Immer sicht- und spürbarer gerät die Demokratie auch dort unter Beschuss, wo sie gelehrt, gelebt und geschätzt wird – an unseren Schulen. Bis zu neun Landesverbände der Alternative für Deutschland (AfD) wollen sich der Hamburger Fraktion mit ihrer Aktion „Neutrale Schulen“ anschließen. Die Hamburger Fraktion der AfD behauptet, Schulen, in denen zu Demonstrationen gegen die AfD aufgerufen werde, verstießen gegen das Neutralitätsgebot. Deshalb solle mit ihrer Website Neutrale Schulen Hamburg der „demokratische Diskurs“ gestärkt werden. Nachdem Schülerinnen und Schüler oder Eltern „linke Ideologien“ auf der Website eingetragen haben, will die AfD von der Schulbehörde Verdachtsfälle prüfen lassen, in denen gegen das Neutralitätsgebot verstoßen worden sein könnte.
Seit der Ankündigung der Plattform im Mai 2018 herrscht Angst in Lehrerzimmern: Darf ich mich im Unterricht gegen die AfD aussprechen? Muss ich den örtlichen AfD-Vertreter zur Podiumsdiskussion in die Schule einladen? Darf ich Schülerinnen und Schülern von meinem Besuch der „Wir sind mehr“-Demonstration berichten?
Schule kann und darf nicht neutral sein
Die Einrichtung einer solchen Beschwerdestelle ist schon deshalb abzulehnen, weil sie Kinder zu Denunzianten erzieht und das Vertrauensverhältnis zwischen Schülern und Lehrern zerstört. Wer – wie die Hamburgische AfD-Fraktion – zu anonymen Meldungen aufruft, hat kein aufrichtiges Interesse an Klärung, sondern will den Lehrkräften, die eine AfD-ablehnende Haltung artikulieren, einen Maulkorb verpassen. Wenn die AfD sich aber an Verstößen gegen die „Verpflichtung zur politischen Neutralität“ und gegen den Beutelsbacher Konsens reibt, offenbart sie überdies, dass sie die Aufgaben der Politiklehrer und -lehrerinnen falsch versteht.
So sieht der 1976 verfasste und von letztlich allen politischen Bildnern geteilte Beutelsbacher Konsens einen Dreiklang vor, aus dem zwei zentrale Axiome für die gegenwärtige Debatte abgeleitet werden können. Erstens: Schüler dürfen nicht daran gehindert werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden (Überwältigungsverbot). Zweitens: Themen, die in Wissenschaft und Politik kontrovers sind, müssen auch im Unterricht kontrovers erscheinen (Kontroversitätsgebot).
Demzufolge dürfen Lehrpersonen keine politisch relevanten Positionen ausblenden oder – umgekehrt – gezielt Werbung für sie machen. Damit existiert tatsächlich eine Art „Neutralitätspflicht“. Konkret: Sie dürfen den Besuch einer Anti-AfD-Demo nicht zu einer Schulveranstaltung machen, aber sie können darauf hinweisen, dass eine Demonstration stattfindet, und natürlich auch persönlich teilnehmen. Lehrerinnen und Lehrer müssen auch nicht auf eigene Wertungen politischer Sachverhalte verzichten. Das hat etwa die Bremer Landesregierung unlängst festgestellt, nachdem die AfD dort eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen Lehrer eingereicht hatte: „Lehrer dürfen Mitteilungen von Parteien kritisch zerpflücken, historisch Parallelen ziehen und sie in einen Kontext stellen.“
Die Haltung der AfD in der Migrationsfrage können Lehrerinnen und Lehrer folglich ablehnen, wenn ihre Sichtweise im Klassenzimmer nicht absolut gesetzt wird, sondern andere Wertungen zugelassen sind. Der Politikdidaktiker Helmut Däuble hat dies trefflich präzisiert: „Das bedeutet konkret, dass in einem Politikunterricht, in dem es um Migrationspolitik geht, das Spektrum der parteipolitischen Standpunkte von der Offenen-Grenze-Position der Linken bis zur Geschlossenen-Tür-Haltung der AfD so dargestellt werden muss, dass diese für die Lernenden nachvollziehbar und abwägend analysierbar sind, und sie so zu einem eigenständigen Urteil kommen können.“
Kurzum: Zwar müssen Lehrkräfte ihre eigenen Standpunkte als solche transparent machen, aber solange sie darauf hinweisen, dass ihre Sichtweise nur eine von mehreren legitimen Positionen darstellt, ist dies unzweifelhaft zulässig. Schüler und Schülerinnen müssen auch Positionen beziehen dürfen, die nicht denen der Lehrkraft entsprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen diese – etwa bei der Benotung – zum Nachteil gereichen.
