Beutelsbach als Waffe

Über die Einschüchterungsversuche von ganz Rechts und wie die Schule, Staat und Lehrkräfte darauf reagieren können

Die AFD hat (zuerst in Hamburg) eine Onlineplattform freigeschaltet, über die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern Lehrkräfte anzeigen können, die sich in ihrem Unterricht kritisch über die AFD äußern. Die Aufregung ist groß. Selbst die New York Times hat (am 13.10.18) über den Sachverhalt berichtet. Aber warum eigentlich? Der Beutelsbacher Konsens hält Lehrerinnen und Lehrer in der Bundesrepublik seit vielen Jahren dazu an, im Unterricht nicht einseitig über politische Sachverhalte zu diskutieren und Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung eines selbstbestimmten Urteils zu unterstützen. Die AFD verweist auf ihrer Plattform entsprechend auch sorgfältig auf diesen Konsens sowie dienst- und schulrechtliche Mäßigungsgebote. Was ist eigentlich das Problem und warum reagieren Lehrkräfte auf die Meldeplattform so verschreckt, wenn sie doch eh zu überparteilichen Darstellungen politischer Sachverhalte angehalten sind?

1) Neutral oder kontrovers?

Zum einen wird der Beutelsbacher Konsens von der AFD und der Debatte um die Meldeplattform immer wieder synonym mit einem vermeintlichen Neutralitätsgebot gleichgesetzt. Das ist zwar falsch – scheint aber nicht wenige Akteure in der Diskussion nachhaltig zu verunsichern. Deshalb hier zunächst zur Klärung: Der Beutelsbacher Konsens zwingt keineswegs zu einer neutralen Darstellung politischer Zusammenhänge – die, nebenbei, auch gar nicht möglich wäre. Er betont mit allen drei Punkten vielmehr, dass politische Kontroversen auch kontrovers im Bildungsraum Schule vorkommen müssen. In der Schule soll genau wie in der Gesellschaft über politische Fragen gestritten werden. Engagierte Stellungnahmen von Schülerinnen und Schülern und durchaus auch Lehrerinnen und Lehrern sind in diesem Sinn erwünscht. Das heißt: Politische Debatten sollen auch in Schule und Unterricht stattfinden und mehr als das. Unterricht in Fächern wie Geschichte, Politik, Gesellschafts- oder Sozialkunde, aber auch Deutsch, Kunst, Musik u.Ä. müssen und können gar nicht in einem politikfreien Raum stattfinden. „In jeder Aussage über politische oder gesellschaftliche Sachverhalte schwingt eine – verdeckte oder unterbewusste – Dimension der Wertung und des Dafür- oder Dagegenhaltens mit. Eine strikte und absolute Trennung von Faktenäußerung und Wertung ist weltfremd – das ist eine bleibende Erkenntnis der philosophischen Hermeneutik.“ (Lindner 2018) Gleichwohl haben Lehrkräfte sorgfältig darauf zu achten, dass sie ihre Machtposition in der Institution nicht dazu benutzen, Schülerinnen und Schüler von ihrer persönlichen politischen Meinung zu überzeugen. Das Indoktrinationsverbot ist entsprechend der wichtigste Bestandteil des Beutelsbacher Konsenses. „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern“. Bildungsziel – und das ist in diesem Zusammenhang überaus wichtig zu betonen – ist damit nicht der politische Konsens, sondern die Einübung und das Aushalten kontroverser politischer Auseinandersetzungen.

2) Was ist überhaupt kontrovers?

