1989 war ich 14 Jahre alt. Aus den Unschärfen meiner Erinnerungen steht mir bis heute eine Situation ganz lebhaft vor Augen, wahrscheinlich, weil sie derart ungeheuerlich war: An einem dieser Tage im Herbst ’89 oder Frühjahr ’90 kam unser Staatsbürgerkundelehrer in die Klasse, setzte sich an den Lehrertisch, schlug das Klassenbuch auf, in dem auch unsere Noten eingetragen waren, nahm ein Lineal und strich fein säuberlich alle diese Noten im Gesinnungsfach Staatsbürgerkunde durch. Vom Notendruck befreit sollte der Unterricht zum angstfreien, enthierarchisierten, ermutigenden Raum politischer Willensbildung und Auseinandersetzung werden.
Wie schnell und gut das funktioniert hat, weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich heute Mitschüler*innen von damals treffe, erzählen wir uns gern von diesen aufregenden offenen Jahren, in der uns alles Politische interessierte und das Klassenzimmer der Ort war, in dem das Aufregende, was um uns herum vor sich ging, zum Thema wurde.
Damals wusste ich noch nichts vom Beutelsbacher Konsens, vom Überwältigungsverbot oder Neutralitätsgebot für Lehrer. Ich würde sagen, dass die Lehrer*innen gerade in der Phase des Übergangs zurückhaltend waren, auch weil sie sich ihrer Rolle unsicher geworden waren. Nur eines war ihnen klar, dass sie es bis ’89 staatstragend zu weit getrieben hatten. Der Lehrplan Geschichte der DDR definierte nicht nur Merkzahlen und historische Fakten als Lernziele, sondern auch Interpretationen und Beurteilungen. Als das alles reif war für den Papierkorb, begannen sich die Fragen gegenüber den Antworten durchzusetzen, das Abwägen gegenüber den festen Positionen.
Als Wissenschaftler sollte ich gar nicht derart subjektiv schreiben. Ich sollte das ‚ich‘ vermeiden und ich sollte die Erinnerungen eher als Zeugnisse heutiger Sichtweisen nehmen, denn als Fakten über die Vergangenheit. Und verklärt ist all das zweifellos. Aber es ging mir durch den Kopf, als ich von den Meldeportalen der AfD erfuhr. Das ist Erziehung zum Denunziantentum. Etwas, was ich sehr genau zu kennen meine. Ich wusste als Jugendlicher, wo ich zu schweigen hatte, wo Vorsicht geboten war, weil jemand mithören könnte. „Psst, nicht so laut, der Nachbar!“
„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Gesellschaften, die eine derartige Einrichtung haben, sind instabil. Sie benötigen diese Einrichtung ja gerade, weil die Macht der Mächtigen ansonsten nicht aufrechtzuerhalten wäre. Das durch denunziatorische Unsicherheit gesäte Misstrauen soll zersetzend wirken. Das allein ist die Absicht dieser Einrichtung. Und es hat wesentlich zur Machausübung Robespierres, Metternichs, Hitlers, Stalins, Maos und Mielkes gehört. Es ist gesellschaftlich gefährlich.
Nun meint die AfD, Schüler vor politisch übergriffigen Lehrern schützen zu müssen. Nehmen wir das für einen Moment mal ernst. Auf den ersten Blick ist das eine löbliche Absicht. Es war ja gerade das Wesen politischen Unterrichts in der DDR, dass den Schülern eine politische Haltung anerzogen werden sollte, dass Schüler*innen im Unterricht bestimmte Antworten abverlangt worden. Und es ist ein hohes Ziel der demokratischen Schulbildung, eben das zu unterbinden. Der Beutelsbacher Konsens versucht Indoktrination zu unterbinden. Konsequent wäre es, die Noten für Unterricht, der meinungsbildend wirken soll, ganz abzuschaffen. Es geht ganz einfach: Lineal raus und durchstreichen. Ich hab es selbst erlebt. Nun, das hat die AfD gerade nicht im Sinn.
„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Dieses Zitat wird Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben. Und da wird es für Historiker*innen auch schon interessant. Man kann die Urheberdiskussionen auf Wikiquote nachlesen (https://de.wikiquote.org/wiki/Diskussion:August_Heinrich_Hoffmann_von_Fallersleben), ich will die Details hier nicht weiter ausbreiten. Nur so viel: die Urheberschaft dieses Zitats ist höchst unsicher. Wie Geschichte überhaupt, insbesondere dort, wo sie interessant ist. Dass Karl der Große zu Weihnachten 800 in Rom gekrönt wurde, gilt als unstrittig, ist aber an sich zu wissen kein gewinn. Wie er aber eingeordnet werden kann, welcher Art die Geschichten sind, die über ihn erzählt wurden und werden, ob er als Bezugspunkt taugt oder nicht, darauf gibt es keine klaren Antworten. Und genau diese Unbestimmtheit macht das wesentliche Potential von Geschichte aus, dass sie zur Auseinandersetzung anregt und somit entscheidend zur Selbstverortung und Selbstverunsicherung beiträgt.
Wenn es nun Lehrer*innen gibt, die dieses Potential vergeuden, weil es in ihrem Geschichtsunterricht nur um bloße Zahlen, Daten und Fakten geht, dann sollten Eltern das unbedingt thematisieren, im Gespräch, im Streit mit diesen Lehrern, im Zweifelsfall auch mit Schulleitungen und Aufsichtsbehörden.
Der Pranger eines Internetportals hingegen wird diesen Zweck vollkommen verfehlen. Und das werden die, die ihn einrichten, auch sehr genau wissen. Die bornierten Lehrerinnen, die er angeblich treffen soll, wird er ohnehin nicht schrecken. Die anderen aber soll er verängstigen. Denunziation zielt vor allem auf diese Wirkung. Das kann am Ende nur dazu führen, dass sich Lehrerinnen aufs Unstrittige zurückziehen. Und genau damit würde der wesentliche Gewinn des Geschichtsunterrichts verspielt.
Kindern und ihren Eltern kann man nur raten, sich bei den Lehrer*innen zu beschweren, die ihnen so etwas vorenthalten.
Den Lehrerinnen im Land kann man nur zurufen: Lasst Euch nicht einschüchtern. Politisiert Euren Unterricht. Verunsichert. Bringt die Kinder zum Streiten und streitet mit ihnen. Es geht um etwas, wenn Ihr über Karl den Großen redet oder über den Reichsdeputationshauptschluss (ja, den hat es tatsächlich gegeben). Stürzt Euch auf die Themen, die verunsichern und lasst sie Eure Schülerinnen nach allen Seiten wenden. Vor allem: Durchleuchtet die spukenden Begriffe wie „Abendland“, „Vaterland“ und „Heimat“. Fragt Euch mit Euren Schüler*innen, was die Leistungen deutscher Soldaten aus zwei Weltkriegen sein sollen, auf die man stolz sein soll (Gauland, 2.9.2017). Sprecht über Kultur und Migration, über Krieg und Vertreibung. Analysiert, was die „Volksgemeinschaft“ war im Dritten Reich und was für ein Lump der Denunziant ist.
Lars Deile ist Juniorprofessor für Didaktik der Geschichte an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld.