Der Bundesfinanzhof und der Weg zur autoritären Demokratie
Das Urteil kam unerwartet und traf die kritische Zivilgesellschaft ins Mark ihres demokratischen Selbstverständnisses: Am 27. Februar 2019 entzog der Bundesfinanzhof (BFH) dem globalisierungskritischen Verein Attac den Status als gemeinnützige Organisation. Dies hat zur Konsequenz, dass Attac keine Spendenbescheinigungen ausstellen darf, die es ermöglichen, dass Spenden steuerlich abgesetzt werden können. Neben den materiellen Verlusten wiegt die Aberkennung auch ideell schwer, denn der Gemeinnützigkeitsstatus gilt als eine Art staatliches „Gütesiegel“ für Seriosität und erleichtert die Anmietung von Räumen und die Kommunikation mit anderen politischen Akteuren.
Dieses Urteil hat allgemeingültige Wirkung und stellt keine „Causa Attac“ dar. Campact hat infolgedessen ihre Spendenbescheinigungen präventiv zurückgezogen, auch ein kleiner Kulturverein in Baden-Württemberg steht vor dem Entzug seiner Gemeinnützigkeit. In der demokratischen Zivilgesellschaft wachsen die Sorgen, dass dies die ersten Züge des illiberalen Windes sind, die insbesondere in Osteuropa den Spiel- raum für zivilgesellschaftliches Engagement gefährlich einzuschränken versuchen. Julia Bürgin und Andreas Ergin haben in der Mai-Ausgabe der HLZ bereits den Kontext eines autoritären Angriffes auf die politische Bildung skizziert, in dem das Attac-Urteil nur einen Bestandteil von vielen darstellt.
Hauptargument des Gerichts ist, dass die politische Tätigkeit von Attac nicht von der Abgabenordnung des Gemeinnützigkeitsrechts gedeckt sei. Sie listet konkrete Zwecke auf, die als gemeinnützig gelten, unter anderem der Umweltschutz, die Förderung der Heimatpflege oder des Sports. Die Forderungen von Attac nach mehr sozialer Gerechtigkeit oder einer Reform des Finanzmarktsektors gehören nicht dazu, ebenso wenig übrigens „Förderung der Grund- und Menschenrechte“ oder die „Gleichstellung der Geschlechter“. Die Abgabenordnung wurde seit Jahrzehnten nicht mehr reformiert, sodass sie als veraltet und überholt bewertet wer- den kann. Eine politische Betätigung ist nicht untersagt, wenn sie für die Verwirklichung der satzungsgemäßen Ziele erforderlich ist. Deshalb dürften die konservativen Attacken gegen die Deutsche Umwelthilfe ins Leere laufen.
Bisher konnten sich Vereine wie Attac auf § 52 Abs.1 Punkt 7 der Abgabenordnung berufen, wonach auch „die Förderung der Erziehung, Volks- und Berufsbildung“ als gemeinnützig an- gesehen wird: Wenn ich für eine Reform des Finanzmarktes eintrete, kläre ich die Bevölkerung auch über gelten- de Missstände auf und betreibe somit „Volksbildung“. Der BFH fordert jetzt, dass sich gemeinnützige Organisationen auf bildungspolitische Fragestellungen beschränken müssen und nicht zur Beeinflussung der politischen Willensbildung und der öffentlichen Meinung andere Themenschwerpunkte setzen dürfen. Zentrales Kriterium ist also nun eine „geistige Offenheit“ der politischen Bildung, während es bei Attac vorrangig um eine „öffentlichkeitswirk- same Darstellung und Durchsetzung eigener Vorstellungen zu tagespolitischen Themen und damit um die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung“ gehe.
