Populärphilosophieren - die neue gesellschaftliche Bildung?
Bettina Zurstrassen
In Deutschland herrscht ein Philosophiehype. Diesen Eindruck gewinnt, wer die Auslagen gut sortierter Zeitungsgeschäfte an Bahnhöfen und Flughäfen ansieht. Populärphilosophische Magazine mit Titeln wie „Philosophie Magazin“, „Hohe Luft“, Philosophie Heute“ sind in den letzten Jahren wie Pilze in der Zeitschriftenlandschaft hervorgeschossen.
Sie liegen nicht in den hinteren Ecken der Auslage, sondern haben oft ihren Ort in den ertragsträchtigen Kassen- oder Laufzonen der Geschäfte. Das spricht für ihre Popularität. Die Bereitschaft der Verbraucher für ein Magazin 7,- Euro und mehr zu zahlen, ist offensichtlich vorhanden.
Spötter erklären den Philosophie-Boom mit dem „Precht-Effekt“. Das greift natürlich zu kurz.
Nun möchte ich mich an dieser Stelle nicht in einer empirisch ungesättigten und soziologisch-theoretisch unausgereiften Gegenwartsdiagnose verlieren, aber groß ist offenbar in einer komplexer werdenden Gesellschaft das Bedürfnis nach philosophisch-gesellschaftlicher Reflexion und Orientierung. Zur Popularität der Magazine dürfte beitragen, dass eine Vielzahl der Artikel sich mit Themen auseinandersetzt, die alltagsphilosophisch sind. „Warum kriegen wir Kinder?“ oder Beiträge zu Fragen der persönlichen Moral. Ist der Boom der Philosophie-Magazine Ausdruck einer individualisierten, selbstbezogenen Gesellschaft? Philosophieren als individuelle Nabelschau statt politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung und Verantwortung?
Die Philosophiemagazine sind Lifestyle-Berater, aber auch der Versuch, seriöse Philosophie in den Alltag der Menschen zu tragen. In der wissenschaftlichen Disziplin der Philosophie wird der eine oder andere Berufsphilosoph angesichts dieser Entwicklung verschnupft sein. Erstaunlich viele renommierte Philosophen und Philosophinnen aber verfassen Beiträge für die populärphilosophischen Magazine.
Der Weg der Wissenschaft in die Öffentlichkeit wird derzeit nicht nur in der Philosophie diskutiert, sondern auch in der Geschichtswissenschaft und unter dem Label der „Public Sociology“ in der Soziologie. Bei Letzterer ist aber zu befürchten, dass die Debatte abebbt, bevor sie systematisch begonnen hat. Zu gering ist das wissenschaftliche Selbstbewusstsein, zu selbstreferentiell der Diskurs um Public Sociology und zu groß die Angst der deutschen Soziologie in die Tiefen des Populären gezogen zu werden. Soziologie, die Wissenschaft über das Funktionieren von Gesellschaft(en), entzieht sich der Gesellschaft.
Die Distanz der Soziologie zur Öffentlichkeit wird auch in der universitären Lehrerbildung bemerkbar. Dort hat die Soziologie in den letzten Jahren Bastionen kampflos aufgegeben. Während die Soziologie in den Geburtsjahren der „Politischen Bildung“ nach dem 2. Weltkrieg noch eine Leitwissenschaft war, ist sie heute in der Bildungsforschung, vor allem aber in der fachlichen und überfachlichen Lehrerbildung, kaum noch vertreten. Mit weitreichenden Konsequenzen. Eine Wissenschaft, die sich nicht um ihre gesellschaftliche Verantwortung kümmert, verliert an gesellschaftlicher Lobby. In den Curricula für die gesellschaftliche Bildung werden soziologisch Inhaltsfelder immer stärker zurückgedrängt.
Das ist fatal für die sozialwissenschaftliche Bildung. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit soziologischen Inhalten können die Lernenden die Fähigkeit der reflexiven-theoretischen Distanz zu gesellschaftlichen Problemen und eine umfassendere gesellschaftlich-kritische Perspektive erwerben. Indem sich die Soziologie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in der schulischen und außerschulischen Bildung verweigert, verbaut sie zunehmend jungen Menschen die Bildungschance, Gesellschaft mit soziologischen Perspektiven deuten zu lernen.
Dieses Vakuum wird zunehmend von der Philosophie ausgefüllt.
Der Ruf nach der Einführung eines Unterrichtsfachs „Philosophie“ in der Sekundarstufe I ist bereit erklungen. Davon sollte die Soziologie lernen – bevor sie endgültig und unwiderruflich aus dem sozialwissenschaftlichen Fächerkanon an den Schulen verdrängt wird.