Mehr sozio*ökonomische Bildung wagen!
Wir würden gegenwärtig Zeuge, wie ein neuer Mensch programmiert, eine neue Kodierung des Sozialen vorgenommen und ein neues Bild der Gesellschaft geschaffen werde. Das auf die „Totalbewirtschaftung“ des Lebens zielende Kosten-Nutzen-Kalkül stelle alles Tun und Trachten – von der Aufnahme des Studiums bis hin zur Familiengründung – unter den ökonomischen Vorbehalt des „Sich-Rechnen-Müssens“. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen folge nur mehr der Vernunft des rationalen Egoisten: dem Eigennutz. Überhaupt sei das Menschliche Schritt für Schritt dem Ökonomischen gewichen. Auch deshalb sei es nicht verwunderlich, dass – der Ökonomie des selbstsüchtigen Herzens folgend – immer mehr Lebensbereiche den Gesetzen des Marktes unterworfen würden. So oder so ähnlich lässt sich die Kritik an der Ökonomisierung der Lebenswelt lesen.
Bei aller berechtigten Kritik gilt es dennoch festzuhalten, dass wirtschaftliche Tätigkeit eine gesellschaftliche Konstante darstellt, die dem Einzelnen ebenso wie den größeren sozialen Einheiten die (materielle) Existenz sichert, die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe bildet – und sich nicht allein durch Alltagserfahrungen erschließen lässt. Weitgehende Einigkeit besteht dabei dahingehend, dass nicht wirtschaftswissenschaftliche Theorien und Methoden den Kern der ökonomischen Bildung kennzeichnen, sondern ihre Überführung in bildungsrelevante Kategorien, weshalb es einer normativen Ausrichtung bedarf – in Richtung „Persönlichkeitsentwicklung, Aneignung wissenschaftlicher und kultureller Traditionen, Bewältigung praktischer Lebensanforderungen und aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ (Weber 2008, 53).
Wie kann ökonomische Bildung nun vermittelt werden, ohne dass ökonomische Erklärungsmuster zum Maßstab allen Denkens und Handels erhoben werden? Der Ansatz der sozio*ökonomischen Bildung bietet eine mögliche Antwort auf diese Frage, bietet sie doch die Gewähr dafür, dass ein perspektivischer Monismus vermieden und heterodoxe sowie interdisziplinäre Inhalts- und Themenfelder in die Lehrpläne Eingang finden. Die Annahme, dass eine Wissenschaft, die ihre paradigmatischen und damit auch normativen Grundlagen nicht mehr reflektiert, keine Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes mehr darstellt, lässt sich auf die Sozialwissenschaften und ihre Fachdidaktik(en) übertragen.
Daher soll sozio*ökonomische Bildung auch solche Positionen vermitteln, die sich nicht ausschließlich der „Fürsprache“ des Marktes verschreiben, sondern die Grammatik einer Gesellschaft deuten und deren politische Konstitution analysieren, explizieren und kommentieren.
Sozio*ökonomischen Bildung soll verdeutlichen, dass ökonomische Erklärungsansätze auf viele Fragen keine Antworten geben: Welchen Wert haben sozialstaatliche Grundsätze wie die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder die Verteilungs- und Chancengerechtigkeit? Wie soll das Vertrauen der Bevölkerung in Verwaltung und Gerichtsbarkeit monetär bewertet werden? Nach welchen Kriterien sollen institutionelle Arrangements wie Demokratie, Mitbestimmung, Minderheitenschutz etc. beurteilt werden? Antworten auf derartige Fragen entziehen sich effizienztheoretischen Bewertungen. Aus diesem Grund sollen Schüler/innen lernen, ökonomisches, soziologisches und politisches Wissen sowie ethische und/oder normative Einschätzungen zu¬sammenzu¬führen, so dass sie zu einem sachgerechten und tragfähigen Urteil gelangen können – gleich, ob der Mehrwertsteuersatz angehoben, die Pendlerpauschale ge¬kürzt oder ein Bankenrettungsschirm gespannt wird.
Die Integration der benachbarten sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen leistet einen wertvollen Beitrag zur paradigmatischen und thematischen Öffnung der ökonomischen Bildung, um der viel zitierten Mündigkeit als höchstem Ziel sozialwissenschaftlicher Bildung Rechnung zu tragen. Lernprozesse können schließlich nur dann als erfolgreich gelten, wenn (eigene) Meinungen und Urteile überdacht, präzisiert, reflektiert, verifiziert oder gegebenenfalls auch falsifiziert werden müssen. Dem sozio* ökonomischen Ansatz liegt daher die Annahme zu Grunde, dass angesichts der engen Verflechtung und der zahlreichen Überschneidungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft keine Notwendigkeit besteht, einen „Verdrängungswettbewerb“ zwischen den sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen anzustoßen (Hedtke 2008, 1), sondern vielmehr eine auf symbiotische Dynamiken zielende sozio*ökonomische Bildung zu stärken.
Literatur
- Hedtke, R. (2008): Sozialwissenschaftliche ökonomische Bildung. (http://www.uni-bielefeld.de/soz/ag/hedtke/pdf/hedtke_sozialwissoekon-bildung.pdf, aufgerufen am 10.2.2013)
- Weber, B. (2008): Aufgaben der Wirtschaftsdidaktik. In: Hedtke, R. & Weber, B. (Hg.): Wörterbuch ökonomische Bildung. Schwalbach/Ts., 53-56