Albrecht E. Hartwig und Günter Reuel
Inhalt
2 Ökonomische Bildung - aber wie?
4 Die Inhalte der Lernbüroarbeit im Überblick
5 Lernbüro Volt & Watt (Erfahrungsbericht)
1. Einleitung
Das Lernbüro, die Scheinfirma, das Übungskontor sind weitgehend synonym gebrauchte Bezeichnungen für etwas, das sich zur Klasse der simulativen Lehr- und Lernverfahren rechnet (vergl. Kaiser 1991, Söltenfuß 1983, Wascher 1984). Simulation ist immer die zweitbeste Lösung in der Pädagogik. Sich in das wirkliche Leben einzumischen, ist jeder Simulation allemal überlegen. (Daß dies pädagogisch angeleitet und im Nachhinein reflektiert zu geschehen habe, versteht sich von selbst.) Leider ist die Ausgliederung des Schulsystems aus anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht nur als Fortschritt zu verbuchen. Fast alles, was heute in der Schule passiert, ist im weitesten Sinne Simulation. Das Parlieren in einer Fremdsprache ist es, weil kein Fremdsprachler anwesend ist. Die Berechnung der Kirchturmhöhe mit der Sinusfunktion ist Simulation, weil unten an der Kirche die Höhe des Turmes nicht angeschrieben steht. Der mit dem Textverarbeitungsprogramm geschriebene Brief auf dem Computer ist Simulation, weil er nie abgeschickt wird. Medien, darauf haben wir an anderer Stelle hingewiesen (Reuel 1994), sind stets nur Surrogate der Wirklichkeit. Das gilt für den ausgestopften Buntspecht genauso wie für den virtuellen Louvre-Besuch. (Das Multimediapaket "Louvre" erhielt jüngst den Bildungssoftware-Preis) In vielen Fällen müssen wir auf Medien und simulative Verfahren zurückgreifen, leider tut es die Schule viel zu oft und ohne Not. Ein Blick in das Schulgebäude erklärt alles. Wo ist der Schulgarten, die Kleintierzucht, wo sind die Werkstätten, das kleine Windkraftwerk, die Druckerei der Getränkekiosk? In zu vielen Schulen - nicht in allen - außer Klassenzimmer: nichts!
2. Ökonomische Bildung - aber wie?
Bekanntlich hat Berlin schon sehr früh die Partikularfächer Technik,
Haushalt und Wirtschaft aufgelöst und ein Integrationsfach Arbeitslehre
eingeführt. Die Lehrerausbildung hielt mit dieser Modernität nicht
Schritt, sondern klammerte sich an drei Studiengänge, die jeweils nur einen
teilqualifizierten Lehrer entließen. Der Lehrer vom Typ "Wirtschaft"
war am wenigsten auf das neue, bei Schülern sehr beliebte, handlungsorientierte
Fach vorbereitet. Weder in den technisch-gewerblichen Werkstätten, noch
in den hauswirtschaftlichen Fachräumen konnte er bestehen. Die Folge war
eine allmähliche Austrocknung des Studienganges bis zur Nulloption. Jetzt
gibt es nur noch zwei Studiengänge: Arbeitslehre/Technik und Arbeitslehre/Haushalt,
aber die Notwendigkeit ist nicht entfallen, den Schülern ökonomische
Einsichten zu vermitteln, die natürlich immer etwas mit Technik und erst
recht mit Haushalt zu tun haben. So schön es wäre, wenn Schüler
(der Sekundarstufe I) etwas von der intellektuellen Faszination volkswirtschaftlicher
Lehrmeinungen erführen, wenn sie die europäische Wirtschafts- und
Währungsidee durchdächten, oder wenigstens die fantasielose Politik
eines Herrn Rexrodt kritisierten. Aber weder treffen wir damit auf Gegenliebe
bei den Schülern, noch läßt sich eine bestimmte Theorieebene
auf den von uns favorisierten handlungsorientierten Unterricht transformieren.
Dies ist nicht nur eine didaktische (prinzipiell lösbare) Schwierigkeit,
es liegt an dem Modellplatonismus der Wirtschaftstheorie selbst.
