Schüler und Schülerinnen wollen nicht noch mehr Berufsorientierung
Bettina Zurstrassen
Der Vorteil großer Stiftungen sind ihre guten Kontakte zu den Medien. Während viele Forschungsergebnisse der Wissenschaft kaum auf öffentliche Resonanz stoßen, können sich die Vertreter großer Stiftungen einer hohen medialen Aufmerksamkeit sicher sein. Mehr noch, sie können sich beinahe sicher sein, dass ihre Interpretation der empirischen Daten ohne eine kritische Einordnung übernommen wird. Ende 2014 hat die Vodafone-Stiftung ihre Studie „Schule, und dann? Herausforderungen bei der Berufsorientierung von Schülern in Deutschland“ herausgegeben, die vom Allensbach Institut durchgeführt wurde. Spiegel Online titelte: Jobstart: Berufswahl überfordert fast jeden zweiten Schüler (25.11.2014). Bezuggenommen wurde hier auf das Lieblingsitem der Medien: „Finden Sie die Entscheidung, was Sie beruflich werden wollen, leicht oder schwer? Das Befragungsergebnis war differenzierter als es in den Medienberichten dargestellt wurde, denn 46% der Befragten sagten, dass ihnen die Entscheidung ziemlich schwer bzw. sehr schwer fallen würde. 44% jedoch äußerten, dass ihnen die berufliche Entscheidung ziemlich leicht bzw. sehr leicht fallen würde (Vodafone-Stiftung 2014, S. 24). Irritierend ist der in dem Item formulierte Anspruch, dass eine biografisch so maßgebliche und in der modernen Arbeitswelt anspruchsvolle Entscheidung wie die Berufswahl den Schülern leicht fallen sollte. Berufswahl in einer Arbeitswelt, die durch starke Umbrüche gekennzeichnet ist, ist voraussetzungsreich. Dennoch gelingt es der weit überwiegenden Mehrheit der Schulabgänger, beruflich Fuß zu fassen.
Von einem dramatischen Informationsdefizit kann keine Rede sein. „Fühlen Sie sich ganz grundsätzlich über das, was man nach der Schule machen kann, ausreichend informiert?“ ist ein weiteres Item der Studie. Zwar gaben 35% der Teilnehmer an, sie fühlen sich nicht ausreichend informiert, 56% hingegen äußerten, ausreichend informiert zu sein (Vodafone Stiftung 2014, S. 25). Die Autoren der Studie leiten hieraus dennoch die bildungspolitische Forderung nach mehr Berufsorientierung ab – am besten in einem separaten Unterrichtsfach Wirtschaft. Dabei lassen die Befragungsergebnisse der Vodafone-Studie eher den umgekehrten Schluss zu, denn nur 26% der befragten Schüler äußerten den Wunsch nach mehr Unterstützung bei der Berufswahl (Vodafone-Stiftung 2014, S. 31). Orientierung wünschen sich die Schüler vor allem von der Schule, den Lehrern, obwohl maßgeblich für die Berufswahlentscheidung vor allem das Elternhaus und die Jugendclique sind. Immerhin deuten die Befragungsergebnisse auf ein hohes Vertrauen der Schüler in die Institution Schule und die Lehrkräfte hin oder kulturpessimistisch gedeutet auf einen weiteren Funktionsverlust des Elternhauses. Nur 26% der Schüler fordern also mehr Berufsorientierung. Im Umkehrschluss möchten 74% der Schüler keinen weiteren Ausbau der Berufsorientierung im allgemeinbildenden Schulsystem. Der bildungspolitisch forcierte Ausbau der Berufsorientierung trifft demnach auf einen geringen Bedarf. Die Problematik eines Überdrusses an Berufsorientierung drängt sich auf und wird in empirischen Untersuchungen bereits nachgewiesen.
In den Medien werden die Interessen, die mit den Studien verfolgt werden, nicht reflektiert. Zwei Motive sollen kurz angerissen werden:
- Berufsorientierung entwickelt sich zunehmend zu einem neuen Wirtschaftszweig, der mittels empirisch gesättigter Skandalisierung der Qualität der bisherigen schulischen Berufsorientierung (und die der Bundesanstalt für Arbeit) legitimiert und weiter ausgebaut werden soll. Es werden privatwirtschaftliche Interessen verfolgt.
- Die Studien sind politische Instrumente. Die Interessenverbände und Stiftungen liefern der Politik empirische Daten als Entscheidungsgrundlage. Auf die Konstruktion sozialer Realität mittels Daten haben Berger und Luckmann hingewiesen. Wer Daten bereitstellt, kann erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse nehmen, weil sich die politischen Akteure auf sie stützen und ihre Maßnahmen absichern.
Die besprochene Vodafone-Studie zur Berufsorientierung ist nicht nur eine weitere Maßnahme im bildungspolitischen Kampf um ein eigenständiges Unterrichtsfach „Wirtschaft“, sondern weitergehend ein Instrument im Konflikt über die Definitionshoheit von Bildungszielen, die im allgemeinbildenden Schulwesen verfolgt werden sollen. Die Forderungen nach einer Verzweckung von Bildung, die auf Arbeitsmarktkompatibilität der Schüler zielt, haben derzeit Hochkonjunktur. Diese Motive werden in den Berichten der „Qualitätsmedien“ nicht thematisiert. Auf das Argument der „Lügenpresse“ soll sich hier nicht herabgelassen werden. Vielmehr besteht der Eindruck, dass es nicht ausreichend Fachjournalisten für Bildung in den Redaktionen gibt, die auf der Grundlage ihrer Expertise die Studien politisch einordnen können. Aber auch diese bräuchten Ressourcen, um Hintergrundrecherchen durchzuführen. Der Renditedruck in den Verlagshäusern einerseits und die „Kostenlos-Mentalität“ vieler Nutzer andererseits, die durch neue Medien forciert worden ist, lassen gründliche Recherchen und unabhängige Artikel offenbar kaum noch zu.
Quellen
Vodafone-Stiftung: https://www.vodafone-stiftung.de/alle_publikationen.html.