Wie „öko“ sind unsere Ökonomie-Lehrbücher?
Neue Studie zur Nachhaltigkeit in volkswirtschaftlichen Schulbüchern zeigt erheblichen Nachbesserungsbedarf in der Wirtschaftsdidaktik.
Nachhaltigkeit wird zum Megatrend. Der Klimawandel ist ein Top-Thema in den Medien, bio-faire Produkte bieten täglich Handlungsoptionen für Konsum „mit gutem Gewissen“. Und auch in der Bildung tut sich was: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BnE) versucht junge Menschen für das Ziel globaler Gerechtigkeit und Aspekte der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften zu sensibilisieren. Doch wie sieht es mit der ökonomischen Lehre aus, die tagtäglich in den Schulsälen dargeboten wird? Ist "Nachhaltige Entwicklung" hier ein Thema? Werden Wege zu einer nachhaltigen Zukunft beschrieben? Oder herrscht dort "Business as usual" vor?
Als Lehrer für Wirtschaftswissenschaften und Englisch im kaufmännischen Berufsbildungssystem bin ich an staatliche Bildungs- und Rahmenpläne gebunden. Dennoch habe ich den Anspruch, Wirtschaftswissenschaften partizipativ, multiperspektivisch und mit Aktualitätsbezug zu unterrichten. So versuche ich bereits seit vielen Jahren, Fragen der nachhaltigen Entwicklung mit der traditionellen Lehrbuchökonomie in Einklang zu bringen.
Die Rolle des Schulbuches sollte dabei auch in Zeiten des Internets nicht unterschätzt werden. Sowohl in der Unterrichtsplanung als auch in der Fortentwicklung von Bildungsplänen bilden tradierte Lehrbuchdidaktisierungen eine maßgebliche Richtschnur. In Kooperation mit dem Düsseldorfer Agenda-Netzwerk hatte ich nun die Gelegenheit, neun aktuelle volkswirtschaftliche Lehrwerke aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu untersuchen. Anhand von 41 Leitfragen analysierte ich Sachtexte, Illustrationen und Aufgabenapparate, inwiefern dort Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Lösungsansätze aus dem Nachhaltigkeitsdiskurs dort ihren Widerhall finden und inwieweit die traditionelle ökonomische Lehrbuchtheorie die veränderten globalen Realitäten reflektiert. Kommt die Thematik der Nachhaltigen Entwicklung überhaupt vor? Wie schlüssig, umfassend und konsistent berücksichtigt sie Nachhaltigkeitsaspekte bei der Vermittlung wirtschaftswissenschaftlicher Kompetenzen? Werden Widersprüche aufgedeckt, traditionelle Fachtheorie auf ihre Zukunftstauglichkeit im 21. Jahrhundert überprüft? Wie erschöpfend und konsistent werden ökonomische Modelle in Hinblick auf Nachhaltigkeit erweitert?
Positiv festzuhalten ist, dass „das Thema Nachhaltigkeit“ in praktisch allen Lehrbüchern angekommen ist. Lehrbuchautor/innen nutzen auch ihre Freiheitsgrade aus, um eklektisch auf Probleme der traditionellen Mainstream-Ökonomik hinzuweisen. So gehören Modellkritik am Homo Oeconomicus oder die mangelnde Aussagekraft des BIP für Wohlstandsfragen inzwischen zum guten Ton auch im VWL-Schulbuch. Dazu bietet fast jedes Lehrwerk kleine Schätze einer aufgeklärten, multiperspektivischen Wirtschaftsdidaktik. Die meisten Lehrbuchautor/innen sind bemüht, Querbezüge zu Zukunftsfragen in ihre ansonsten fast immer sehr traditionellen Lehrbuchdarstellungen aufzunehmen.
Diese Trends sind zu begrüßen und dürfen dennoch nicht über massive Probleme einer im Kern ausgesprochen rigiden Lehrbuchdidaktik hinwegtäuschen.
