Norbert Jacke
Die Richtung der langjährigen bildungspolitischen Debatten um die Zukunft der Lehrerausbildung scheint klar: In der Begründung zum Antrag von SPD und Grünen im Landtag NRW, "Lehrerausbildung reformieren - Bezug zur Berufspraxis stärken" (Drucksache 12/3814), stellt der Sprecher der SPD im Ausschuss für Schule und Weiterbildung des Landtags NRW, Manfred Degen fest: Ziel sei es, "die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer angesichts wachsender Aufgaben der Schule durch die Reform der ersten Phase zu stärken und mehr an der Praxis zu orientieren" (Quelle). Die CDU-Opposition bedauert das mangelhafte Tempo der Reformen und kritisiert, der Antrag sei überfällig.
Die fast einmütige Forderung nach Stärkung der "Professionalität" und höherem "Praxisbezug" der Ausbildung, insbesondere der ersten Phase, beschränkt sich nicht auf Nordrhein-Westfalen und schon gar nicht auf die inneren Zirkel der Bildungspolitik. Insbesondere Klagen über Praxisferne der "ersten Phase" gehören zum bildungspolitischen common sense. Der Beifall eines grossen Teils der interessierten Öffentlichkeit, der angehenden wie der praktizierenden LehrerInnen und auch vieler LehrerbildnerInnen an Universitäten, pädagogischen Hochschulen und Studienseminaren dürfte den Antragstellern also genauso gewiss gewesen sein wie die Kritik der Mehrheit der Lehrenden an Hochschulen, die sich mit der Sonderstellung der Lehrerbildung nie anfreunden konnten.
In der Pilot-Ausgabe des sowi-onlinejournals kommen vor allem AutorInnen zu Wort, die dem common sense der Lehrerbildung im Interesse einer an Professionalisierung orientierten Lehrerbildung widersprechen oder differenzierend Stellung nehmen. Ein Thema, das die Aufsätze von Radtke, Becker, Wildt und Hedtke aus unterschiedlichen Perspektiven und mit divergierenden Konsequenzen bearbeiten, ist der Zusammenhang von Praxisbezug der Ausbildung und der Befähigung zu professionellem Handeln im Beruf. Während in manchen bildungspolitischen Stellungnahmen die Entwicklung von Professionalität an Praxisorientierung im Studium gekoppelt wird, betonen diese Autoren, dass Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern grundlegend auf wissenschaftlichem Wissen basiert. In dieser Hinsicht setzen sich die Beiträge vom Diskurs der Bildungspolitik ab. Differenzen bestehen in Bezug auf die Vermittlung von Wissenschaft und Praxis in der ersten Phase. Sie gilt den einen als problembeladen und bislang ungelöst, den anderen als unlösbar. Eine anders akzentuierte Position nimmt Bormann im abschliessenden Beitrag ein. In ihrem Beitrag geht es um den Zusammenhang von organisationalem Lernen und Lehrerbildung.
Frank-Olaf Radtke legt in seinem Beitrag dar, was die Universität im Bereich der Lehrerbildung aus seiner Sicht leisten kann (und was nicht). Ausgehend von dem Anspruch auf Professionalisierung künftiger LehrerInnen entwickelt Radtke einen Professionsbegriff, der "auf die Aneignung hermeneutischer Kompetenz und wissenschaftlichem Reflexionswissen" zielt und es erlaubt, eine "wirksame Sperre ... gegen eine ... Reduktion der Universität auf eine Ausbildungsanstalt und ihre Funktionalisierung für eine externe ... Verwertung von Wissen" einzuziehen. Eine neue Konzeption der Lehrerbildung darf daher, so Radtke, nicht auf eine Verstärkung des direkten Praxisbezuges von Studienangeboten setzen. Aufgabe einer auf Professionalisierung gerichteten wissenschaftlichen Ausbildung sei gerade nicht die Einübung des "in der Berufskultur gepflegte(n) Denken(s)", sondern "dessen Irritation, die eine Voraussetzung von Innovation ist". Deshalb erfordere eine professionalisierende Lehrerausbildung die Betonung theoretischer Grundlegungen. Im Unterschied zu einer Lehrerbildung, die in der ersten Phase auf direkten Praxisbezug setzt, hält Radtke sein Professionalisierungskonzept mit der empirischen Realität der Universität vom Grundsatz her für vereinbar. In den aktuellen Diskussionen zu Autonomiesierung, Entstaatlichung und Modularisierung der Lehrerbildung sieht der Autor Ansätze für eine zukünftige Konzeption universitärer Lehrerbildung.