Ein zweites Missverständnis wird sichtbar, wenn wir uns der Frage zuwenden, was überhaupt als kontroverse Positionen im Rahmen von politischer Bildung verstanden werden kann. Denn Kontroversität hat auch im Rahmen politischer Bildung durchaus Grenzen. Bildung oder noch präziser politische Bildung hat – das lässt sich mit Blick auf ihre Geschichte gut nachvollziehen – einen normativen Kern. Im Sächsischen Schulgesetz heißt es in §1 Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule beispielsweise: „Die Schüler sollen lernen, allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ihren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten“ und drei Abschnitte weiter heißt es „Die Schüler sollen lernen, allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ihren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten“ (Sächsisches Schulgesetz). Die normative Perspektive nicht nur der politischen Bildung, sondern von Bildung allgemein, ist damit nicht auf eine wie auch immer geartete neutrale Auseinandersetzung mit politischen, sozialen und ethischen Fragen gerichtet. In Schule und politischer Bildung geht es vielmehr um die Vermittlung pluralistischer, demokratischer und menschenrechtsorientierter Haltungen und Werte. Wenn es um Kontroversität in der politischen Bildung geht, sind Lehrerinnen und Lehrer in eben diesem Sinne auch nicht verpflichtet, Schülerinnen und Schüler darauf hinzuweisen, dass es auch Menschen gibt, die den Holocaust leugnen. Sie müssen keine extremistischen oder radikalen Positionen in ihren Unterricht einbringen, wenn diese nicht von alleine dort vorkommen. Und wenn solche Positionen sichtbar werden, dann dürfen – nein müssen sie diesen Äußerungen auch wiedersprechen. Nichts ist in einem solchen Zusammenhang schädlicher als Lehrerinnen und Lehrer mit indifferenter Haltung.

Zusammenfassend heißt das: Nicht jede Kontroverse, die gesellschaftlich existiert, muss im schulischen Kontext reflektiert und gleichberechtigt behandelt werden. Oder um es mit den Worten von Aleida und Jan Assmann zu sagen „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben. “ Kurt Edel hat das in einem Interview in der taz am 2.10. so ausgedrückt: „Lehrer dürfen gar nicht neutral sein. Sie sind durch das Schulgesetz und die Verfassung in Sachen Menschenrechte und Demokratie darauf festgelegt, grundrechtsklar gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und diskriminierende Positionen, wie sie die AfD laufend vertritt, aufzutreten. Insofern haben sie eine Pflicht zur demokratischen Parteilichkeit.“ (Edel 2018)

3) Woher kommt die Angst?

Wenn der Zusammenhang sich tatsächlich so darstellt, wie er im Vorangegangenen beschrieben wurde, warum reagieren Lehrerinnen und Lehrer dann so verschreckt auf die Meldeplattform der AFD? Warum stellen sie sich nicht selbstbewusst der Initiative entgegen? Zum einen, weil die Meldeplattform genau auf diese Ängste zielt. Sie benutzt den Beutelsbacher Konsens als Waffe gegen die Lehrerinnen und Lehrer und versucht diese massiv einzuschüchtern. Die Strategie ist so geschickt wie perfide. Die Meldeplattform ermöglicht es sowohl Schülerinnen und Schülern als auch ihren Eltern (oder jedem rechten Aktivisten) anonym Anklage gegen Lehrkräfte zu erheben und bietet an, diese an die entsprechenden Schulbehörden weiterzuleiten. Im Fall der Plattformen in Baden-Württemberg und Sachsen werden die Schülerinnen und Schüler zudem aufgefordert, Audiomitschnitte oder andere (Foto-)Dokumente anzufertigen, um ihren Anschuldigungen mehr Gewicht zu verleihen. Das verstößt nicht nur gegen die Persönlichkeitsrechte von Lehrerinnen und Lehrern sowie Mitschülerinnen und Mitschülern, sondern damit werden Konflikte – die durchaus fruchtbar im Klassenraum ausgetragen werden könnten – ausgelagert und in die Öffentlichkeit gezerrt. Diese Art der Denunziation verhindert oder zerstöret das für einen gelingenden Unterricht notwendige Mindestmaß an Vertrauen, sät Misstrauen, Angst und Vorsicht und ist überdies nicht mit den schulrechtlichen Grundregeln der gegenseitigen Rücksichtnahme und Achtung zu vereinbaren. Das juristisch relevante Stichwort in diesem Zusammenhang ist der Schul- und Klassenfrieden (vgl. Lindner 2018). Die Qualität des Unterrichts leidet, wenn sich eine Lehrkraft im Gemeinschaftskundeunterricht (aber durchaus auch im Unterricht anderer Fächer) bei jeder Äußerung genau überlegen muss, ob sie nicht Minuten später auf einer Parteiplattform landet und angeprangert wird. Unter solchen Bedingungen ist ein lebendiger, anschaulicher und für die Schüler interessanter Unterricht kaum möglich.

