmung statt. Die Konzerne setzen die so angeeigneten Daten dann strategisch und systematisch gegen deren ursprüngliche Eigentümer ein (siehe unten).
Soziale Akzeptanz lässt es auch zu, dass Unternehmen üblicherweise Kosten auf Dritte abwälzen. Entscheidungen der Unternehmen verfehlen regelmäßig das Kriterium der Effizienz, weil sie einen Teil der real anfallenden Kosten einfach ignorieren dürfen. Diese Kosten nehmen gigantische Ausmaße an, wie die gewinnmotivierte Vernutzung von Arbeitskräften und Natur, die verschobenen Kosten des Klimawandels oder die sozialisierten Kosten von Atomkraftkatastrophen illustrieren.
Wachstum und Wohlstand heute werden von gegenwärtigen Verlierern und zukünftigen Generationen zwangsfinanziert. Hier greift keine Schuldenbremse. Selbst die Schuldgefühle der sich selbst durch diese Raubwirtschaft Bereichernden und der mittelbaren Nutznießer halten sich in engen Grenzen.
Maßlose Macht mittels Daten
Im Kapitalismus konnten Unternehmen immer schon ihre Verfügungsmacht über Ressourcen in Steuerungsmacht gegenüber der Gesellschaft und der Politik konvertieren. Aber im 21. Jahrhundert beschaffen sich Konzerne ganz neue Zwangsmittel. Sie basieren auf ihrer maßlosen Macht über zentral verfügbare persönliche Daten und ihrer Kompetenz in der Entwicklung von Algorithmen. Konzerne sammeln Daten aus Internet, Facebook, Bankgeschäften, Schufa, Kreditkarten, Telefonaten, datensendenden Gebrauchsgegenständen, Gesundheitswesen usw. und verknüpfen sie systematisch miteinander.
Obwohl sie die Potenziale noch lange nicht ausgeschöpft haben, sind die Möglichkeiten der unternehmerischen digitalen Überwachung, Steuerung und Manipulation schon heute erschreckend; denkt man die geheimdienstlichen Systeme noch hinzu, kann man schier verzweifeln (vgl. „Die Seele gibt’s gratis“, Süddeutsche Zeitung, 7.3.2014, S. 3). Autonomie, Privatsphäre, Datensicherheit stehen in der Verfügungsmacht kapitalistischer Konzerne und grenzenloser Geheimdienste.
Vor diesem Hintergrund wirkt die sozialpflegerische Sorge, mit denen Schule und Unterricht oft die neuen sozialen Medien (ein Musterbeispiel für kapitalistisches Unternehmertum, Ausbeutung und Monopolstreben) behandeln, etwa in Sachen Cybermobbing, willkürlich, zaghaft, hilflos und politisch naiv.
Eine gesellschaftliche, soziologisch informierte Bildung, die Bettina Zurstrassen im Februar-Blog auf sowi-online fordert, führt hier wesentlich weiter. Sie setzt auf distanzierte Beobachtung und kühle Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge, ohne sofort an Gestaltung, Intervention, Optimierung oder andere Formen des Aktivismus zu denken. Und sie ermöglicht eine ergebnisoffene Reflexion, wie Bürgerinnen und Bürger unter diesen Bedingungen leben können und wollen.
Aussteigen und Abschalten?
Die praktischen Schlussfolgerungen können am Ende aber umso radikaler ausfallen: Wenn sich Gesellschaften kaum steuern lassen, oder wenn die Politik im globalen Kapitalismus nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, oder wenn die Politik den Geheimdiensten freien Lauf lässt, hilft womöglich nur individuelles Aussteigen, Herunterfahren, Abschalten.
Aussteigen, Abschalten und Abwerten mag man dann auch auf den eigenen Konsumismus und die eigene Wohlstandswachstumsfixierung anwenden. Konsumenten haben Macht durch anderes Konsumieren oder selektiven Nichtkonsum. Tun dies erst einige, dann mehr und später viele, können soziale Bewegungen entstehen, die die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Kapitalismus und damit auch den Kapitalismus ändern. Wenn er nicht weiterwachsen kann, kann er – jedenfalls so – nicht weiterexistieren.
Kapitalismus zur Sprache bringen
Max Weber konnte damals noch nicht wissen, wie extrem siegreich Kapitalismus und Finanzkapitalismus hundert Jahre später sein würden. Der systemische und mentale Zwang, den sie ausüben, überwältigt die Jugendlichen heute stärker denn je. Schulen stützen ihn statt sie zu schützen. Sie fahren vielfältige Programme zur Employability, Entrepreneurship Education, Assessment Centern, Schülerfirmen, Selbstoptimierung, Wirtschaft in die Schule usw.
Aber Schulen schweigen beharrlich über den Kapitalismus, dessen Geist diese und andere schulische Aktivitäten ausdrücken. Das ist Anti-Aufklärung par excellence – und das muss sich schleunigst ändern. Selbstverständlich ergebnisoffen, denn in demokratischen Gesellschaften ist es ausdrücklich erlaubt, den Kapitalismus und das kapitalistische Leben zu lieben. Dass dies erlaubt ist, gilt erst recht für die Schule und den Unterricht.