Wie normativ und wie politisch darf politische Bildung sein?

Politische Bildung für die Demokratie ist normativ, denn Demokratie ist ein wert-volles politisches System. Die gleiche Würde des Menschen für alle ist ein allgemeiner, also universaler Wert, der sich im gleichen Wahlrecht der wahlberechtigten Bürger niederschlägt. Universale Werte müssen für bestimmte Situationen konkretisiert werden, was in der Regel politische Konflikte hervorruft: Soll das Wahlrecht nur für volljährige und geschäftsfähige Individuen gelten oder auch für Minderjährige? … nur für Staatsbürger(innen) oder auch für andere, die hier leben?

Die Norm der Demokratie übersetzt sich also in konflikthaftes Handeln. Die Berufung auf oberste und unbestrittene Normen wie die Grund- und Menschenrechte liefert einen gemeinsamen Maßstab, der auf partikulare Situationen mit den darin verkörperten Identitäts-Fragen angewendet werden kann und muss. Welche Vorstellung z.B. von Familie, von Beruf, von Beitrag zu Gesellschaft und Staat, kurzum von gelingendem Leben habe ich für mich selbst, welche anderen Vorstellungen kann ich anderen zubilligen und welche nicht (mehr)? Die Forderung nach Toleranz ist dann wohlfeil, wenn sie nicht substantielle Toleranz meint, womit das Ertragen auch unter eigenen Schmerzen gemeint ist. Und die Forderung nach Toleranz darf nicht Selbstaufgabe bedeuten, wenn sie auch noch Gefährdungen der Demokratie akzeptierte.

Dieser Streit um die Konkretisierungen und um die Grenzen ist kein nur prinzipieller und normativer mehr, sondern ein politischer um die Geltung der Normen für bestimmte Fälle und Situationen. Wenig Streit wird innerhalb homogener Milieus entstehen: man ist sich ohnehin einig und ahnt vielleicht gar nicht, dass andere die mit Verve vorgetragene Position nicht teilen und sie, falls sie mit moralischem Überschuss präsentiert wird, als moralische Überwältigung empfinden – und womöglich schweigen und gehen.

Damit ist die Aufgabe politischen Lernens und Lehrens bezeichnet: Kontroversität ist die Leitlinie, damit unterschiedliche Lebens- und Denkweisen in dieser pluralen Gesellschaft sich wechselseitig respektieren können. Dieser positiven Richtlinie steht die negative des Verbots von Indoktrination bzw. Überwältigung zur Seite. Seit Jahrzehnten formuliert der Beutelsbacher Konsens diese abstrakten Regeln für politisch bildenden Unterricht in der Schule und fügt drittens die Orientierung am Interesse des Schülers / der Schülerin hinzu (Reinhardt 2014, S. 29-32).

In den letzten Jahren ist um den Beutelsbacher Konsens gestritten worden: Ist er zu unentschieden, zu blass, zu unkritisch gegenüber den herrschenden Verhältnissen? Oder ist die Kritik am Beutelsbacher Konsens selbst unkritisch gegenüber sich selbst und ihren Überzeugungen? (Debatte in Widmaier / Zorn 2016). Möglicherweise sind zwei Positionen gegenüber dieser Gesellschaft geneigt, das Prinzip der Kontroversität als unzutreffend zu sehen: Einerseits mag eine anti-kapitalistische Position zu viel Nachgiebigkeit gegen das Bestehende beklagen, andererseits wird – auf andere Art und Weise - eine Position, die eine homogene Gesellschaft unterstellt, das Kontroverse ebenfalls nicht als Leitlinie akzeptieren.

Für den Beutelsbacher Konsens plädieren diejenigen, die ihn als Leitlinie für eine pädagogische Situation, also den Unterricht mit Achtung aller Lernenden, sehen (für theoretisches Denken und politisches Handeln stellen sich die Fragen der Bewertungen etwas anders). Bei der Planung und Auswertung von Unterricht ist er ein selbstverständlicher Hintergrund (z.B. Fischer / Thormann 2016, Reinhardt 2006). Für die beurteilende Diagnose von Interaktionen im Unterricht stellen sich schwierige und manchmal kontrovers zu beantwortende Fragen (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, Kapitel 2):

Sind die unterrichtlichen Interaktionen kontroverse gewesen (ganz konkret: für wen und wie)?

Haben die Lehrkraft oder die Schüler(gruppe) einzelne oder viele überwältigt (und sei es ungewollt)?

War die Überwältigung politisch inhaltlich oder moralisch vereinnahmend bzw. ausschließend?

War die Schülergruppe in sich heterogen und deshalb aus sich heraus kontrovers oder hätte die Lehrkraft gegensteuern (eventuell sogar aufrütteln und provozieren) müssen?

Literatur

  • Autorengruppe Fachdidaktik: Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2016 (Wolfgang Sander, Sibylle Reinhardt, Andreas Petrik, Dirk Lange, Peter Henkenborg, Reinhold Hedtke, Tilman Grammes, Anja Besand)

  • Didaktischer Koffer = www.zsb.uni-halle.de/archiv/didaktischer-koffer

  • Fischer, Christian / Thormann, Sabine: „Was ist denn hier bei uns im Haus los?“ Eine Sozialstudie zum Thema „Soziale Ungleichheit“ für den Politikunterricht in der Sekundarstufe I. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) 2016, Heft 1, S. 117-127 (mit Materialien für den Unterricht in Didaktischer Koffer)

  • Reinhardt, Sibylle: Unterricht gegen „rechts“ – geht das? Der Fall EKO-Stahl. Vorschlag für eine Fallstudie zur Auseinandersetzung Lernender mit Ausländerfeindlichkeit. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) 2006, Heft 3, S. 417-429 (mit Materialien für den Unterricht in Didaktischer Koffer)

  • Reinhardt, Sibylle: Politik Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen 2014 (5. Auflage, ab der 4. Auflage 2012 überarbeitet)

  • Widmaier, Benedikt / Zorn, Peter (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016

(c) 2016 Sibylle Reinhardt; (c) 2016 sowi-online e. V., Bielefeld

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