4) Wie sieht eine angemessene Reaktion aus?

Wie kann man nun auf die AFD-Meldeplattform am besten reagieren? Diese Frage stellt sich, je nach dem aus welchem professionellen Standort sie erwogen wird, sehr unterschiedlich.

Den Lehrerinnen und Lehrern ist zunächst zu raten, sich durch den Einschüchterungsversuch der AFD nicht beeindrucken zu lassen. Wie Timothy Snyder in seinem Buch „Tyrannei“ pointiert herausarbeitet, ist vorauseilender Gehorsam das schlimmste Gift in einer Demokratie, die in den Autoritarismus driftet (Snyder 2017). Aber wenn wir ehrlich sind, ist das leichter gesagt als getan. Denn es kann Lehrerinnen und Lehrern nicht gleichgültig sein, wenn sie sich – neben ihrem Alltagsgeschäft – auch noch vor ihrer Schulleitung/Schulver­waltung u.Ä. zu entsprechenden Vorwürfen erklären müssen. Zudem mögen manche Zweifel haben, welchen Rückhalt sie in diesen Gremien überhaupt finden.1

Kultusministerien, Schulverwaltungen und Schulträger sind deshalb aufgefordert, sich klar und deutlich zu diesem Sachverhalt zu äußern. Denn nur auf dieser Grundlage entwickeln Lehrkräfte Handlungssicherheit und Selbstbewusstsein, sich auch in politisch polarisierten Situationen von antidemokratischen Einschüchterungsversuchen nicht beeindrucken zu lassen.

Tatsächlich brauchen wir aber mehr als das. Denn Durchhalteparolen in Richtung Lehrkräfte führen angesichts der Schärfe der zu erwartenden Konfrontation zu einer unangemessenen Privatisierung des Konflikts. Zu fragen wäre deshalb, ob es tatsächlich in Ordnung ist, im Hinblick auf potenzielle rechtliche Schritte, die gegen die Meldeplattformen eingeleitet werden, lediglich auf zivilrechtliche Probleme (Verletzung von Persönlichkeitsrechten bzw. Verstoß gegen Datenschutzverordnungen) zu verweisen und damit die Lehrkräfte alleine zu lassen. Dass sich auch jenseits des Zivilrechts Möglichkeiten ergeben, zeigt der Fall Brandenburg. Hier hat die brandenburgische Landtagspräsidentin bereits vor dem Start der brandenburgischen Meldeplattform angekündigt, gegen das Portal vorzugehen, weil es mit Fraktionsmitteln finanziert wurde, was gegen das Fraktionsgesetz verstoße. Wie erfolgreich diese Initiative sein wird, bleibt abzuwarten. Dass sich aber durchaus auch staatsrechtliche Reaktionsmöglichkeiten ergeben, zeigt ein Beitrag von Josef Franz Linder zur sowi-online-Kontroverse „Wie sollen Lehrkräfte mit Meldeportalen der AfD umgehen?“, der zuerst auf verfassungsblog.de erschien.

Literatur

  • Aleida und Jan Assmann: Rede im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt 2018
  • Josef Franz Linder: Lehrermeldeportale darf der Staat nicht akzeptieren, in: verfassungblog.de online unter https://verfassungsblog.de/lehrermeldeportale-darf-der-staat-nicht-akzeptieren/
  • Kurt Edel im Interview: Lehrer dürfen nicht neutral sein, in die taz 2.10.18, online unter http://www.taz.de/!5538920/
  • Sächsisches Schulgesetz online unter https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/4192-Saechsisches-Schulgesetz#vwv1

Anja Besand ist Professorin für Didaktik der Politischen Bildung am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden.