Tabuthema Kapitalismus und Demokratie?
Würde man in einem Spielfilm die engsten Mitarbeiter des US-Präsidenten als einen Club von Reichen, Superreichen und Megareichen darstellen, müsste man sich wohl Voreingenommenheit vorwerfen lassen. Doch die Wirklichkeit wirkt wie aus einem kruden Comic für den kleinen Kapitalismuskritiker kopiert. Entourage und Kabinett mischen auf etwas anrüchige Art Plutokratie und Nepotismus. Machtförmige und monetäre Ressourcen fließen auf unübersichtliche und unappetitliche Art und Weise ineinander. Es entsteht der Eindruck, der Finanzkapitalismus, aber auch der alte Industriekapitalismus (Auto- und Montanindustrie), hätten sich die Exekutive der US-amerikanischen Demokratie nun ganz zu ihren Diensten gemacht. Gewählt wurde dieser Präsident allerdings überwiegend von der ökonomischen Mitte, ein Phänomen, das der sowi-online Blog Arm, Reich und die Mitte – Was passiert mit der Demokratie in Amerika? diskutiert. So einfach liegen die politisch-ökonomischen Dinge eben nie.
Nun wird man aus den großen Einkommen und Vermögen der Politiker und Berater nicht direkt auf ihre Politik schließen dürfen, das wäre allzu mickriger Materialismus. Aber ein Problem steckt schon dahinter: Wie steht es eigentlich mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik, oder, für unsere Verhältnisse genauer: mit dem Thema Kapitalismus und Demokratie? Und darüber hinaus: Welchen Einfluss haben die kapitalistischen Eliten auf die demokratischen Eliten und auf die Politik in der Demokratie? Passen Kapitalismus und Demokratie überhaupt zueinander?
Deutschland kennt keinen Kapitalismus?
Mancher mag einwenden, uns in Deutschland müssten diese Fragen nicht weiter interessieren, hier herrschten richtige Demokratie und soziale Marktwirtschaft, der Kapitalismus sei bereits seit Ludwig Erhard abgeschafft. Demokratie und Marktwirtschaft, so die gängige Meinung Vieler seit Adenauer und Erhard, seien zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Beides ist offensichtlich falsch. Marktwirtschaften vertragen sich in der Wirklichkeit ganz gut mit gelenkten Demokratien, Autokratien, Plutokratien und Ein-Parteien-Regimes. Auch trifft die Diagnose „Es herrscht Marktwirtschaft“ nur für einen Teil der wirtschaftlichen Realität zu. Ein erheblicher Teil der Wirtschaftsleistung wird nicht über Märkte erbracht, sondern in privaten Haushalten, privaten und öffentlichen Unternehmen und Netzwerken. Ein großer Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten wird nicht über Märkte koordiniert, sondern über konzerninterne Warenketten und Zuliefererstrukturen, soziale Beziehungen und Netzwerke sowie durch Hierarchie und Anordnung sowie Machtausübung und Gewalt.
Weiters sind Marktwirtschaft und Kapitalismus keineswegs dasselbe. Das diskutiert etwa der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich kurz in „Kapitalismus? Ja, aber bitte für alle!“. In ihrem Beitrag „Kapitalismus- oder Marktkritik“ beschreibt beispielsweise die Wirtschaftsso-ziologin Andrea Maurer den „marktwirtschaftlichen Kapitalismus“ als zentralen soziologischen Forschungsgegenstand (in dies., Hg., Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2017, 571-591). Auch in historischer Perspektive muss man zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus unterscheiden, wie etwa der französische Historiker Fernand Braudel für die europäische Wirtschaft des 15. bis 18. Jahrhunderts gezeigt hat (Sozialgeschichte des 15.-18. Jahr-hunderts, 3 Bde., München 1985-1986).
Welcher Kapitalismus, welche Demokratie?
Kapitalismus und Kapitalismus sind ebenfalls nicht dasselbe. So unterscheiden etwa der Historiker Jürgen Kocka und der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel den organisierten Kapitalismus, zu dessen sozialdemokratischen Varianten sie die deutsche Form der sozialen Marktwirtschaft zählen, vom heute herrschenden neoliberalen Kapitalismus, der Marktmechanismen, kapitalistische Selbstregulierung und teilweisen Rückbau des Wohlfahrtsstaates besonders betone (Kapitalismus und Demokratie: Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch. In: Merkel, Hg., Demokratie und Krise, Wiesbaden 2015, 307-337).