Frau Thatcher, eine Anhängerin des Neoliberalismus, bescherte dem Königreich
ein wirtschaftliches Desaster. Die USA verblüffen die Welt mit niedrigen
Arbeitslosenzahlen, und nur beim zweiten Blick erkennen wir, daß viele
Amerikaner selbst mit drei Jobs noch an der Armutsgrenze leben. Der "Aufschwung
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Ost", von renommierten Ökonomen "berechnet", muß
irgend eine Modellvariable nicht beachtet haben. Die Zunft der Betriebswirte
scheint dem Fetisch "Marketing" verfallen, hinter dem sich, pointiert
gesagt, die Kunst verbirgt, den Menschen etwas zu verkaufen, was sie gar nicht
brauchen. Die Umweltzerstörung und zweihunderttausend überschuldete
Haushalte in der Bundesrepublik sind die Späne, die immer fallen, wenn
gehobelt wird.
Das politische System und das Rechtssystem überformen, bzw. deformieren
die klügste Wirtschaftstheorie, und deshalb ist bis heute die didaktische
Schlüsselfrage die nach dem cui bono schulischer Wirtschaftslehren. Wir
haben unsere Konsequenzen gezogen und glauben so ganz falsch nicht zu liegen
wenn wir sagen: Das Fach Gesellschaftskunde/Politik muß durchgängig
"ökonomisiert" werden. Noch zu viele Lehrer, die das Fach Politik
studiert haben, drücken sich darum und bevorzugen politische Themen im
engen Sinne.
Das Fach Arbeitslehre übernimmt zwei große Lernzielkomplexe. Den
ersten möchten wir als "Verbraucheraufklärung" bezeichnen,
wohl wissend, daß damit die Mißverständnisse bereits programmiert
sind. Die Verbraucheraufklärung möchten wir nämlich nicht gerne
theoretisch abgehoben sehen, sondern "zum Anfassen". Da ist dann wenig
Platz für marktmorphologische Schemata (ob den Nachfragern Monopole oder
Oligopole gegenüberstehen), oder ob die Bundesregierung Verbraucherschutz
subsidiär übernehmen sollte statt Verbraucherschutzverbände zu
alimentieren, ob das Bürgerliche Gesetzbuch die Vertragsfreiheit als höheres
Rechtsgut betrachten darf als den Schutz vor Mißbrauch von Gutgläubigkeit
usw. Verbraucheraufklärung heißt in der Arbeitslehre: Warenkenntnisse
erwerben (selbst Warentests durchführen), technische Bedienungsanleitungen
verstehen, Gebrauchstauglichkeit beurteilen, ein Reklamationsgespräch führen,
einen Termin bei der Verbraucherberatungsstelle vereinbaren, die Zeitschrift
"test" kennen, evtl. mal eine Produktgruppe durchgearbeitet haben,
im ästhetischen Urteil sicherer werden, nicht jede Modetorheit mitmachen,
ein reales Haushaltsbudget sinnvoll aufteilen, die Folgen der Kreditaufnahme
erkennen, Strukturen des Einzelhandels kennen (in der eigenen Region vor Ort
erkunden).
Zugegeben: Das ist Pragmatismus, aber wer über den Pragmatismus als (einzigen)
Zugangsweg zum Weltverstehen mehr wissen will, der lese es bei John Dewey nach.
Der zweite Lernzielkomplex in der Arbeitslehre, der etwas mit ökonomischer
Handlungskompetenz zu tun hat, ist der formalisierte Codex kaufmännischen
Handelns. Ein adäquates Unterrichtsmodell erblicken wir im Lernbüro.
