Becker: Lehramtsausbildung - Illusionen ohne Ende?

Lehramtsausbildung - Illusionen ohne Ende?

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  Inhalt   Schulreform und Lehrerausbildung   Skizze eines neuen bildungspolitischen Rahmens   Bildung durch Wissenschaft - auch für die Lehrerinnen und Lehrer   Einige bildungspolitische Konsequenzen    

Egon Becker

Schulreform und Lehrerausbildung

Die Reformprobleme der Lehrerausbildung scheinen banal zu sein: Fast unisono können wir hören, sie sei so zu verändern, daß Lehrer tatsächlich für eine Berufstätigkeit an Schulen ausgebildet werden. "Lehrer sollen die Kinder und ihr Fach lieben", hat kürzlich während einer Anhörung im Hessischen Landtag eine Schulleiterin kurz und bündig gesagt. Doch in einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, reichen die Liebe zu den Kindern und fachliches Interesse wohl nicht aus. Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters und höchst unterschiedlicher sozialer Herkunft sind von den Lehrerinnen und Lehrern in verschiedenen Schulformen und Schulstufen sowie in zahlreichen Fächern und Lernbereichen kompetent zu unterrichten. In den Schulen sind komplizierte pädagogische und didaktische Probleme zu bearbeiten und daneben auch noch unzählige Routineaufgaben zu bewältigen. Schwer überschaubare organisatorische Veränderungen finden statt oder stehen bevor: Schulprogramme und Schulprofile werden entwickelt, eine stärkere Autonomie der Schule wird angestrebt, Leistungsvergleiche beginnen - und gespart werden soll auch noch. Daß für all dies nur höchst ungenügend ausgebildet wird, ist offensichtlich, an Reformanlässen mangelt es also nicht.

Doch eine solche Reform kann nicht von den Amtsstuben ausgehen. Wirklich tiefgreifende konzeptionelle und organisatorische Veränderungen der Lehrerausbildung sind in Deutschland immer nur als Reaktion auf politisch-gesellschaftliche Krisen und Umbrüche zustande gekommen. Zur Erinnerung: Der langgezogene Ausbau der preußischen Seminarausbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat - ebenso wie ihr Beginn - die napoleonischen Kriege und die gescheiterte Revolution von 1848 zur Voraussetzung. Die Einrichtung der Preußischen Pädagogischen Akademien war erst nach dem Ersten Weltkrieg und durch die politischen Aktivitäten der Lehrerschaft in der Weimarer Republik möglich; und die Etablierung der universitären Lehrerausbildung in den siebziger Jahren wäre in der Bundesrepublik ohne die von der Studentenbewegung vorangetriebenen Reformen der akademischen Institutionen kaum so rasch möglich gewesen. Alles in allem haben die bildungspolitischen Krisenbewältigungen durch staatliche Reformen dem Lehrerstand einerseits bessere materielle Bedingungen und Bezahlung erbracht, andererseits eine stetige Anhebung des Ausbildungsstatus und nachfolgend ihres Status als pädagogische Beamte.

Seitdem die Lehrerausbildung in Deutschland zu den staatlichen Aufgaben gehört, setzt jede Reform eine Politisierung von Ausbildungsdefiziten voraus. Seit dem 19. Jahrhundert vollziehen sich solche Reformen als organisatorische Modernisierungen in einem staatlichen Rahmen, der wiederum der Politisierung Grenzen setzt. Beschreibt man die Reformgeschichte grobkörnig, dann erscheint sie als Veränderung organisatorischer Parameter entlang politisch ausgezeichneter Leitvariablen:

  • Eine verbesserte schulische Bildung der Studenten - ausgehend vom erwarteten Volksschulabschluß und gesteigert bis zum Abitur als Zugangsvoraussetzung für ein Lehramtsstudium;
  • eine verstärkte Wissenschaftlichkeit des Studiums - ausgehend von provinziellen Lehrerbildungsseminaren und gesteigert bis zur vollständigen Eingliederung in die Universität;
  • ein verbesserter Praxisbezug - ausgehend von einer Meisterlehre im engen Schulalltag und gesteigert bis zum zweijährigen Referendariat als Vorbereitungsdienst für sämtliche Lehrämter;
  • eine verbesserte Bezahlung - ausgehend vom Hungerlohn der Dorfschullehrer und gesteigert bis zur Übernahme in den höheren Staatsdienst mit A13 als Eingangsgehalt.

Trotz aller Interessengegensätze im Detail stützten sich seit 150 Jahren die staatlichen Reformen der Lehrerausbildung und die Standespolitik der Lehrerschaft gegenseitig. Sämtliche Verbesserungen vollzogen sich im staatlichen Rahmen; politische Machtverhältnisse, Beamtenrecht, Besoldungsordnungen und Staatshaushalt definierten die Randbedingungen und Veränderungsmöglichkeiten. Das ist bis heute so geblieben. Deshalb darf jede Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Lehrerausbildung historisch nicht zu kurz greifen, denn er ist das Resultat einer weit zurückreichenden Entwicklung.

Neu ist allerdings, daß die Entwicklung nach dem bisherigen Modernisierungsmuster nicht mehr fortsetzbar ist, denn entlang der bisher politisch ausgezeichneten Leitvariablen läßt sich kaum noch etwas weiter steigern: Sollen die Zugangsvoraussetzungen noch über das Abitur hinausgehen? Soll die universitäre Lehrerausbildung länger dauern als die für andere akademische Berufe oder gar in Eliteinstitutionen stattfinden? Soll der Vorbereitungsdienst noch weiter verlängert werden? Sollen Lehrer besser bezahlt werden als andere Beamte des höheren Dienstes? Es ist offensichtlich, daß die Grenzen des bisherigen Modernisierungsmusters einer linearen Steigerung erreicht sind. Gewiß, es gibt noch unbefriedigten Nachholbedarf: In Baden-Württemberg haben die Pädagogischen Hochschulen überlebt, noch nicht alle Lehrerinnen und Lehrer müssen acht Semester studieren und noch nicht alle werden nach A13 bezahlt. Die Grundschullehrerinnen haben immer noch eine besonders kurze Ausbildung und einen besonders niedrigeren Status. Doch weder die pädagogischen und sozialen Probleme in den Schulen, noch die Defizite in der Lehrerausbildung würden verschwinden, wenn dieser Nachholbedarf befriedigt würde.

Denn es dominieren inzwischen immer mehr Probleme eines anderen Typs: Zielkonfliktezwischen verschiedenen Institutionen und in den verschiedenen Modernisierungsdimensionen führen zu neuen inhaltlichen Problemen.

  • Der höchstmögliche schulische Abschluß ist längst Voraussetzung eines Lehramtsstudiums; jetzt wird gefragt, ob die Studentinnen und Studenten für dieses Studium in den Schulen überhaupt adäquat qualifiziert wurden.
  • Die Ausbildung findet längst an der Institution statt, welche gesellschaftlich als Garantin der Wissenschaftlichkeit gilt; jetzt wird der fehlende Praxisbezug beklagt und den Universitäten mehr Praxisnähe verordnet.
  • Mit den Studienseminaren wurde eine eigene Institution für eine qualifizierte berufspraktische Ausbildung geschaffen; jetzt wird deren unzureichende Orientierung am neuen wissenschaftlichen Wissen und an notwendigen Veränderungen konstatiert.
  • Der höhere Dienst ist längst erreicht; jetzt wird über Entstaatlichung, Schulautonomie und leistungsgerechte Bezahlung debattiert.

Zusammenfassend kann man von Organisationsproblemen zweiter Ordnungsprechen, von Folgeproblemen einer linearen Modernisierung. Auf sie mit den bekannten Mitteln und in den bekannten Mustern zu reagieren, das wäre nur immer mehr vom gleich Falschen. Die vertrackten Probleme würden sich nur noch weiter verschärfen.

Je stärker die Organisationsprobleme zweiter Ordnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, um so deutlicher wird, daß die Standespolitik der Lehrerschaft und die Notwendigkeiten einer Schulreform, welche auf die gesellschaftlichen Umbrüche reagiert und auf Qualitätsverbesserungen zielt, immer mehr auseinanderdriften. Meine These ist, daß eine neue Verbindung dann wieder hergestellt werden könnte, wenn sich die Lehrerschaft als eine Profession zu begreifen begänne, die als Profession auch die Modernität und die Qualitätsstandards von Unterricht und Schule zu garantieren hätte, wie das teilweise in den USA geschieht. Die Vorstellung, die staatliche Administration könne diese Aufgabe qua Schulaufsicht und administrativer Steuerung erfüllen, widerspricht allen Einsichten moderner Organisationswissenschaft. Gesellschaftspolitisch wird eine Professionalisierung des Lehrerberufs gerade in einer Gesellschaft nötig, in der Wissen zur wichtigsten ökonomischen Ressource geworden ist und in der das erreichte Bildungsniveau den beruflichen Erfolg entscheidend prägt. Denn in der Schule finden höchst folgenreiche Eingriffe in das Leben und in die Lebensplanung ganzer Generationen statt - insbesondere in den Grundschulen. Gerade dort muß daher die Beurteilungs- und Reflexionskompetenz besonders hoch sein, wenn Bildungsentscheidungen nicht naturwüchsig von der sozialen Herkunft determiniert oder der Willkür von Vorurteilen überlassen bleiben sollen.