Kapitalismus, Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat finden wir real in ganz unterschiedlichen Kombinationen und Ausprägungen, empirisch betrachtet schließen alle drei sich offensichtlich nicht aus. Ihre Verhältnisse und deren Folgen sind seit langem Gegenstand sozialwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Forschung und Diskussion.
Ist Kapitalismus demokratieverträglich?
Das trifft auch für das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie zu. Sind Kapitalismus und Demokratie vereinbar? Welche Bedeutung hat der Kapitalismus für die Demokratie? Einen Einblick in Positionen zu dieser Debatte bietet der Tagungsbericht „Ziemlich beste Feinde. Das spannungsreiche Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus“ der Schader-Stiftung. Der Soziologe Wolfgang Streeck diagnostiziert in seinem Vortrag eine „Abkopplung des neoliberalen Kapitalismus von der Demokratie“. Für manchen scheint das Gegenmittel gegen globalen Kapitalismus – ausgerechnet! – ein Schritt zurück zum Nationalstaat zu sein. So setzt der FAZ-Wirtschaftsjournalist Rainer Hank in seinem Beitrag „Demokratie und Kapitalismus – ziemlich beste Rivalen“ auf den Nationalstaat, denn „keine andere Institution ist besser als der Nationalstaat in der Lage, den globalen Kapitalismus zu ‚zähmen‘. Ob Regierungen, Bürgerschaft, Unternehmen, Banken und Kreditnehmer in Griechenland, Italien, Portugal oder Island dem so einfach zustimmen können, darf man wohl bezweifeln.
Auch Jürgen Kocka beteiligt sich mit seinem Vortrag „Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch – Krisen und Chancen“ an dieser Debatte (2015, 1 h 12 min, hier zu hören).
Kocka betont zum einen, dass freiheitliche Verfassungsordnungen seit jeher die begrenzte Eigenständigkeit von Wirtschaft und Politik garantieren um Freiheit zu gewährleisten. Zum anderen müsse der Kapitalismus aber gesellschaftlich und demokratisch eingebettet sei. Kapitalismus und Demokratie seien insofern affin, als in beiden Wettbewerb und Wahl eine wichtige Rolle spielen, und sie könnten sich auch deshalb gegenseitig stützen. Kapitalismus gebe es in sehr unterschiedlichen Varianten, er sei mit sehr unterschiedlichen politischen Systemen vereinbar.
Kapitalismus: Draußen allgegenwärtig, im Lehrplan ein Tabu
In den wirtschaftlichen Wirklichkeiten und den politischen Debatten hat das Thema Kapitalismus und Demokratie seit der so genannten Finanzkrise wieder Hochkonjunktur (z. B. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, und vielfach andernorts. Aber in den Lehrplänen und im lehrplankonformen Unterricht der sozialwissenschaftlichen Domäne unserer Schulen kommt Kapitalismus nicht vor. Das habe ich bereits im sowi-online Blog "Die kapitalistische Wirtschaft der Gesellschaft – und das Schweigen der Schule" kritisiert. Das bedeutsame und schwierige Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie wird kultusministeriell beredt beschwiegen.
Fakt ist: Curricular und medial hält man Schülerinnen und Schüler von der Auseinandersetzung mit einer zentralen Gegenwartsfrage fern (was Lehrkräfte in ihrer Praxis tun, das steht auf einem anderen Blatt). Deshalb fehlen den Lernenden elementare sozialwissenschaftliche Grundlagen, um sich in Wirtschaft und Politik heute und morgen zu orientieren und sich wirksam in die öffentlichen Debatten einzumischen.
Die Bildungspolitik, die nicht oft genug mehr Partizipation der Jugend fordern kann, verwehrt ihr das Wissen, das sie braucht, um bei einer entscheidenden Zukunftsfrage kompetent mitzudiskutieren. Vermutlich scheut sie die politische und öffentliche Auseinandersetzung mit den Lobbygruppen der kapitalistischen Eliten, die sie erwartet, wenn sie die Kontroversen um den gegenwärtigen Kapitalismus zum Pflichtthema in Schulen machen würde.
Wer aber den Komplex Kapitalismus in die thematische Tabuzone der Schulen schiebt, dessen Ruf nach politischer Partizipation bleibt scheinheilig. Lehrerinnen und Lehrer, denen die Zukunft der Lernenden und der Demokratie am Herzen liegt, finden sich seit jeher nicht damit ab. Sie lehren auch das, was auf der Tagesordnung steht, und nicht nur das, was laut Lehrplan geht. Ihre Schülerinnen und Schüler können wirklich was fürs Leben lernen.