Das BIL gab 1994 umfangreiches Material einschließlich einer auf Diskette
gespeicherten Formularsammlung heraus. (Fischer/ Hartwig/Reuel
1994)
3. Das Lernbüro
Lernbüros haben in der kaufmännischen Berufsbildung eine lange Tradition. In der allgemeinbildenden Schule sind sie eher selten. Lernbüroarbeit müßte eigentlich über einen zusammenhängenden Zeitraum erfolgen. Die Verfächerung der allgemeinbildenden Schule zwingt jedoch zur Diskontinuität. Lernbüroarbeit als Ersatz für Berufsausbildung im Dualen System ist noch weithin mit dem Makel der Notlösung behaftet, weil es zu bestimmten Zeiten an Lehrstellen mangelt. Diesem Problem gehen wir hier nicht weiter nach, sondern konzentrieren uns auf das allgemeinbildende Lernbüro. Wenn man den fundamentalen Unterschied zwischen einem Lernbüro im Berufsbildungssystem und demjenigen in der allgemeinbildenden Schule auf den Punkt bringen sollte, sind zwei Kriterien zu nennen: Lernbüros in der Arbeitslehre sind indifferent bezüglich einer Berufsentscheidung. Sie werden auch von solchen Schülern frequentiert, die niemals daran denken, einen kaufmännischen Beruf zu ergreifen. Zweitens soll die Doppelperspektive möglichst immer präsent sein: Während sich kaufmännische Lehrlinge notwendiger Weise mit der Perspektive der anbietenden Wirtschaft zu identifizieren lernen, ist das Lernbüro in der Arbeitslehre gewissermaßen ein virtuelles Gegenüber der
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Privathaushalte. Was ist damit gemeint? Es geht nicht um die Wiederbelebung
einer "Betriebswirtschaftslehre des Privathaushalts" (Groth
1972 und passim). Die zweckrationale Organisationsstruktur eines Betriebes
und die um emotionale und ökonomische Sicherheit bemühte Lebensform
des Privathaushalts sind zwei Paar Schuhe. An den Rändern beider Daseinssphären
aber gibt es konvergente Erscheinungen: Betriebe reden wieder von "corporate
identity und von Unternehmenskultur. Auf der Seite der Haushalte genügt
nicht mehr der Zettel unter dem Brotkasten:
" Miete überwiesen". Haushalte sind gezwungen - bei Strafe bürokratischer
Entmündigung - eine minimale kameralistische Buchführung zu betreiben.
Jeder Haushalt hat Bankverbindungen, Versicherungsverträge, regelmäßige
Zahlungen, mindestens einmal im Jahr Kontakt mit dem Finanzamt. Rechnungen und
Garantiescheine müssen abgelegt und wiedergefunden werden. Bei der Einhaltung
von Zahlungsfristen kann man Skonto abziehen. Zu den langfristig abgelegten
Schriftstücken gehören Zeugnisse, Mietverträge und Rentenbeiträge.
Selbst eine bescheidene Lagerhaltung kann für den Haushalt zweckmäßig
sein. Erfahrungsgemäß wird in vielen Schülerhaushalten improvisiert,
um nicht zu sagen: Das Chaos wird notdürftig gemanagt.
Wer einmal in einem Lernbüro die immanente Logik des kaufmännischen
Formalismus begriffen hat, wird zweierlei mitnehmen: ein paar technische Kenntnisse
über zweckmäßige Registratur-Hilfsmittel, bis hin zum sinnvollen
Computereinsatz, und er wird eine gewisse Disposition erwerben, Schriftgutablage,
Terminüberwachung und Kopien anlegen nicht hinauszuschieben, sondern routinemäßig
sofort zu sichern.
Diese Erfolge der Lernbüroarbeit - vorausgesetzt, sie stellen sich ein
- werden vielerorts nicht als ökonomische Bildung anerkannt. Dies betrübt
uns zwar, raubt uns aber nicht den Seelenfrieden. Wir trösten uns dann
damit, daß wir Realschüler getroffen haben, die nach vier Jahren
"Wirtschaftskunde" zwar ungefähr erklären konnten, welche
Aufgaben die Bundesbank hat, aber nicht wußten, wie man nach einer Woche
aus einem Ratenkaufvertrag aussteigen kann. Es gibt ein paar Indizien, wie hilflos
viele unserer "Wirtschaftsbürger" reagieren: Die Finanzämter
freuen sich jährlich über nicht gestellte Anträge
zum Lohnsteuerjahresausgleich. Eine große Schuldnerberatungsstelle, mit
der wir zusammenarbeiten, berichtete uns, daß viele überschuldete
Haushalte seit Monaten nicht mehr die Mahnbriefe öffnen, die eingehen.
Eine Erwiderung auf den ersten Brief hätte möglicherweise schon ihre
Lage verbessert. Täglich kann man erleben, daß ein Kunde mit einem
mangelhaften Produkt zum Händler kommt und entweder den Kaufbeleg nicht
findet oder sich vom Händler erzählen läßt, der Hersteller
sei der Adressat der Reklamation. Solche Beispiele ließen sich fortsetzen,
sie zeigen aber schon, wie trivial die Aufklärung sein darf, die unsere
Jugendlichen benötigen.
