Finanzbildung auf dem Prüfstand: Fortschreibung der wirtschaftsnahen Lobbyinteressen oder integrative sozialwissenschaftliche Bildung?
Zu Recht werden in der ökonomischen Fachdidaktik die seitens der Finanzindustrie herausgegebenen Lehr-Lern-Materialien wie beispielsweise das von der Allianz entwickelte Material „my finance coach“ oder die von der Schufa initiierte Plattform „Schufa macht Schule“ kritisiert. Moniert werden vor allem die fehlende Transparenz der dahinter stehenden Lobbyinteressen, die Einseitigkeit der präsentierten Finanzproduktarten (z.B. die einseitige Aufwertung privater Altersvorsorgeprodukte bei gleichzeitiger Abwertung der gesetzlichen Rentenversicherung) sowie die Ausblendung des Problems der Falschberatung infolge von Vertrauensproblemen, Informationsasymmetrien und dem Opportunismus der Bankberatungsindustrie (Loerwald & Retzmann 2011). Kurz: In Kritik geraten diese, der Finanzdienstleistungsbranche nahestehenden Lehr-Lern-Materialien wegen ihrer Verletzung zentraler fachdidaktischer Prinzipien wie dem der Kontroversität, der Problemorientierung und der Handlungsorientierung. Nur: Die Mehrheit in der wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsdidaktik mutet sich mit dem fachdidaktischen Prinzip der „Kontroversität“ bestenfalls eine Erweiterung des „homo oeconomicus“-Handlungsmodells um soziale „Komponenten“ wie Vertrauen, Kultur, Altruismus, Anerkennung oder auch Gemeinwohl zu. Diese zwängt sie jedoch weiterhin in einen engen Effizienzhorizont. Wenn sie zweitens von „Problemorientierung“ spricht, adressiert sie damit im Kern nicht individuelle Lebensprobleme der Lernenden, sondern kollektive Schlüsselprobleme (des Marktes) wie beispielsweise soziale Dilemmata oder die Bedingungen effizienter Märkte. Und drittens verengt sie das Verständnis von „Handlungs- bzw. Gestaltungsorientierung“ auf Optimierungsentscheidungen. So soll die „erfolgreiche Internalisierung ökonomischer Kompetenzen [die Lernenden] zur Bewältigung ökonomisch geprägter Lebenssituationen“ (Birke & Seeber 2011: 174) befähigen und der „wichtigste Beurteilungsmaßstab für alternative Handlungen, für ökonomische Interaktionen und für Wirtschaftssysteme ist die Effizienz“ (ebd.).
Nun ist aus der Perspektive einer auch wirtschaftssoziologisch informierten ökonomischen Bildung die Reduzierung menschlicher Handlungsmotivationen auf das Prinzip der Effizienz zwar prinzipiell wenig haltbar und aus Sicht empirisch forschender Wissenschaftstraditionen schlichtweg überholt. Allerdings könnte man die Persistenz des „homo oeconomicus“ in Teilen der ökonomischen Bildung auch getrost als ein Relikt jener Wissenschaftstraditionen verstehen, die sich (wider besseren Wissens) dem Kritischen Rationalismus verpflichtet fühlen, wenn nicht mit Blick auf den Bildungsgegenstand „Finanzbildung“ damit gleichzeitig eine Individualisierung von gesellschaftlicher Verantwortung einherginge. So sollen nämlich Verbraucher mit Hilfe ihres durch die Finanzbildung gewonnenen ökonomischen Wissens in die Lage versetzt werden, Anlageentscheidungen informiert und rational zu treffen. Damit wird erstens ignoriert, dass sich die Bankberater-Kunden-Beziehungen nicht primär durch Informations-, sondern vor allem durch Machtasymmetrien auszeichnen. So ist es der Verbraucher – und eben nicht die Investmentbank –, der Anlagekonditionen und Anlagerisiken anzunehmen hat. Eine einseitige Fokussierung auf Wissens- und Informationsasymmetrien verschleiert diese strukturelle Machtasymmetrie nur. Zweitens belegen nicht nur empirische Ergebnisse der Wirtschaftssoziologie, sondern ebenfalls die der Verhaltensökonomie, dass Verbraucher – auch wider besseren Wissens – zu nicht-rationalen Entscheidungen neigen, sei es aus Emotionalität, Traditionsbewusstsein, ethischen Überzeugungen oder schlicht aus Trägheit. Gerade weil aber die Finanzbildung rationale Entscheidungen als prinzipiell möglich suggeriert und deren Optimierung normativ als Bildungsziel setzt, mündet ein „Scheitern“ von Anlageentscheidungen in individuelle Schuldzuschreibungen der Verbraucher selbst. Dies führt zu einer Depolitisierung der Verbraucher. Drittens wird nahegelegt, dass man strukturell bedingte soziale Ungleichheiten durch Maßnahmen individueller Finanzbildung (z.B. seitens der OECD) beheben könnte. Das Argument lautet, dass Finanzbildung einkommensschwachen Bürger zum Vermögensaufbau (sprich: Sparen der ohnehin minimalen „Überschüsse“) verhilft. Bewusst oder unbewusst wird hier offensichtlich der zentrale Befund der jüngsten Ungleichheitsforschung ignoriert, dass sich soziale Ungleichheiten nicht über Einkommens-, sondern über Vermögensungleichheiten fortschreiben und verstärken. Hier kann Finanzbildung naturgemäß aber wenig Positives beitragen. Anstatt also vielmehr das gesunde Misstrauen der Lernenden gegenüber Finanzmarktinstitutionen (z.B. Ratingagenturen, Fondsmanagern, Bankberatern) zu fördern und sie in ihrem Wissen um die strukturell bedingten Machtasymmetrien zwischen der Finanzindustrie und den Privatanlegern aber auch der Finanzindustrie gegenüber (der selbst verschuldenden Machtlosigkeit) der Politik zu bestärken, schreiben die seitens der Wirtschaftswissenschaften dominierten Konzepte zur Finanzbildung die ideologisch-politischen Weltanschauungen der Finanzlobby bloß fort. Dem muss aus einer integrativen Perspektive sozialwissenschaftlicher Bildung entgegengehalten werden, dass die Ordnung auf Finanzmärkten – bzw. derzeit wohl eher: die Krise der Finanzmärkte – kein „natürlicher“ Status quo ist und die Lernenden folglich dazu befähigt werden müssten, die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen, sondern vielmehr, dass Gesellschaft ein politisches Projekt ist, dem man nicht nur als Wirtschaftssubjekt, sondern vor allem als politischer Bürger begegnet.
Literatur Birke, Franziska & Seeber, Günther (2011): Kompetenzerwartungen an den Konsumenten in der Marktwirtschaft, in: Retzmann, Thomas (Hrsg.): Finanzielle Bildung in der Schule. Schwalbach/Ts., S. 171-184. Loerwald, Dirk & Retzmann, Thomas (2011): Falschberatung durch Banken als Gegenstand des Ökonomieunterrichts? Eine wirtschaftsdidaktische Analyse in Anbetracht der Finanzkrise, in: Retzmann, Thomas (Hrsg.): Finanzielle Bildung in der Schule. Schwalbach/Ts., S. 77-98.