Doch ein solcher Weg in die Professionalisierung ist nur durch eine starke Richtungsänderung möglich. Hierzu ist offensichtlich eine politische Definition neuer Leitvariablen der Veränderung erforderlich. In Stichworten gesagt:

  • Zurückdrängen der staatlichen Fremdsteuerung und Aushandeln neuer Regulierungsformen;
  • Orientierung an den strukturellen Differenzen von Universität und Schule;
  • Optimierung der Ausbildungsinstitutionen unter politisch ausgehandelten Zielvereinbarungen;
  • Neudefinition der Lehrertätigkeit als eines riskanten professionellen Handelns in Situationen, die nur begrenzt zu durchschauen, nur begrenzt planbar sind und deren Entwicklung nur begrenzt prognostizierbar ist.

Ob so etwas möglich sein wird, hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die Probleme von Schule und Lehrerausbildung auf einem neuen Niveau von unten zu politisieren. (...) Doch welche gesellschaftlichen Interessen artikulieren sich dabei?

In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Reform des gesamten Bildungswesens als Moment einer überfälligen tiefgreifenden Modernisierung und Demokratisierung der gesamten Gesellschaft verstanden. (...) Innerhalb der traditionellen Ausbildungsinstitutionen etablierte sich eine von Konflikten geprägte politisierte Wissenskultur, in der die kritischen Sozialwissenschaften ein Deutungsmonopol beanspruchten. Eine solche politische Kultur existiert heute so nicht mehr. Darin liegt eine bisher wenig genutzte Chance, (...) über Parteigrenzen und ideologische Gräben hinweg unbefangener über die nötigen Reformen von Schule und Lehrerausbildung zu diskutieren und eine Richtungsänderung politisch einzuleiten.

Diese Chance wird allerdings bis jetzt wenig genutzt. Die Schul- und Bildungspolitik scheint eines der letzten Reservate zu sein, in denen noch in der ideologischen Konstellation und mit den Gesinnungen der sechziger und siebziger Jahre weitergekämpft wird. Gleichzeitig werden gerade in den Schulen und Universitäten die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch ökonomische Globalisierung, wissenschaftlich-technische Umwälzungen und ökologische Gefährdungen seismographisch registriert. Dies geschieht allerdings zumeist mit Instrumenten aus den siebziger Jahren und mit Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert. Bei einer Neujustierung dieser Instrumente und einer Reflexion der Denkvoraussetzungen sollte man einige sozialwissenschaftliche Einsichten nicht übergehen:

  • Die Schulformen und die Formalstruktur des Bildungswesens sind in der Vergangenheit entstanden und repräsentieren das Bild einer Gesellschaft, die so nicht mehr besteht. Das dreisäulige Schulsystem ist ein Ausdruck für eine längst verschwundene soziale Ordnung. Es ist gewissermaßen die mühsame und aufwendige Transformation ständestaatlicher Prinzipien in moderne Formen und deren Hinüberretten in das postmoderne Zeitalter der Globalisierung und Wissensrevolutionen.
  • Wenn Wissen zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen und zur entscheidenden Voraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung moderner Gesellschaften geworden ist, dann bekommen die Schulen und Hochschulen eine neue gesellschaftliche Bedeutung. Sie sind die aktiven Zentren der ständigen Erneuerung und ständigen Neuordnung und Neubewertung des gesellschaftlichen Wissens. Daraus könnten sie ein neues Selbstbewußtsein gewinnen.

Doch die Schulen müssen sich auf einen pädagogisch klassifizierten Wissensbestand beziehen können, setzen also eine gesellschaftlich konstruierte Ordnung des Wissens voraus. Wird diese Ordnung der Kritik entzogen und mit konservativem Gestus verteidigt, dann erstarren die Schulen zu vormodernen Einrichtungen. Doch in dem Maße, wie sie versuchen, den gesellschaftlichen Veränderungen zu folgen, müssen sie sich an dem Problematisierungs- und Erneuerungsprozeß des Wissens beteiligen, die kulturelle Relativierung scheinbar gesicherter Wissensbestände betreiben, gerade auch des sich als modern und ökonomisch bedeutsam präsentierenden Wissens. Wird die ständige Erneuerung des Wissens zum Leitbild schulischer Reformen, dann entstehen postmoderne Einrichtungen, welche die Schülerinnen und Schüler orientierungslos lassen. Modern wären unsere Schulen erst dann, wenn sie einen sicheren Ort zwischen Ordnung und Erneuerung gefunden hätten.