Ein scharfer Kritiker des Lernbüros in der Arbeitslehre hielt uns entgegen, so existentiell wichtige Dinge wie das von ihm favorisierte Rollenspiel "Tarifverhandlungen" käme nun zu kurz. Dieses ebenfalls simulative Verfahren hat streng genommen mit Ökonomie nichts zu tun sondern mit Arbeitsrecht. Gewiß haben Tarifverhandlungen ökonomische Auswirkungen, genauso wie eine Mißernte. Daß es Tarifverträge gibt und wie sie zustande kommen, erfährt bei uns jeder Schüler (hoffentlich) im Rahmen der Vorbereitung auf das Betriebspraktikum. Im Betrieb kann er dann halbwegs kompetent mitreden. Das Lernbüro übrigens ist von uns so konzipiert, daß Entlohnung der Mitarbeiter und Tarifabschlüsse für kaufmännische Sacharbeiter gar nicht umgangen werden können.
4. Die Inhalte der Lernbüroarbeit im Überblick
Unsere Übungsfirma ist ein Großhandelsunternehmen mit dem Namen Volt & Watt. Gehandelt wird mit sogenannter "schwarzer Ware", d.h. Fernseher, Stereoanlagen, Radios usw. Die Schüler kennen diese Warengruppe recht gut, wissen also, wovon sie reden. Ein
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Firmenportrait findet sich weiter unten. Aus dem Belegfluß, ebenfalls unten dargestellt, ist zu entnehmen, daß das Modell fünf Innenstellen vorsieht und vier Außenstellen. Was der Belegfluß nicht erkennen läßt, ist die Folie, die hinter dem Formalablauf liegt. Zu unterschiedlichen Zeiten können die Routinen unterbrochen werden (nicht in der Anfangsphase), um folgende Themen sinnvoll einzubauen: Ökologie im Büro (dazu liegt umfangreiches Material vor), Datenschutz (Kenntnisse, die nur die Personalabteilung besitzt), ferner: Kündigungen, Neueinstellungen und Tariflöhne.
VOLT UND WATT Firmenportrait |
Firmenname: VOLT & WATT Großhandelsgesellschaft m. b. H.
Firmensitz: Dröhngasse 4 98765 Rockhausen
Bankverbindung: Bankhaus Dagobert Duck Bankleitzahl 111 111 11 Kontonummer: 00 01
Sortiment: HIFI-Artikel Video- und Fernsehgeräte Elektroartikel
Mitarbeiter: 20 Personen
Kunden: ca. 20 Einzelhandelsgeschäfte
Lieferer: ca. 10 Hersteller |
5. Lernbüro Volt & Watt (Erfahrungsbericht)
Das Unterrichtsmodell "Lernbüro Volt & Watt" wurde in den letzten beiden Jahren am Arbeitslehrezentrum Berlin-Wedding mit vier verschiedenen Lerngruppen erprobt. Unterrichtet wurden Hauptschüler des 10. Jahrgangs, die im Fach Arbeitslehre den Schwerpunkt: Handeln und Verwalten gewählt hatten.
Das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen betrug in drei Lerngruppen etwa 40:60, in einer Lerngruppe war der Anteil der Jungen und Mädchen gleich.
Die Entscheidungsgründe der Schüler für die Wahl dieses Lernfeldes waren unterschiedlich. Einige Schüler hatten positive Erfahrungen in kaufmännischen Abteilungen während des Betriebspraktikums (9. Klasse) gemacht, für einige Schüler war die Tatsache, daß in diesem Schwerpunktbereich "am Computer gearbeitet wird" ausschlaggebend, einige Schüler konnten nur negative oder diffuse Gründe für die Wahl nennen. ("Ich will mich nicht dreckig machen", "Holzarbeit macht mir keinen Spaß").
Alle Schüler hatten durch den ITG-Kurs im 8. Jahrgang elementare Kenntnisse im Umgang mit der Hardware sowie bei der Bedienung des integrierten Programmpakets "Works unter Windows."