Ähnlich ablehnend wie Radtke zeigt sich auch Egon Becker in seinem Beitrag "Lehramtsausbildung - Illusionen ohne Ende?" gegenüber Forderungen nach einer praxisorientierten Lehrerbildung. Becker sieht das Ende einer 150jährigen Entwicklung, in der sich staatliche Schulreformen, "Reformen der Lehrerausbildung und die Standespolitik der Lehrerschaft gegenseitig stützten". Eine neue Verbindung von Schulreform und Standespolitik könne sich dann entwickeln, "wenn sich die Lehrerschaft als eine Profession zu begreifen begänne, die als Profession auch die Modernität und die Qualitätsstandards von Unterricht und Schule zu garantieren hätte". Voraussetzung dafür sei eine "politische Definition neuer Leitvariablen der Veränderung": "Zurückdrängen der staatlichen Fremdsteuerung", "Orientierung an den strukturellen Differenzen von Universität und Schule"; "Optimierung der Ausbildungsinstitutionen unter politisch ausgehandelten Zielvereinbarungen" und " Neudefinition der Lehrertätigkeit als eines riskanten professionellen Handelns". Unter der Prämisse, daß "Wissen zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen und zur entscheidenden Voraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung moderner Gesellschaften geworden ist", wäre es im "postmodernen Zeitalter der Globalisierung und Wissensrevolutionen" Aufgabe der Schulen, einen "sicheren Ort zwischen Ordnung und Erneuerung des Wissens" zu finden. Ein neues Leitbild für die Lehrerbildung könne sich dabei nicht "aus einer gesellschaftlich akzeptierten pädagogischen Idee heraus entwickeln", sondern bedürfe eines formalen Organisationsrahmens für unterschiedliche Konzepte. Die Universitäten sollen sich dabei auf das beschränken, "was sie können": "für eine Profession unter den Normalbedingungen einer Universität" ausbilden. Notwendig ist "eine Professionswissenschaft der Pädagogen mit einer rationalen Wissenskultur", die "ein spezifisches Expertenwissen zu kultivieren (hätte): Wie Lernkulturen zu gestalten und zu sichern sind, die Distanz zum Alltagswissen ermöglichen und in denen Wissen unterschiedlicher Herkunft produktiv angeeignet und in Bildungswissen verwandelt werden kann". In der Konsequenz plädiert Becker u.a. für die "eindeutige Trennung eines wissenschaftlichen Studiums an der Universität und einer außeruniversitären Berufsausbildung", die "Abschaffung der lehramtsbezogenen Staatsexamina", eine Modularisierung des Studiums, die Aufhebung der bisherigen Studienseminare zugunsten eigenständiger Zentren für Lehrerausbildung ... im Verantwortungsbereich der Schulen ..., die die eigentliche Berufsausbildung sämtlicher Lehrerinnen und Lehrer übernehmen, sowie eine Gründung von "interdisziplinäre(n) Zentren für Bildungsforschung an den Universitäten", in denen "das empirische und das theoretische Wissen über Bildungsprozesse, Unterricht und Schule systematisch erweitert wird".
Auch Jürgen Oelkers legt in seinem Aufsatz "Studium als Praktikum? Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung" die Widersprüche und Dilemmata einer engagierten, pädagogischen Idealen verpflichteten Lehrerbildung dar und entwickelt drei mögliche Pfade einer zukünftigen Lehrerbildung, die auf diese Schwierigkeiten reagiert. Der erste Weg, Studium als "Praxisbezug", schaffe mehr Probleme als er löse: Oelkers vertritt die Auffassung, daß "Praxisbezug" keine Auswahlkriterien begründet und letztlich eine "rhetorische Formel" bleibe, hinter der sich fast beliebiges Ausbildungswissen verstecken könne. Ein Studium ohne "Praxisbezug" verstanden als "Studium von wissenschaftlichen Disziplinen ..., das unabhängig von Verwendungsfragen erfolgt", erscheine ebensowenig überzeugend: Wer, so Oelkers, ein wissenschaftliches Studium, z.B. in Anlehnung an einen Diplomstudiengang absolviert, "muss nach der Verwendbarkeit fragen, wenn das letztendliche Ziel der Lehrerberuf ist". Für den mittleren Weg, der "Lehrerbildung als Kontinuum" mit einem "Berufsfeldbezug" konzipiert, stellt Oelkers sieben Postulate auf, die "so angesetzt sind, dass einerseits die Vorteile der universitären Ausbildung genutzt, andererseits die erkennbaren Nachteile vermieden werden": Die Ausbildung muss (1) Ziele formulieren, Erwartungen in Standards übersetzen und das Erreichen von Standards kontrollieren; sie muß (2) auf Forschung, insbesondere auf empirische Schulforschung bezogen sein, sie muss (3) Ausbildungsleistungen kreditieren, um zum Ausbildungskontinuum werden zu können; sie muss (4) über alle Phasen hinweg einem gemeinsamen Curriculum folgen, ihre Angebote abstimmen und dafür (5) eine standortbezogene gemeinsame Leitung mit Sanktionsbefugnis bekommen. Zwischen den Standorten sind (6) unterschiedliche Prioritäten und Profile, d.h. Wettbewerb, erwünscht, denen (7) Rahmenvereinbarungen zugrunde liegen (gefaßt als Leistungsauftrag "Entwicklung der Lehrerbildung"), deren Umsetzungen von unabhängiger Seite zu bilanzieren sind.
Johannes Wildt argumentiert wie Radtke und Becker professionstheoretisch und sieht damit auch die Verwissenschaftlichung der Lehrerbildung als unabdingbar an. Anders als bei Radtke und Becker erscheint jedoch Praxisbezug und nicht Wissenschaftlichkeit als Defizit der vorfindlichen Lehrerbildung. Im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen "wissenschaftlichem Wissen" und "Handlungswissen" sowie den zugehörigen Kriterien "Wahrheit" und "Angemessenheit" betont Wildt zwar die Differenz von Wissenschaft und Praxis, wendet sich aber gegen eine "phasen- und institutionsspezifische Zuordnung von Ausbildungsaufgaben". Gerade der Professionalisierungsanspruch stehe dagegen: Weil die Angehörigen von Professionen über beide Wissensformen verfügten, erfordere Professionalisierung Lernarrangements, "in denen gelernt wird zu unterscheiden, was als 'wahr' und was als 'angemessen' gilt". Dies schliesse die Reflexion der beiden Wissensformen und ihrer Relation ein. Für die hochschulische Lehrerbildung ist aus Sicht Wildts ein hochschuldidaktisches Arrangement von Lernbedingungen zu schaffen, in dem die "Bildung von Relationen gelernt werden kann". Anknüpfungspunkte für ein solches Programm sieht er z.B. in Verfahren praxisbegleitender Beratung, bei Simulationsmethoden, biographischen Methoden und in der Gestaltung und Analyse hochschulischer Lernarrangements durch Studierende. Weitergehende Chancen für reflexive Lernprozesse ließen sich durch experimentier- und reflexionsorientierte Praxissemester, durch Projektstudien und durch die Etablierung "einer stabilen Kooperationsstruktur" zwischen den Institutionen der ersten und zweiten Phase eröffnen.
Reinhold Hedtke fragt in seinem Beitrag nach den Funktionen Schulpraktischer Studien für das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Lehrerbildung. Ausgehend von einer grundlegenden Differenz von Theorie und Praxis plädiert er für einen Praxisbezug, der Praxis für die Zwecke der Theorie bewußt instrumentalisiert: Praxis wird in dieser ebenfalls professionstheoretisch angelegten Argumentation Gegenstand von distanzierter und methodisch kontrollierter Beobachtung und Reflexion und nicht - wie im vorherrschenden Verständnis - unhinterfragtes Ziel der Vermittlung unterrichtspraktischer Handlungskompetenzen schon in der ersten Phase der Lehrerausbildung. Die Betonung der instrumentellen Funktionen von Praxisbezug relativiert unmittelbar die Bedeutung von Großformen wie Praktika, Schulpraktische Studien und Praxissemester: Sie können nicht von vornherein als die geeignetsten Möglichkeiten gelten, "Praxisbezug" herzustellen, sondern müssen hinsichtlich ihrer Effizienz und Effektivität dem empirischen Vergleich mit anderen Formen (z.B. Reflexion anhand von Filmen, Interviews und Fallstudien) unterzogen und ggf. durch diese ersetzt werden. Zwingend ist es aus Sicht Hedtkes jedenfalls, Schulpraktische Studien forschungsorientiert anzulegen, um "theoretische Einsichten für den Aufbau eines fachdidaktischen Reflexionswissens zu gewinnen".
Eine andere Perspektive als die bislang behandelten Aufsätze nimmt der Beitrag von Inka Bormann ein. Während es bislang im Wesentlichen um Professionalität und unterrichtsbezogene Kompetenzen von LehrerInnen ging, richtet sich der Blick von Bormann auf Schule als (lernende) Organisation. Sie untersucht strukturelle Merkmale von Schule darauf hin, ob sie organisationales Lernen fördern oder behindern, und fragt anschliessend nach den Veränderungsmöglichkeiten der Organisation Schule durch die Lehrerbildung. In beiderlei Hinsicht kommt der Beitrag zu einer skeptischen Einschätzung: strukturell erschweren weitgehende Autonomie und fehlende Organisationsbewusstheit der LehrerInnen sowie widersprüchliche Ziele der Organisation Schule (Förderung und Auslese) organisationales Lernen. Die Lehrerbildung ist bislang insofern defizitär, als sie Schule als Organisation nicht in den Blick nimmt. Organistionsbewusstheit, Gestaltungsbewusstsein und Gestaltungskompetenz müssten, so das Fazit von Bormann, durch "autonome und produktorientierte Gestaltung von Lernprozessen" in allen drei Phasen der Lehrerbildung gefördert werden. Für die erste Phase könnte dies in "fächer- und lernortübergreifenden Studienprojekten" in Kooperation zwischen Universität und Studienseminaren stattfinden. In Bezug auf das Verhältnis von Professionalität und praxisorientierter Ausbildung argumentiert Bormann also aus organisationstheoretischer Perspektive für eine praxisorientierte Ausbildung.
Mit Blick auf die politischen Entwicklungen ist jedoch fraglich, ob "Professionalisierung" überhaupt die Zielorientierung der Verantwortlichen ist. Die eingangs zitierten VertreterInnen einer praxisorientierten Lehrerbildung haben über den Landtagsbeschluss hinaus kaum Grund zur Freude. Die Forderungen des Landtags aus dem Frühjahr 1999 haben in die politische Programmatik der Landesregierung NRW, festgehalten im Koalitionsvertrag, bis zum Sommer 2000 keinen Eingang gefunden. Hier kommt sicherlich der politischen und administrativen Arbeitsteilung ein erhebliches Gewicht zu: Die Gestaltung der ersten Ausbildungsphase fällt in die Zuständigkeit von Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsministerien (bzw. -abteilungen). Für diese aber ist die Lehrerbildung aufgrund ihrer Sonderstellung an den Universitäten ein Problem, dass zur Überführung in die universitäre Normalität drängt. Ob sich diese Normalität aber im Zeichen der BA/MA-Diskussion so entwickelt, dass eine professionelle, stärker wissenschaftsorientierte Lehrerbildung im Sinne Beckers oder Radtkes befördert wird, ist zweifelhaft: Gerade diese Lehrerbildung ist mit einem vier- oder sechssemestrigen Studium kaum in Einklang zu bringen - jedenfalls nicht als Studium zweier Lehrfächer mit zusätzlichem und gegenüber dem status quo zumindest qualitativ aufgewertetem erziehungswissenschaftlichem Studium.