Sozialwissenschaften – jetzt erst recht!
Umgehung einer demokratischen Auseinandersetzung über Bildungsziele
Die Einführung des Schulfachs Wirtschaft stand bereits mit Unterzeichnung des Koalitionsvertrags ganz weit oben auf der bildungspolitischen Agenda der aktuellen nordrhein-westfälischen Landesregierung aus CDU und FDP. Mit Beginn des Schuljahres 2020/21 ist das bis dahin angebotene Fach Politik/Wirtschaft in Wirtschaft/Politik umbenannt worden, neue Lehrpläne wurden erlassen. Wer nun denkt, es handele sich hierbei um eine lediglich begriffliche Umbenennung des bisherigen Faches, wird nun mit der Änderung der Lehrerzugangsverordnung (LZV) eines Besseren belehrt. Im Schatten der Corona-Pandemie wird über die Lehrerzugangsverordnung Schritt für Schritt das Schulfach „Wirtschaft“ durchgesetzt – und zwar ohne einen demokratisch-gesellschaftlichen Diskurs hierüber. Weder Fachverbände noch Gewerkschaften, die beteiligten Hochschulen oder die betroffenen Fachleiter*innen etc. wurden konsultiert. Parteipolitische Interessen hebeln offensichtlich die politische Auseinandersetzung über Bildung und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Lern- und Orientierungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen aus. Gerade zu zynisch erscheint, dass dies ausgerechnet die politische Bildung betrifft.
Der neuen LZV zufolge unterrichten alle (zukünftigen) Lehrkräfte, die nicht das Fach Wirtschaft/Politik (das es im Übrigen an den Hochschulen noch nicht gibt, sehr wohl aber massive Bestrebungen, es einzuführen) studiert haben, sondern Sozialwissenschaften, (zunächst) in der Sekundarstufe I fachfremd bzw. vertretungsweise. Um eine unbefristete Unterrichtserlaubnis zu erhalten, sollen einjährige Zertifikatskurse eingeführt werden.
Mit dieser geplanten LVZ sind damit weitreichende Änderungen verbunden - sowohl was die etablierte Didaktik des Faches Sozialwissenschaften als auch die Zukunft aller Lehrerinnen und Studentinnen mit dem Fach Sowi anbelangt. Insbesondere die Soziologie als bisher zentrale Bezugsdisziplin wird nun bewusst aus dem Kanon der allgemeinbildenden Schulen verdrängt. Das Ersetzen eines interdisziplinären Studien- und Unterrichtsfachs „Sozialwissenschaften“ in der Sek. I und II zunächst durch das Fach Wirtschaft/ Politik ist weder ein Fortschritt noch ein Ersatz. Das Fach Sozialwissenschaften ist ein Integrationsfach mit eigener inhaltlicher, methodischer und didaktischer Prägung. Gesellschaftliche Probleme sind komplex. Sie orientieren sich nicht an disziplinären Grenzen. Die Fähigkeit, sich interdisziplinär mit gesellschaftlichen Herausforderungen und Problemen auseinanderzusetzen, sie deuten und Maßnahmen ergreifen zu können, ist die zentrale Leitidee der sozialwissenschaftlichen Bildung. Kinder müssen lernen, in sich komplexen gesellschaftlichen Situationen orientieren und handeln zu können. Wer meint, dieses Bildungsziel durch ein neues Studien- und Unterrichtsfach Wirtschaft/Politik ersetzen zu können, hat nicht verstanden, was genuin sozialwissenschaftliche Bildung ausmacht. Langfristig, das steht zu befürchten, werden die derzeit noch bestehenden politischen Studien- und Bildungsinhalte immer weiter verdrängt, so wie es mit den gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven bereits durch den vorliegenden LZV-Entwurf erfolgt.
Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Faches gibt es nicht! Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wurde und wird, ist dies schon längst geschehen. Kein anderer Bildungsbereich wurde in den letzten 15 Jahren so massiv ausgebaut wie die ökonomische Bildung.
Lehrerbildung durch Interessensverbände!?