Bei der Verteilung der Stellen im Lernbüro gab es in der Regel (obwohl befürchtet!) keine Auseinandersetzungen, die Schüler übernahmen die zur Verfügung stehenden Stellen meist ohne Ablehnung, da offenbar keine Präferenzen aufgrund fehlender Vorerfahrungen bezüglich kaufmännischer Abteilungen bestanden. Bei "rechenintensiven" Stellen wie Verkauf und Buchhaltung (Mehrwert-, bzw. Umsatzsteuerberechnung) wurden Schüler aus leistungsstärkeren Mathematikkursen (A-Kursen) "überredet" diese zu übernehmen.
Die Motivation war zu Beginn der Lernbüroarbeit hoch, nahm aber im Laufe der Zeit etwas ab. Insbesondere längere Arbeitsunterbrechungen wirkten sich äußerst negativ auf die Motivation der Schüler aus. Eine Lerngruppe mußte eine Arbeitsunterbrechung von 6 Wochen hinnehmen, bedingt durch ein Schülerpraktikum, Weihnachtsferien und einem Wandertag, was einem Jahresurlaub eines Sacharbeiters entspricht. Hier konnten sich natürlich keine Arbeitsroutinen entwickeln. Es wäre gerade für das Unterrichtsmodell Lernbüro segensreich, wenn "am Stück" gear-
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beitet (und gelernt!) würde (Blockunterricht von 2-3 Wochen), was aber an der o.g. Einrichtung aus schulorganisatorischen Gründen nicht möglich war.
Belegfluss im Lernbüro
Sammelaußenstelle 2 Schüler |
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Lastschriften
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Bank 3 Schüler |
Gutschriften
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Eingangsrechnung (Kopie)
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Buchhaltung 2 Schüler |
Ausgangsrechnung 2 Schüler |
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Personal 1 Schüler |
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Bedarfsmeldung / Meldebestand
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Bedarfsmeldung / Bestellung
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Einkauf 2 Schüler |
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Lieferer 2 Schüler |
Eingangslieferschein
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Ausgangslieferschein
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Kunden 2 Schüler |
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Fehlerhafte Rechnungen, falsche Überweisungen oder nicht korrekte Lagerbestandsbuchungen,
die erst nach Wochen als solche erkannt werden sollen, erfordern von Schülern
Erinnerungsleistungen, die außerordentlich hoch sind.
(Dies dürfte übrigens auch für den Sachbearbeiter gelten, der
nach dem Jahresurlaub an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt und kaum alle
Geschäftsvorfälle, die er vorher bearbeitet hatte, gegenwärtigen
dürfte).
Ein weiteres Problem war der Aufwand für die Belegablage. Zwar bekamen
alle Schüler die stellenbezogenen Ablaufpläne (siehe Hauptveröffentlichung)
mit den entsprechenden Ablagevorgaben, einige Schüler unterschätzten
aber die "Verbindlichkeit" dieser Vorgaben. Eingangsrechnungen verschwanden
im Ordner "Ausgangsrechnungen", Einnahmen wurden als Ausgaben gebucht,
Wareneingang wurde in der Spalte Warenausgang vermerkt. Die Fehler waren aber
nicht sofort erkennbar, sondern stellten sich erst nach Wochen (wenn überhaupt!)
als solche heraus, manchmal war es höchst mühsam, bestimmte Geschäftsvorfälle
zu rekonstruieren. Es zeigte sich, daß es aufgrund der Komplexität
des Lernbüros für den Lehrer praktisch unmöglich ist (nachdem
dieses "in Schwung" war), alle Geschäftsvorfälle im Auge
zu behalten.
Einige Schüler identifizierten sich mit ihrer Stelle nach einer gewissen
Zeit sehr stark. Dies führte dazu, daß sich Teamgeist (bei den Innenstellen
des Lernbüros) nicht richtig einstellen wollte. Folgerichtig waren auch
Vorschläge zur Stellenrotation nicht sehr beliebt. Typisch war in diesem
Zusammenhang die Äußerung einer Schülerin, die im "Verkauf"
tätig war: "Jetzt kann ich Rechnungen schreiben, die Mehrwertsteuer
ausrechnen und mahnen, das will ich nun auch weitermachen."
Diese "innerbetriebliche Konkurrenz" war aber eher motivierend als
störend, Schüler korrigieren und ermahnten sich gegenseitig und häufig
moderierte der Lehrer eher, statt zu initiieren.
Ein nicht erwartetes Problem stellte die Abwesenheit von "Schülersachbearbeitern"
dar. Der spontane "Personaleinsatz", der zeitweise vom Lehrer übernommen
werden mußte, war oft zeitraubend, die Besetzung von wichtigen Stellen
(Verkauf, Bank, Buchhaltung) verlief nicht immer reibungslos.