Das Gericht beschränkt den Aktionsradius einer Bildungseinrichtung auf bildungspolitische Fragen, so wie er sich bei Umweltorganisationen auf umweltpolitische Fragen beschränkt. Beinhaltet die Satzung also den Zweck „Bildung“, darf man in vollem Umfang zu bildungspolitischen Themen aktiv sein. Man darf die Bevölkerung über Missstände aufklären und versuchen, durch die Teilnahme an entsprechen- den Demonstrationen politischen Druck zu erzeugen. Zum anderen darf man zu weiteren politischen Themen Bildungsarbeit betreiben, aber nicht politisch aktiv sein. Man darf also Seminare zur Ungerechtigkeit im Finanzmarktsektor abhalten, sofern eine „geistige Offenheit“ für verschiedene Standpunkte gewahrt bleibt. Wenn man aber darüber hinaus an einer #Umfairteilen-Demo teilnimmt oder sich zu tagespolitischen Debatten äußert, gefährdet man seine Gemeinnützigkeit.
Diese Interpretation des Bildungsbegriffs stellt eine Vereinfachung und Verengung dar, die durch moderne Erkenntnisse der progressiven Erziehungswissenschaften überholt ist. Bereits John Dewey ging vor über hundert Jahren davon aus, dass demokratische Gesellschaften von Überzeugungen und Gewohnheiten zehren, die in einem vorpolitischen Raum wie der Schule, aber auch der Zivilgesellschaft, erzeugt und reproduziert werden müssen. Zentral für die an Dewey ausgerichtete Demokratiepädagogik ist die Wechselwirkung von Erziehung und Erfahrung: Jede Erfahrung ist demnach das Resultat einer Interaktion zwischen einem Lebewesen und einem Aspekt seiner Umwelt. Die Erfahrung teilt sich in aktive Elemente (ausprobieren, versuchen, Erfahrung machen) und passive Elemente (erleiden, hinnehmen), die miteinander verbunden sind. Wenn wir etwas erfahren, so wirken wir auf dieses Etwas zugleich ein, so tun wir etwas da- mit, um dann die Folgen unseres Tuns zu erleiden. Wir wirken auf den Gegen- stand ein und dieser Gegenstand wirkt auf uns zurück. Je enger diese Seiten verflochten sind, desto größer ihr Er- fahrungswert.
Im Austausch und in der sozialen Kooperation mit anderen und der Umwelt kommen Erfahrungen zustande, geprägt von Erfolg und Misserfolg. Er- folg beziehungsweise Bestätigung führen dazu, dass angewandte Verhaltens- weisen zur Routine bzw. Gewohnheit werden. Misserfolg oder negative Erfahrungen wiederum führen zur Veränderung. Hieraus formt sich das „Selbst“, und die Reife des „Selbst“ bzw. der Persönlichkeit hängt nun von der Fülle des Erfahrungsbestandes und von der Vielfältigkeit der sozialen Bezüge ab, die das Individuum macht. Ziel der schulischen und außerschulischen Bildung ist die vollständige Selbst-Realisierung als das moralische Ideal einer demokratischen Gesellschaft.
Die Erfahrungen des Einzelnen und der Gesellschaft konstituieren die Demokratie als Lebensform, die unerlässliche Grundlage ist für die Demokratie als Herrschaftsform. Eine lebendige Demokratie als Lebensform setzt für die beteiligten Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dann freilich zugleich konkrete Maßstäbe für die Beurteilung der Demokratie als Gesellschafts- und Herrschaftsform. Wird die demokratische Lebensform nicht gefördert, entsteht die Gefahr, in einer Demokratie ohne Demokratinnen und Demokraten zu leben. Keine Demokratie kann als Herrschaftsform dauerhaft stabil sein, wenn sie nicht auf subjektive Zustimmung und Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zählen kann, die diese Herrschaftsform tragen und ihr eine innere Qualität verleihen.
Und dies ist eine zentrale Kritik am BFH-Urteil: Das fehlende Verständnis dafür, dass Demokratie ihren Wert nicht primär aus Regeln, Verfahren und Institutionen zieht, sondern vielmehr von dem Wesen der Demokratie als Lebensform. Dies wiederum bedingt eine aktive Zivilgesellschaft, die sich einmischen kann, darf und soll.