Lehrkräfte sind verpflichtet, das Grundgesetz zu verteidigen
Es besteht folglich kein Grund, dass Lehrerinnen und Lehrer sich einschüchtern lassen. Die überwältigende Mehrheit ist sogar durch den Beamtenstatus geschützt. Gemäß Amtseid sind Beamte verpflichtet, das Grundgesetz nicht nur zu achten, sondern auch zu verteidigen. Sie sollen grundgesetzwidrige und demokratiegefährdende Entwicklungen erkennen und dürfen diese auch im Klassenzimmer benennen. Auch für die Schule gilt: Wer Alexander Gaulands Bemerkung, die zwölf Jahre Nazizeit seien nur ein „Vogelschiss“ in der 1.000-jährigen Geschichte Deutschlands, unwidersprochen lässt, bahnt völlig abwegigen Geschichtsdeutungen den Weg. Wenn AfD-Politiker den Mord an sechs Millionen Juden und 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg relativieren, dürfen Lehrkräfte das nicht nur im Unterricht kommentieren, sondern müssen es sogar tun, um der ahistorischen Relativierung oder möglicherweise gar der strafrechtlich relevanten Leugnung des Holocaust zu begegnen.
Damit machen sie sich nicht der Indoktrination schuldig, sondern verteidigen demokratische Werte. Es ist außerdem Lehrerinnen und Lehrern nicht zuzumuten, Stimmen und Stimmungen im Unterricht unwidersprochen zu lassen, die sich gegen zentrale Grundgesetzartikel wie Artikel 1 Absatz 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) und Artikel 3 Absatz 1 („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) richten.
Lehrkräften muss es also erlaubt sein, gegen Hetze, Stimmungsmache und Falschbehauptungen von Björn Höcke, Beatrix von Storch, Alexander Gauland und André Poggenburg Stellung zu beziehen. Wer den Einsatz von Schusswaffen gegen Geflüchtete an der Grenze erwägt (von Storch), das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet (Höcke), die einstige Integrationsbeauftrage, Aydan Özoguz, „in Anatolien entsorgen will“ (Gauland) oder die hier lebenden Türken als „Kameltreiber“ diffamiert (Poggenburg), bewegt sich längst nicht mehr auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ebenjene Grundwerte sollen jedoch in der Schule vermittelt werden. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich in solchen Fällen nicht auf ein Neutralitäts- oder Mäßigungsgebot zurückziehen.
Ihre Aufgabe ist es zudem, Demokratie nicht nur als Staatsform zu erläutern, sondern auch als Lebensform zu praktizieren: bei der Wahl der Klassensprecherin oder des Klassensprechers, bei der Festlegung von Unterrichtsthemen, bei der Auswahl von Exkursionszielen sowie bei der geplanten Um- oder Neugestaltung des Schulgeländes.
Für mehr politische Bildung in den Schulen
Zugleich müssen Schulämter und Kultusministerien alarmiert sein. Latent bedroht war die Demokratie durch Apathie, Extremismus und Populismus schon immer. Nun aber wird diese Bedrohung mit dem parlamentarischen Aufstieg der AfD und der wachsenden Akzeptanz gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch in Schulen virulent.
Da demokratisches Bewusstsein keine anthropologische Konstante darstellt, sondern täglich erlernt werden muss, darf politische Bildung an Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung nicht weiter marginalisiert werden. Es darf nicht länger nur dann nach ihr gerufen werden, wenn sie als Feuerwehr gesellschaftliche Brandherde wie Fremdenfeindlichkeit oder Jugendgewalt bekämpfen soll. Um der Flut unvollständiger und sachlich falscher Informationen Fakten entgegenstellen zu können, müssen etwa die Schulen mehr Unterrichtszeit für die politische Bildung bekommen. Mehr Universitäten sollten Professuren für politische Bildung einrichten. Und außerschulische Bildungseinrichtungen benötigen mehr Geld. Zugleich müssen neue Wege der Politikvermittlung beschritten werden – in Fußballstadien, bei Stadtteilfesten und in Bierzelten. Leisten kann das eine finanziell besser ausgestattete Bundeszentrale für politische Bildung, die über eine hohe Expertise für den Transfer politischer Bildung in die Gesellschaft verfügt.
Um der AfD mit ihrer von Demokratiefeindlichkeit, Demagogie und Denunziation geprägten Politik entgegenzutreten, sind mehr denn je in der bundesrepublikanischen Geschichte Lehrkräfte gefragt, die sich vom Aufruf der AfD zur Denunziation nicht abschrecken lassen – und den Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer nicht denen überlassen, die historische und politische Fakten verzerren und das gesellschaftliche Klima vergiften. Es ist höchste Zeit, dass sich die Hüterinnen und Hüter der Demokratie auf den Weg machen. Andernfalls läuft sie davon.
Bei diesem Text handelt es sich um eine geringfügig geänderte Fassung des Beitrags „Ohne Angst gegen die AfD“ in ZEIT ONLINE vom 23.9.2018.
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.