Besonders irritierend ist aber, wie sich die Landesregierung die Qualifizierung der nun fachfremden Lehrkräfte vorstellt (siehe Stellungnahme der Landesregierung auf die Kleine Anfrage vom 28.12.2020, beantwortet am 05.01.2021 mit der Nr. 17/12231): Neben einigen Plätzen für Zertifikationskurse verweist die Landesregierung auf Fortbildungsangebote von Universitäten, der Deutschen Bank, Verbänden und Stiftungen.
Mit anderen Worten, schreibt man die derzeitigen Verhältnisse fort, werden Fortbildungen, von wenigen Angeboten abgesehen, vornehmlich von unternehmensnahen Stiftungen und Verbänden durchgeführt, z. B. von Versicherungen, Banken, dem Bundesverband deutscher Arbeitgeberverbände und dessen Netzwerk Schule-Wirtschaft. Die Unternehmerverbände und unternehmensnahen Stiftungen erhalten, im Gegensatz zu den Gewerkschaften, öffentliche Mittel in einem erheblichen Umfang für die Erstellung ihrer ökonomischen Bildungsangebote, z. B. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Entsprechend einseitig werden die Fortbildungen wirtschaftspolitisch und paradigmatisch ausfallen. Die multiperspektivische und multiparadigmatische sozioökonomische Bildung an den Schulen in Nordrhein-Westfalen droht so abgeschafft zu werden. In einer sich wandelnden Welt, die multiperspektivisches Denken erfordert, wird Kindern damit zunehmend verwehrt, Wirtschaft verstehen und denken zu lernen, die über den Horizont eines verengten neoklassischen Paradigmas hinausreicht.
Vor allem aber, entzieht sich das Schulministerium erneut der Verantwortung, eine flächendeckende Lehrerfortbildung bereitzustellen.
CDU: Forderung nach politischer Bildung nur Lippenbekenntnisse?
Anstatt sich um eine bessere politische Bildung an den Schulen zu bemühen – hier ist seit Jahren der höchste Unterrichtsausfall und die höchste fachfremde Unterrichtsversorgung zu beklagen – setzt das von der FDP geführte Schulministerium auf die weitere Schwächung der in der nordrhein-westfälischen Verfassung verankerten Verpflichtung, an Schulen politische Bildung anzubieten. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass der größere Koalitionspartner, die CDU, diese Entscheidung mitträgt. Was ist mit all den Bekenntnissen der CDU zur Bedeutung politischer Bildung für ein demokratisches Gemeinwesen? Aus Rücksichtnahme gegenüber der FDP lässt man zu, dass mit der sozialwissenschaftlichen Bildung ein nordrhein-westfälisches Erfolgsmodell zerstört wird.
Dies geschieht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen, die in Zukunft noch stärker alleine gelassen werden bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Ihnen wird die gesellschaftliche Perspektive auf gesellschaftliche, politische und ökonomische Herausforderungen und Probleme in Zukunft weitgehend verwehrt. Und dies in Zeiten, in denen eine umfassende gesellschaftliche Bildung nötiger denn je ist.
Von einer Abschaffung der Sozialwissenschaften war in den Wahlprogrammen nichts zu lesen, weder bei der FDP noch bei der CDU.
Besonders besorgniserregend ist die Änderung für die Zukunft derjenigen jungen Menschen, die derzeit im Studium für das Lehramt „Sozialwissenschaften“ sind. Haben sie noch eine Chance, in den Schuldienst eintreten zu können? Das unverantwortliche Agieren des Schulministeriums mit der Zukunft angehender Lehrkräfte wird die Attraktivität des Lehrerberufes noch weiter verringern.
Den Brandbrief der DVPB NW zur neuen Lehramtszugangsverordnung der nordrhein-westfälischen Landesregierung finden Sie hier: https://dvpb-nw.de/brandbrief-der-dvpb-nw-zur-neuen-lehramtszugangsverordnung-der-nordrhein-westfaelischen-landesregierung/
(c) 2021 Franziska Wittau; (c) 2021 sowi-online e. V., Bielefeld
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