Anhand des Bildungsbegriffs des BFH offenbart sich demnach das ganze Ärgernis dieser Form der Rechtsprechung: Hier wird „Bildung“ kategorial gleichgesetzt mit „Umwelt“ und „Kultur“. „Bildung“ ist jedoch eine meta- physische Kategorie, die unabhängig und in Verbindung zu allen anderen Kategorien steht. In der Schule werden Schülerinnen und Schüler nicht „zur Bildung gebildet“, sondern gebildet in Fragen der Demokratie, des Zellaufbaus und der Winkelberechnung. Insofern kann, übertragen auf die Gesellschaft, der Zweck der Volksbildung selbstverständlich heißen, etwas über demokratische Prozesse zu lernen, wenn man zu einer Anti-TTIP-Demo aufruft und in Interaktion zu anderen und seiner Umwelt tritt. Das BFH-Urteil verbleibt so in einer sehr konservativen und einseitigen Auslegung des Bildungsbegriffs, der, ob gewollt oder nicht, in Argumentation wie Konsequenz den Geist einer regressiven Gesellschaftsentwicklung trägt – und das, lange bevor sich die Rechtsentwicklung in Personalentwicklungen innerhalb der staatlichen Institutionen niederschlägt. Die daraus folgende Einengung zivilgesellschaftlichen Spielraums vonseiten des Staats zeitgleich mit dem Erstarken antidemokratischer Kräfte rechts der Union ist das Gegenteil dessen, was die demokratischen Kräfte in den bevorstehen- den Abwehrkämpfen benötigen.
Die „Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ besteht aus mittlerweile über 120 Vereinen und Stiftungen, die sich aufgrund der Repression gegenüber Attac zusammen- geschlossen haben, um eine progressive Reform des Gemeinnützigkeitsrechts zu erreichen. Sie fordert eine Änderung der Abgabenordnung, so dass die politische Willensbildung durch zivilgesellschaftliche Organisationen einen angemessenen Rechtsrahmen erhält und alle entsprechenden Ziele als gemeinnützig anerkannt werden, ohne, dass man sich in einen Meta-Zweck „Bildung“ flüchten muss. Außerdem ist in die Abgabenordnung aufzunehmen, dass die Beteiligung an der politischen Willensbildung unschädlich für die Gemeinnützigkeit ist – solange man nicht zu Wahlen antritt. Die GEW kann diesen Kampf unterstützen, indem sie den veralteten Bildungsbegriff des BFH kritisiert und über diese Schiene hilft zu ermöglichen, dass die Gemeinnützigkeit durch politische Betätigung nicht gefährdet wird. Es gibt aber noch einen weiteren gewichtigen Grund, warum sich die GEW in diesem Konflikt solidarisch und engagiert zeigen sollte: In einem Rechtsgutachten zur Begründung des BFH- Urteils deutete Professor Hüttemann, eine bundesdeutsche Koryphäe in Sachen Gemeinnützigkeitsrecht, an, dass die Argumentation des BFH nicht bei zivilgesellschaftlichen Vereinen stehen bleiben müsse. Denn auch die Steuerbegünstigung von Gewerkschaften und anderen Berufsverbänden beruhe auf ihrem Gemeinwohlcharakter, wes- halb sie sich zwar im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Zwecke für die Interessen ihrer Mitglieder politisch äußern (und beispielsweise die Anhebung des Mindestlohns fordern) dürfen und so Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen, aber nicht allgemeinpolitisch aktiv werden dürften. Würde die GEW zum Beispiel an einer Seebrücken-Demo teilnehmen, würden auch sie ihre Steuervergünstigung gefährden. Hier kann man erahnen, dass die Zivilgesellschaft heute bereits Kämpfe führt, die morgen auch für andere demokratische Institutionen von Belang sein werden.
Autorenangaben:
Jonathan Schwarz, Referent bei der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“
Kontakt: schwarz@zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de
Quelle, auch zuerst erschienen: HLZ Zeitschrift der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 2019 (12), S. 30f.