Es scheint sinnvoll zu sein, vor der Stellenbesetzung allen Schülern einen
Überblick über die Aufgaben und Belege zu geben, da dies u.E. Vorbehalte
gegenüber benachbarten Stellen abbauen kann, nicht nur um "flexiblen
Personaleinsatz" zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang müßten auch kaufmännische Begriffe geklärt
werden (Mehrwertsteuer, Skonto, Fälligkeit, usw.), die bei allen kaufmännischen
Tätigkeiten auftauchen.
Effizienz, Genauigkeit und vor allem die Verbindlichkeit kaufmännischer
Arbeit (aufgrund von Absprachen aber auch aufgrund gesetzlicher Vorgaben) sollten
hier im Vordergrund stehen. Umgesetzt wurde dies, indem die Schüler den
Auftrag bekamen, sämtliche Belege im Lernbüro auszudrucken und alle
unbekannten Begriffe zu markieren. Diese wurden dann gemeinsam im Unterrichtsgespräch
geklärt.
Die Erkenntnis, daß Sprachkenntnisse bei kaufmännischer Arbeit einen
weitaus höheren Stellenwert haben als bei "gewerblicher" Tätigkeit,
scheint nicht besonders originell zu sein, hat sich aber bei der Lernbüroarbeit
wieder in hohem Maße bestätigt.
Schüler mit hoher Sprachkompetenz fanden einen weitaus schnelleren Zugang
zur Lernbüroarbeit als andere. Die Strafe, die bei einem falschen Einsatz
oder Benutzung des Werkzeugs oder des Werkstoffes in der Holz- oder Metallwerkstatt
auf den Fuß folgt, findet im Lernbüro zunächst nicht statt.
Einige Schüler entwickelten daher eine Art "Nonchalance", Unverbindlichkeit
bei ihrer Arbeit, die für das gesamte Lernbüro schädlich war
und auch zu Konflikten führte.
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6. Fazit
Die Arbeit im Lernbüro war insgesamt motivierender, spannender und auch
konfliktreicher als herkömmliche Unterrichtsmethoden in kaufmännischen
Sachfeldern des Arbeitslehreunterrichts.
Die meisten Probleme im Lernbüro könnten gelöst werden durch
einen kontinuierlichen Blockunterricht, der den Schülern ermöglicht,
sich intensiv und ohne Unterbrechungen auf die Arbeitsabläufe über
mehrere Tage zu konzentrieren.
Hier ist die Schulverwaltung und -organisation aufgerufen, die Bedingungen zu
schaffen, um einen Raum für projektorientierten, d.h. praxisbezogenen,
fächerübergreifenden und problemorientierten Unterricht zu schaffen,
der nicht in einem starren und unnatürlichen Stundenplanrhythmus erstickt
wird.
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1 Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung und Schulentwicklung, Berlin
Literatur
Dewey, John: Erziehung durch Erfahrung, eingeleitet von
H. Schreier, Stuttgart 1987
Fischer/Hartwig/Reuel: Lernbüro Volt und Watt, Veröffentl.
des BIL 1994
Groth, Georg: Ansatz - in: Kledzik (Hg.): Arbeitslehre als
Fach, Hannover 1972
Kaiser, Franz-Josef: Arbeiten und Lernen in schulischen
Modellunternehmen, Bde. 1 u. 2, Bad Heilbrunn 1991
Reuel, Günter: Die Entbehrlichkeit von Medien in der
Arbeitslehre, in: Arbeit und Technik in der Schule, Heft 5, 1994
Söltenfuß, Gerhard: Grundlagen handlungsorientierten
Lernens, Bad Heilbrunn 1983
Wascher, Uwe: Das Schülerbüro als Lernort der
Arbeitslehre, Begründung und Planung, Bad Heilbrunn 1984
p
Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Informationen
zu Arbeit, Wirtschaft, Technik (AWT-Info)
15. Jg. (1996) H. 2, S. 28-34.
(c) 1996 Albrecht E. Hartwig und Günter Reuel
Um den Text zitierfähig zu machen, sind die Seitenwechsel des Originals
in eckigen Klammern angegeben, z. B. [/S. 53:].
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