Ein Hauptproblem liegt in der inkonsistenten Integration einer Nachhaltigkeitsperspektive in alle Unterrichtsthemen. Selbst wenn Wachstumskritik Eingang in die Darstellung gefunden hat, auf den Folgeseiten wird unreflektiert vom ewigen Wirtschaftswachstum als Axiom der Konjunkturtheorie und Ziel der Wirtschaftspolitik ausgegangen. Teilweise wird dabei sogar die Möglichkeit exponentiellen Wachstums des BIP unterstellt. Auch besagte Modellkritik am Homo Oeconomicus erhält den Eindruck eines „pharmazeutischen Beipackzettels“, denn in der Marktanalyse wird durchgängig wieder der rationale, nutzenmaximierende Modellmensch zu Grunde gelegt.
Gute Vorsätze einer handlungsorientierten Didaktik scheitern am fehlenden Mut der Autor/innen bzw. Verlage, konkrete polit-ökonomische Entwicklungspfade zur Nachhaltigkeit zu beschreiben: Umweltzerstörung, soziale und globale Konflikte erhalten mehr oder weniger Raum in den Anforderungssituationen moderner kompetenzorientierter Lehrbücher – doch lösungsorientierte Konzepte wie Ressourcen- oder Finanztransaktionssteuern findet man allenfalls in Fußnoten oder in fakultativen Aufgabenapparaten, in denen sie – so wissen Bildungspraktiker/innen – für den maßgeblichen Unterricht verloren gehen. Überhaupt muss die Kompetenzorientierung nordrhein-westfälischer Prägung, die den Hintergrund aktueller Lehrbuchneuentwickungen bildet – als dezidiert kontraproduktiv für eine multiperspektivische und zukunftsorientierte VWL bezeichnet werden. Dabei ist es weniger die Kompetenzbegriff an sich, sondern die didaktische Ausrichtung am „Leitfach Betriebswirtschaftslehre“, die Lehrbuchautor/innen zu konfusen Sachdarstellungen in der VWL verleitet und bildungsplangemäß wichtige Nachhaltigkeitsthemen wie die Umweltpolitik gänzlich aus den Lehrbuchkanon streicht.
Wie wenig auf der Höhe der Zeit auch Schulbücher neueren Datums sind, zeigt der absolute Mangel an Nachhaltigkeitsterminologie. An Begrifflichkeiten wie Ressourcenproduktivität, Rebound-Effekt, Kreislaufwirtschaft oder Entkopplung, geschweige denn Postwachstum herrscht komplette Fehlanzeige. Kein Wunder, dass gesellschaftliche Diskurse von „Wirtschaft“ und „Nachhaltigkeit“ damit auch in den Medien nahezu unverbunden und widersprüchlich verlaufen.
Das vielleicht größte, von Didaktiker/innen auch nicht lösende Problem besteht in der absoluten Dominanz des Konjunkturdiskurses in Medien, Politik und auch im volkswirtschaftlichen Schulbuch. Solange sich unsere Gesellschaft nicht vom Streben nach bestenfalls mittelfristigen Steigerungen von Wachstumskennziffern im Dezimalbereich verabschiedet, hat eine langfristig orientierte nachhaltige Ökonomik vermutlich kaum eine Chance auf Gehör. Hier wären akademische Fachtheoretiker/innen gefordert, eine Kehrtwende einzuleiten. Davon ist allerdings wenig zu sehen.
Dennoch lässt sich Nachhaltigkeit als Querschnittsthema auch im herkömmlichen VWL-Unterricht gut verankern. Ich praktiziere dies seit Jahren und Arbeitsmaterialien können auf meiner Webseite eingesehen werden. Im Schulbuch wäre dies ebenfalls möglich, wie die Behandlung der Globalisierung als wiederkehrende Frage in zahlreichen Lehrwerken schon heute zeigt.
Ökonomische Bildung liegt im Interesse zahlreicher gesellschaftlicher Akteure aus Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Ein breiter öffentlicher wie fachdidaktischer Diskurs wird notwendig sein, um die vielfach überkommene Wirtschaftsdidaktik für das 21. Jahrhundert fit zu machen.
Studie „Didaktische Aspekte der Nachhaltigen Entwicklung in aktuellen VWL-Lehrbüchern in der schulischen Bildung“. Hrsg.: Lokale Agenda Düsseldorf der Landeshauptstadt Düsseldorf (2016):
https://www.duesseldorf.de/agenda21/projekte/nachhaltigkeit-in-unternehmen-schulen-und-vereinen/projekt-16/schulbuchstudie.html
Homepage des Autors:
www.vwl-nachhaltig.de