Skizze eines neuen bildungspolitischen Rahmens

Die meisten neueren Reformkonzepte reflektieren die großen gesellschaftlichen Veränderungen in gebrochener Form. Jedes Konzept zur Reform der Lehrerausbildung muß das rechte Maß für Ordnung und Erneuerung finden - es hat sich einerseits auf feste Strukturen zu beziehen und sollte andererseits zu Veränderungen beitragen. Doch welche Strukturen betrachten wir als fest und welche sollen verändert werden? Anders als zu Beginn der siebziger Jahre, als eine sich fortschrittlich verstehende Bildungspolitik sich am Modell der integrierten Gesamtschule orientieren konnte - und eine konservative an den traditionellen Schulformen, insbesondere am Gymnasium - fehlt heute ein bildungspolitisches Leitbild und ein organisatorischer Rahmen für die Reform der Lehrerausbildung. Es erscheint mir ziemlich aussichtslos, ein neues Leitbild aus einer gesellschaftlich akzeptierten pädagogischen Idee heraus entwickeln zu wollen. Das wäre nur als Fortsetzung der Politisierung von oben möglich. Ich plädiere dafür, sich politisch auf einen nur formalen Organisationsrahmen für inhaltlich höchst unterschiedliche und auch kontroverse pädagogische Konzepte zu einigen. Hilfreich könnte dabei sein, daß es der europäische Einigungsprozeß notwendig macht, Bildungszertifikate international vergleichbar zu machen. Die Gliederung des deutschen Schulwesens nach Schulformen im Sekundarbereich (Haupt- und Realschule, Gesamtschule, Gymnasium, berufliche Bildung) erscheint im internationalen Vergleich als Sonderweg, historisch gesehen als hoffnungslos antiquiert. Hier kann angesetzt werden. Eine konsequente Gliederung nach Schulstufen, die auch pädagogisch gut begründbar ist, erscheint mir daher politisch keinesfalls als utopisch: Zwischen Grundschulen, Schulen im Sekundarbereich und Oberstufenschulen könnten eindeutige institutionelle Trennungslinien gezogen werden. Der Grundschulbereich bildet in diesem Sinne längst eine eigene Schulstufe, lediglich deren Dauer ist bildungspolitisch noch umstritten. Schwieriger wird es, wenn der Sekundarbereich eindeutig von dem Oberstufenbereich getrennt wird. In der Konsequenz bedeutet dies, statt der Oberstufen der Gymnasien und der Gesamtschulen organisatorisch und pädagogisch eigenständige Oberstufenschulenaufzubauen, wie es sie an einigen Orten bereits gibt. Im Sekundarbereich könnten dann die verschiedenen Schulformen koexistieren und zugleich miteinander konkurrieren. Unabhängig davon, aus welcher Schulform die Jugendlichen kommen, nach Abschluß der 10. Klasse würde immer ein Wechsel zu einer anderen Schule stattfinden, einer Schule mit eigenen Gebäuden, eigenem Profil und eigenem Personal. Mit dem Abschluß der Sekundarstufe wäre also in jedem Fall für alle Jugendlichen auch biographisch ein klarer Einschnitt verbunden. Eine Konsequenz dieses Modells wäre, daß auch die bisherigen Gymnasien zu reinen Sekundarstufenschulen mit einem eigenen Profil würden. Dagegen wird es vermutlich Widerstand geben.

Die Lehrerausbildung kann sich nicht vollständig von der Schulreform entkoppeln, sie darf aber auch nicht davon abhängig werden. In dem skizzierten bildungspolitischen Rahmen läßt sich auch ein neues Reformkonzept für die universitäre Lehrerbildung entwickeln, das nicht bloß die Reformideen der siebziger Jahre illusionär fortschreibt. Formal kann es sich an den verschiedenen Schulstufen orientieren und die Lehrerausbildung entsprechend differenzieren. Inhaltlich buchstabiert es einen einfachen Gedanken aus: Die Universitäten sollen ihre eigenen Aufgaben ernst nehmen; was sie können, sollen sie verantwortlich betreiben, was sie nicht können, sollten sie unterlassen. Die Universitäten sind Orte der Wissenschaft. Wenn zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auch weiterhin an der Universität studieren sollen, dann nur als vollwertige Mitglieder. Sie sollten dort nicht länger für ein Lehramt unter Sonderbedingungen ausgebildet werden, sondern für eine Profession unter den Normalbedingungen einer Universität.

Bildung durch Wissenschaft - auch für die Lehrerinnen und Lehrer

Die Realität der Lehrerausbildung wird an den westdeutschen Universitäten von den Ergebnissen der Reformen und Kompromisse der frühen siebziger Jahren geprägt, in deren Verlauf auch die Ausbildung der Volksschullehrer in die Universität verlagert wurde - ein politisches Ergebnis, das nicht mehr rückgängig gemacht werden sollte. Damals bildete sich auch jene Vorstellung heraus, die bis heute den formalen Aufbau von Prüfungs- und Studienordnungen für die Lehrämter bestimmt und die Sonderbedingungen fixiert: Die universitäre Lehrerbildung müsse vier 'Komponenten' enthalten, damit das Studium wissenschaftlich und zugleich berufsorientiert sei:

  • Fachwissenschaft
  • Fachdidaktik
  • Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften sowie Psychologie als "Grundwissenschaften"
  • Praxisbezogene Studien.

Diese vier 'Komponenten' waren als Organisationseinheiten in den Pädagogischen Hochschulen bereits vorhanden. Bei deren Eingliederung in die Universitäten wurden sie auf vielfältige Weise den verschiedenen Fachbereichen und damit den dort institutionalisierten akademischen Disziplinen zugeordnet. Zugleich wurde gefordert, die Komponenten als "Teile eines Ganzen" zu integrieren. Anders gesagt: Entgegen dem Grundmuster einer nach Disziplinen differenzierten Universität wurde problemorientierte Interdisziplinaritätzwar zur konzeptionellen Leitidee der integrierten Lehrerbildung erklärt. Als deren konsequenteste Organisationsform galt den linken Bildungsreformern das projektorientierte Studium. An einigen Reformuniversitäten hat man sich daran orientiert. In vielen Bundesländern prägen diese Ideen bis heute die Rhetorik der Reform. Realisiert wurde davon fast nichts. (...)

Heute müssen wir die 'integrierte Lehrerbildung', wie sie an der Universität stattfindet, als ein Resultat lang andauernder bildungspolitischer Kämpfe und Kompromisse neu bewerten. Sie ist nicht mehr an Planungsidealen zu messen, sondern an ihrer organisatorischen Realität. Denn keine der 'Komponenten' hat die vergangenen dreißig Jahre unverändert überstanden. Sieht man einmal von einigen Reformhochschulen ab, dann haben wir heute ein fachlich und sozial zersplittertes 'Nebenfachstudium', ohne einen integrierenden Kern. Die vielbeklagte 'inhaltliche Zersplitterung' ist Ausdruck einer mißlungen Integration: Die Leitidee einer problemorientierten Interdisziplinarität ließ sich an den meisten Universitäten im Lehramtsstudium nicht realisieren - und zwar weder konzeptionell noch organisatorisch. Die Gründe dafür sind vielfältig.

  • Konzeptionell konnte an die traditionellen Integrationsvorstellungen kaum noch angeknüpft werden. Weder eine Integration des Wissens der Gymnasiallehrer durch die Philosophie, noch eine des Wissens der Volksschullehrer durch eine geisteswissenschaftliche Pädagogik waren und sind noch möglich.
  • Im Schema der vier Komponenten hat man dann wechselweise dem erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Studium diese Rolle zugetraut ("Denken im gesellschaftlichen Zusammenhang"); oder der Didaktik ("durchgängiger Unterrichtsbezug"); und wenn dies alles nichts mehr fruchtete, einer allgemeinen Vorstellung von "Praxisbezug".
  • Organisatorisch wurden ebenfalls verschiedene Modelle durchgespielt: ein großer erziehungswissenschaftlicher Fachbereich (wie in Hamburg), ein Didaktisches Zentrum; eine Gemeinsame Kommission; fachübergreifende Projekte usw.

Doch in keinem Fall wurde das Integrationsproblem auch nur halbwegs zufriedenstellend gelöst. Statt dessen verlangte man den Lehrerstudenten in einem solchen System organisierter Unverantwortlichkeit eine individuelle Integrationsleistung ab, welche die Institution Universität noch nicht einmal organisatorisch erbringen konnte. Im letzten studentischen Streik im Winter 97/98 wurde deshalb zu Recht beklagt, daß unter den derzeitigen Studienbedingungen weder eine berufsbezogene Ausbildung noch ein bildendes Studium möglich sei; in einer Art Nullsummenspiel zwischen Praxisorientierung und Wissenschaftlichkeit werden beide auf ein bloßes Scheinstudium verkürzt. Ich ziehe daraus die Konsequenz, die Vorstellung einer aus vier Komponenten zusammenkombinierbaren Lehrerqualifikation aufzugeben und neu zu bestimmen, was jene Bereiche und Personen, die heute noch unter Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Fachwissenschaft, Fachdidaktik und praxisbezogenen Studien firmieren, tatsächlich zu leisten vermögen.

Eine integrierte und praxisorientierte Lehrerausbildung an der Universität ist unter den derzeitigen Bedingungen eine Illusion. Das Konzept ist nicht nur an bildungspolitischen Zwängen gescheitert, sondern auch an einer oft übersehenen Strukturdifferenz zwischen Universität und Schule. Zwar wird durch die über viele Fachbereiche zerstreute Lehrerbildung ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Schule und Universität hergestellt. Doch es dürfte auch bei größten Anstrengungen nicht möglich sein, die Schulstruktur in der Organisationsstruktur der Universität und in den Prüfungsordnungen für die Lehrämter abzubilden, noch gar auf deren Veränderungen organisatorisch zu reagieren. Durch den Doppelbezug auf Schule einerseits und auf disziplinär organisierte Wissenschaft andererseits kam es in den lehrerbildenden Bereichen der Universität zu extremen inhaltlichen Zersplitterungen und konzeptionsloser Willkür. Die fächerspezifische Eingliederung der Volksschullehrerausbildung in die Universität mit dem Ziel einer Integration hat ganz offensichtlich zu institutioneller Desorganisation und inhaltlicher Desintegration geführt. Jede noch so gut gemeinte Problemlösung wirft in einem solchen System organisierter Unverantwortlichkeit in der Regel eine ständig wachsende Serie von Folgeproblemen auf, wirkt also krisenerzeugend. Die dabei geschaffenen Organisationsstrukturen stehen heute zur Disposition.

Es ist richtig, daß die Lehrerbildung in der Universität keinen institutionellen Ort gefunden hat. Doch viel problematischer ist, daß weder in den 'Fachwissenschaften' noch in den 'Fachdidaktiken' noch in den 'Grundwissenschaften' eine universitäre Wissenskultur entstanden ist, die zukünftige Lehrerinnen und Lehrer nachhaltig prägen kann. Wo könnte sie entstehen? Sicherlich nicht in einem Zentrum für Lehramtsausbildung, das lediglich für bessere Koordination und eine effektivere Studienorganisation sorgen könnte. Wenn man sich am Leitbild traditioneller Professionswissenschaften (wie Jura oder Medizin) orientiert, dann müßte ein eigener Fachbereich für die Lehrerausbildung gefordert werden. Manche meinen immer noch, die Erziehungswissenschaft könnte diese Aufgabe übernehmen. Doch mit der Eingliederung der Lehrerbildung in die Universität verwandelte sich auch die Erziehungswissenschaft in ein Fach unter anderen Fächern, das immer mehr in den Sog disziplinärer Spezialisierung geraten ist und teilweise den inhaltlichen Bezug zu Schule und Unterricht gekappt hat. Die Erziehungswissenschaft ist dadurch ein Teil des Problems geworden, nicht seine Lösung.

Gebraucht wird m. E. kein eigener Fachbereich für die Lehrerausbildung, sondern eine Professionswissenschaft der Pädagogen mit einer rationalen Wissenskultur. Sie ist derzeit nur durch fachübergreifende Kooperation und durch dezentrale Netze zu entwickeln. Für die Schulen hätte sie ein spezifisches Expertenwissen zu kultivieren: Wie Lernkulturen zu gestalten und zu sichern sind, die Distanz zum Alltagswissen ermöglichen und in denen Wissen unterschiedlicher Herkunft produktiv angeeignet und in Bildungswissen verwandelt werden kann. Zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer benötigen als Experten für Lernkulturen und Wissenstransformationen nicht nur eine gute Allgemeinbildung, sondern eine umfassende und vertiefte wissenschaftliche Bildung. Da das wissenschaftliche Wissen nach Fächern differenziert ist, gehört dazu auf jeden Fall das Studium einer universitären Disziplin. Nebenbei gesagt: Das über viele Fachbereiche zerstreute Lehrerstudium bietet die einmalige Chance, etwas zu entwickeln, woran es der Universität insgesamt mangelt: Interdisziplinäre Kompetenzen, um auch die Grenze zwischen Natur- und Sozialwissenschaften überschreiten zu können. Doch diese Chance wird derzeit nur selten genutzt.

Kaum jemand bestreitet noch ernsthaft, daß die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer wissenschaftlich gebildet sein sollten. Umstritten ist allerdings, wie sie für ihren Beruf ausgebildet werden sollen. Wenn man unter Bildung die subjektive Seite einer Kultur versteht (Adorno), dann ist Bildung durch Wissenschaft nur dort möglich, wo eine akademische Wissenskultur existiert, in der selbstreflexiv gelehrt und geforscht wird, dabei die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Faches bewußt gemacht und disziplinäre Differenzen als Lernchance genutzt werden. Wo dies nicht der Fall ist, dort kommt es bestenfalls zur akademischen Halbbildung. Die entscheidende Voraussetzung dafür, daß an unseren Universitäten Studierende durch Wissenschaft gebildet werden, sind also Reflexionsleistungen in den einzelnen Fächern: Es muß darüber nachgedacht und darüber geforscht werden, wie das dort erzeugte Wissen zum öffentlich zugänglichen gesellschaftlichen Wissen werden kann. Das heißt: wie es zu ordnen und in eine lehrbare und erlernbare Form zubringen ist. Theoretische Ordnung und nicht ein postulierter Praxisbezug ist die entscheidende Voraussetzung dafür, daß das wissenschaftliche Wissen lehr- und erlernbar wird.

Lehrerinnen und Lehrer haben im sozialen Kontext der Schule etwas Ähnliches zu tun, wie die Professoren an der Universität: Erneuerung und Ordnung gesellschaftlichen Wissens - allerdings hier bezogen auf sich bildende Subjekte und nicht auf Forschergemeinschaften. Dies bedeutet, alltägliches und wissenschaftliches Wissen in den Schulen so umzuarbeiten und so in Beziehung zu den Interessen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler zu setzen, daß es produktiv angeeignet und kreativ weiterentwickelt werden kann. Für solche Wissenstransformationen sollten Lehrerinnen und Lehrer pädagogische Experten sein. Zudem müssen sie über die Fähigkeit verfügen, das sozio-kulturelle Umfeld der Schulen sensibel zu beobachten und auf Veränderungen zu reagieren - insbesondere dann, wenn die Schule autonom werden soll. Würde die Lehrerbildung all dies ernst nehmen, dann könnte sie einen kritischen Stachel im akademischen Betrieb bilden: Nicht dadurch, daß sie gebetsmühlenhaft den fehlenden 'Praxisbezug' einklagt, sondern durch Kritik der wissenschaftsdidaktischen Ignoranz, der Fachbornierung, der akademischen Halbbildung und der Theorielosigkeit des akademischen Studiums gerade der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer.

Das klingt alles noch reichlich allgemein, abstrakt und postulatorisch - und es ist es auch. Der Grund dafür ist, daß es derzeit keine einzelne akademischen Disziplin gibt, die für solche Aufgaben spezialisiert wäre. Und auch in den verschiedenen Fachdidaktiken und in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften werden bestenfalls einzelne Aspekte bearbeitet. Doch es gibt in all diesen Bereichen erfreuliche Ansätze, in unterschiedlichem Maße entwickelte Sensibilität und Bereitschaft zur Erneuerung. Daran kann angeknüpft werden - wobei die jeweiligen lokalen und regionalen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Es folgt daraus allerdings, daß die bisherige Gleichsetzung der vier organisatorisch getrennten Komponenten der Lehrerbildung (Fachwissenschaft, Fachdidaktik, Grundwissenschaften und praxisbezogene Studien) mit funktionalen Kompetenzen aufgegeben werden muß.

Einige bildungspolitische Konsequenzen

Was kann getan werden? Aus den skizzierten Überlegungen lassen sich eine Reihe organisatorischer Konsequenzen ziehen. Sie markieren mittel- und langfristig zu realisierende Ziele. Die jetzt anstehenden bildungspolitischen Entscheidungen sollten so getroffen werden, daß sie die notwendige Richtungsänderung einleiten und es ermöglichen, die besonderen Bedingungen einzelner Universitäten zu berücksichtigen.

  • Konzeptionell muß eine eindeutige Trennung eines wissenschaftlichen Studiums an der Universität und einer außeruniversitären Berufsausbildung der Lehrerinnen und Lehrer vorgenommen werden. Die schon existierende Organisationsstruktur verschiedener Ausbildungsphasen läßt sich dadurch funktional wesentlich deutlicher akzentuieren: ein wissenschaftliches Studium an der Universität mit starkem Theoriebezug; praktische Vorbereitung und schulspezifische Ausbildung für die Berufsrolle - sowie Personalrekrutierung in der zweiten Ausbildungsphase; Reflexion der Berufserfahrungen und Weiterbildung in der dritten Phase.
  • Eine entscheidende Weichenstellung in Richtung einer Entstaatlichung ist die Abschaffung der lehramtsbezogenen Staatsexamina zu Gunsten universitärer Abschlüsse. Derzeit sind das die verschiedenen Varianten von Diplom- oder Magisterexamen, international vergleichbare Abschlüsse (Bachelor- und Masterexamen) können sie ablösen. Die Universität ermöglicht verschiedene 8-semestrige wissenschaftliche Studien als Voraussetzung für eine Bewerbung zur Lehrerausbildung außerhalb der Universität.
  • Ein modularisierter Studienaufbau mit Teilqualifikationen, die zu unterschiedlichen Profilen kombiniert werden können, sollte die bisherigen Studien nach dem Vier-Komponenten-Modell ersetzen.
  • Die bisherigen Studienseminare sollten in eigenständigen Zentren für Lehrerausbildung - möglichst in räumlicher Nähe zu den Universitäten, aber im Verantwortungsbereich der Schulen - aufgehen. Sie sollten mit den Universitäten und den Einrichtungen der Lehrerfortbildung möglichst eng kooperieren, insbesondere bei der Definition der Aufnahmebedingungen für Universitätsabsolventen. Die eigentliche Berufsausbildung sämtlicher Lehrerinnen und Lehrer sollte an diesen Zentren schul- und bedarfsorientiert stattfinden. Für die verschiedenen Schulstufen (also für den Grundschulbereich, Sekundarbereich, Oberstufenschulen, sowie für Berufsschulen und Sonderschulen) wären differenzierte Teilcurricula zu definieren.
  • Es sollten interdisziplinäre Zentren für Bildungsforschungan den Universitäten gegründet werden, in denen das empirische und das theoretische Wissen über Bildungsprozesse, Unterricht und Schule systematisch erweitert wird. Zugleich könnten hier fachbezogene Probleme der Wissensgenerierung und Wissenstransformation interdisziplinär bearbeitet werden. Zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern böte ein solches Zentrum die Möglichkeit, direkt an der schulbezogenen Bildungsforschung zu partizipieren.
  • Die Studienrichtung Schulpädagogik im bisherigen Diplomstudium in Erziehungswissenschaft sollte so neugestaltet werden, daß dort die Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Bachelor- oder Mastergrad zu erwerben. Es ist einerseits in spezifischen Modulen eine wissenschaftliche Grundqualifikation für die Tätigkeit im Primar- und Sekundarbereich der Schulen zu vermitteln; andererseits eine erziehungswissenschaftliche Zusatzqualifikation für Absolventen schulrelevanter Fächer.
  • Die eindeutige Trennung zwischen Schulen im Sekundarbereich und eigenständigen Oberstufenschulen ist zwar keine notwendige Voraussetzung einer solchen Reform. Sie schaffte aber einen bildungspolitischen Rahmen, in dem ein fachlich differenziertes Universitätsstudium und eine schulstufenbezogene Lehrerausbildung sinnvoll aufeinander bezogen werden könnten.

Mit den hier nur knapp skizzierten Reformen würden sicherlich zahlreiche Probleme in eine bearbeitbare Form gebracht. Doch sie lassen sich keineswegs problemlos realisieren. Mancher Konflikt wird auftreten und viele Kompromisse sind zu finden. Jede einzelne Veränderung führt zudem zu unangenehmen Folgeproblemen, die genau analysiert und abgemildert werden müssen. Wichtig ist nur, daß eine Änderung in Richtung Autonomie stattfindet. Durch solche Reformen wäre es endlich möglich, daß sich die Schulen und die Universitäten auf ihr jeweiliges 'Kerngeschäft' konzentrierten, und das, was sie gut können, auch gut machen. Sie müßten sich dann auch nicht länger als Verschiebebahnhof für ungelöste gesellschaftliche Probleme funktionalisieren lassen.
 
 
 

Anmerkung

(1) Gekürzte, vom Verfasser autorisierte Fassung eines Vortrages in der Universität Frankfurt/Main am 16. Juni 1999.